Freitag, 21. November 2014

Kittie



Warum sie überhaupt die Außenseiterin dabei haben wollten, war ein mittelschweres Rätsel, aber die anderen Mädchen aus der 10. Klasse drohten Kittie, sie dann in der 11. Klasse noch mehr zu mobben, wenn sie auf die Klassenfahrt in ein Sommercamp nicht mitkommen würde. Kittie, das zierliche Mädchen, das jüngste und kleinste aus ihrer Jahrgangsstufe, 15, kaum Brüste, immer unauffällig und in Schwarz gekleidet, aber weder Goth noch Emo, die Hände immer in den Hosentaschen, der Blick stets nach unten gerichtet, war der perfekte psychische Blitzableiter für die Mädchen aus ihrer Klasse. Sie bekam gleich ein Einzelzimmer am Ende des Flurs, ein kleines, sauberes aber gruseliges Zimmer, in dem seit Jahren keiner mehr übernachtet hatte. Kittie packte ihre Sachen aus und ging spazieren. Sie ließ den Wind in ihr offenes langes dunkelbraunes Haar, versteckte dieses aber wieder unter einer Jungenmütze, als sie zum Camp zurückkehrte. Beim gemeinsamen Abendessen trank sie nur Tee, denn alles andere wurde ununterbrochen an ihr vorbei am Tisch rumgereicht. Vor dem Schlafen knabberte Kittie an mitgebrachtem Obst und Gemüse, und fand zu ihrem Erstaunen einen großen Kühlschrank in der Abstellkammer ihres Zimmers. Am nächsten Morgen kaufte sie unbeobachtet mehrmals ein, setzte sich dann zufrieden in einen alten Sessel und las ein Buch. Am nächsten Tag trank sie wieder nur Tee, und zwar den ganzen Tag, und so waren all die lange ausgedachten lustigen Antworten der anderen Mädchen auf die Bitte, ihr etwas zu reichen, umsonst, denn Kittie schwieg nur und trank ihren Tee. Am nächsten Morgen kontaktierte eines der Mädchen den Arzt, weil Kittie angeblich umgekippt sei; der Arzt untersuchte sie und stellte fest, dass mit Kittie alles in Ordnung war. Es gibt Streiche, die nur einmal gespielt werden können, und es gibt Streiche, die durch Wiederholung nur effektiver werden. Es war jeden Tag ein anderes Mädchen, das Kittie scheinbar aus Versehen mit Orangensaft, Apfelsaft oder Milch begossen hatte, wobei der angebliche Zufall fast immer die Brust bevorzugte, damit umgehend festgestellt werden konnte, dass es unter der nassen Kleidung so gut wie keine gab.

Ariane war das Mädchen mit den größten Brüsten und folglich das beliebteste bei den Jungen im Sommercamp. Sie war es auch, die Kittie öfter als andere mobbte und verspottete. Als sie einmal unter der Dusche von einer Freundin dabei beobachtet wurde, wie sie sich lustvoll die Brüste einseifte und Kitties Namen stöhnte, konnte sie glaubhaft versichern, dass das nur ein Scherz war. Eine weitere Woche verging und Arianes Verehrer verteilten sich gleichmäßiger auf die anderen Mädchen, und nur Kittie hatte keinen, der hinter ihr her war. Kittie wäre es auch nicht aufgefallen, wenn sich einer in sie verknallt hätte: sie mied die anderen, wo sie nur konnte, und saß meist allein in ihrem Zimmer und las. Am Ende der dritten Woche bekam sie erstmals Besuch: Marie, das in jeder Hinsicht mittelmäßigste Mädchen, wollte sich erkundigen, was Kittie so macht. Kittie zeigte wortlos auf die dicken Bände im Schrank, wobei sie den ersten Band vor sich auf dem Tisch liegen hatte und sich etwas in einem Heft notierte. "Was lernst du?" fragte Marie. "Geologie" sagte Kittie, und widmete sich unvermittelt ihren Dinosauriern, Eurypteriden und Gorgonopsiden. Marie blieb nichts anderes, als zu gehen, während Kittie staunend die Abbildungen der Ediacara-Fauna anschaute und versuchte, die lustigen Fossilchen im Heft nachzukritzeln. In den folgenden Tagen tat sie dasselbe bei kühlem aber nicht regnerischem Wetter auch draußen, und merkte nicht, wie eins ihrer Hefte für einen Tag verschwand. Am nächsten Tag sah sie in diesem Heft ein Bild ihrer eigenen kleinen Hand beim Zeichnen eines Hallucigenia. Sie saß draußen, als sie das fremde Bild in ihrem Heft bemerkte, und als sie kurz lächelte, hörte sie das Klicken eines Fotoapparats. Kittie sah in alle Richtungen, aber da war keiner. Als die Hälfte der Sommerferien vorbei war, war Ariane nunmehr frustriert, und hatte keinen einzigen Verehrer mehr, - selbst Marie hatte drei Stück. Natürlich wurde Kittie weiterhin gemobbt und ausgegrenzt, wobei die Mädchen immer so tun mussten, als wollte Kittie dazugehören, um sie überhaupt ausgrenzen zu können. Dass Marie einmal das ungeschriebene Gesetz gebrochen und mit Kittie gesprochen, sie sogar besucht hatte, blieb ein Geheimnis, denn keines der Mädchen hatte Marie beobachtet, und Kittie war es egal.

Die zierliche Kleine mit den großen Augen wurde in den ersten Wochen öfter für einen 10-jährigen Jungen als für ein 15-jähriges Mädchen gehalten, nur ihre eleganten Hände mit äußerst schmalen Handrücken und langen Fingern verrieten sie manchmal. Ihr Haar versteckte Kittie so oft in einer Jungenmütze, dass es inzwischen zur Gewohnheit geworden war, doch zwischendurch gab es auch ästhetisch hochwertige Minuten des Flirts ihrer langen Haare mit dem Wind. Der erste Brief kam zu Anfang des letzten Drittels der Sommerferien, und es wurden immer mehr anonyme Liebesbriefe in Kitties Postfach gesteckt. Ist der Zeitraum groß genug, platzt der seifenblasenartige Schein, und der ästhetisch hochwertige subtile Schein scheint durch, ob durch das Verhalten des Objekts der Bewunderung befördert oder nicht. Wenn Ariane noch von den Jungs angesprochen wurde, dann wurde sie über Kittie ausgefragt, was den anderen Mädchen auch geschah. Gegenüber Jungen behaupteten nun alle Klassenkameradinnen von Kittie, ihre beste Freundin zu sein, aber an Kittie selbst traute sich kein Mädchen heran. Einmal dachte Marie, sie hätte nichts zu verlieren, und wollte sich bei einem Ausflug mit dem Bus zu Kittie setzen, doch sie kehrte auf halbem Wege um, denn würde Kittie sie zurückweisen, wäre Marie eine Lachnummer für die anderen Mädchen, und würde Kittie ihre Freundin werden, so würden die anderen Marie aus Neid eine Lesbe nennen. Es blieben noch knapp drei Wochen bis zum Ende der Sommerferien, und die Mädchen taten alles, um die Jungen davon abzubringen, Kittie endlich anzusprechen, doch bei einem abendlichen Waldspaziergang fand ein Junge endlich die Gelegenheit, mit Kittie, die etwas abseits von anderen wanderte, endlich allein zu sein. Vor Aufregung verschlug es ihm jedoch die Sprache, so dass er ihr nur wortlos ein Heft zusteckte und weglief. In ihrem Zimmer betrachtete Kittie die Bilder, die offenbar aus der Ferne von ihr gezeichnet wurden, doch eins der Bilder zeigte sie lächelnd aus unmittelbarer Nähe. Als jemand an die Tür klopfte, ließ Kittie das Heft aufgeschlagen auf dem Tisch, was Ariane und Marie bemerkten; verlegen, schnappten sie sich einfach das Heft und rannten weg. Am Frühstückstisch am nächsten Tag wurde darüber gelacht, dass Kittie angeblich ein ganzes Heft mit Selbstbildnissen versehen hätte. "So einen Fall von narzisstischer Selbstbewunderung habe ich noch nie erlebt", sprach Ariane und nahm das Heft wieder an sich, nachdem es alle gesehen hatten.

Das Regenwetter hielt die Jungs eine weitere Woche davon ab, das mit Abstand schönste Mädchen wohl im ganzen Sommercamp anzusprechen. Zur gleichen Zeit haben die Mädchen auf einmal aufgehört, Kittie zu mobben, und immer wieder versuchte eine von ihnen, Kittie vorsichtig anzusprechen, oder ihr gar einen Gefallen zu tun. Kittie war stets höflich und sogar freundlich, ließ aber niemanden an sich heran. Eines Abends zog Esther, das beim früheren Mobben zurückhaltendeste Mädchen, Kittie einfach in ihr Zimmer, das sie mit der Kittie scheinbar leidenschaftlich hassenden Charlotte teilte. Esther hatte das große Foto über ihrem Bett noch nicht aufgehängt, aber Charlotte leider schon, und so sah Kittie ihr Portrait, welches mit der Zeichnung aus der Nähe im ihr zugesteckten und nun bei Ariane nicht ungenutzt liegendem Heft übereinstimmte. Als Charlotte ins Zimmer kam, wurde sie knallrot, und Esther sagte, um die Situation zu retten: "Ach, jedes Mädchen hat jetzt eins", und hängte ihr eigenes Foto von Kittie an ihre Pinnwand. Kittie verabschiedete sich höflich, und lief verlegen in ihr Zimmer. Am nächsten Tag schien die Sonne, und Kittie versteckte sich mit ihrer schneeweißen Haut drinnen. Als ihr Postfach so voll war, dass keine Briefe mehr passten, und Kittie aus Verlegenheit die Brefe nicht mehr abholte, brachen die Mädchen den Kasten einfach auf und versammelten sich bei Marie, um die Briefe zu lesen. Jedes Mädchen fand in einem oder mehreren Briefen von all den in Kittie verknallten Jungen, was sie selbst für Kittie empfand, - es war ein abendfüllendes Fest des Rotwerdens und Fremdschämens. Am nächsten Tag war Kittie verschwunden, es war einfach zu viel für das zarte Mädchen. Zwei Wochen früher zu Hause als die anderen, las Kittie weiter in ihren Geologiebüchern und bekam hin und wieder Besuch von einem sehr schüchternen Jungen aus der 12. Klasse, der sie in der Schule unauffällig vor ernsteren Übergriffen beschützte. "Mit deren Verachtung konnte ich gut leben", sagte Kittie, "aber jetzt, wo sie ihre wahren Gefühle nicht mehr verstecken, tun sie mir nur noch leid". Im Sommercamp brach indes unbeschreibliche Tristesse aus, die Mädchen zählten nur noch die Tage bis zum Schulbeginn. Marie setzte sich nach langem Weinen an ihren Schreibtisch und schrieb ein Gedicht für Kittie, welches mit den Worten begann: "Ich bin so einsam, traurig und unaussprechlich sehnsüchtig..."


 9.2014