Montag, 2. Juli 2018

Die einzige Eisdiele im Ferienort





Steinstedt stand nicht gern schlange, er war ein vielbeschäftigter Mann. An jenem sonnigen Sonntag stellte er sich jedoch geduldig in die lange Schlange vor eine Eisdiele, die ebengerade den Tag mit den meisten Besuchern seit ihrem Bestehen hatte. Steinstedt starrte auf die neue Kaffeemaschine, wechselte dann freundliche Blicke mit einem eishungrigen Bengel und einem kleinen schüchternen Mädchen. Die Mutter des Mädchens warf Steinstedt sofort einen hasserfüllten Blick zu, als sei er pädophil, den er mit einem Blick, als sei sie eine Straßenhure, erwiderte. Die Schlange stockte währenddessen, es war ja auch nur eine Verkäuferin da: die Inhaberin. Ein Mann, einen Kopf größer als Steinstedt, stellte sich demonstrativ schützend vor das kleine Mädchen, so als ob Steinstedt das Kind bedroht hätte. Steinstedt streckte sich gähnend, damit der Mann seien austrainierten Bizeps sah, worauf sich der Hahnrei beruhigte, und auf den Boden blickte, wo sein Blick auch hingehörte.

Steinstedt war des Schlangestehens müde und holte seine große Brieftasche aus der dicken Hose. Er zählte die Scheine und ging an der Schlange vorbei direkt zur Inhaberin, die auch die einzige Verkäuferin war. Er legte die Scheine auf den Tresen und sagte: „Ich kaufe Ihre Eisdiele, wenn Sie sofort verkaufen“. Die müde Frau zögerte nicht, und hatte drei Minuten später ihren wohlverdienten Feierabend, während Steinstedt die Glastüren der Eisdiele eine nach der anderen schloss, und das Eis keines Blickes würdigte. Es regnete enttäuschte bis verzweifelte Kindertränen. Steinstedt machte sich in aller Ruhe einen Kaffee, während weinende Kinder gegen die Glastüren hämmerten, und von ihren Eltern und alleinerziehenden Müttern nicht von der Eisdiele wegzubewegen waren. Um des größeren Sadismus willen holte Steinstedt einen herrenlosen Bengel hinein, ebenjenen Bengel, mit dem er einige Minuten zuvor freundliche Blicke ausgetauscht hatte, wie freundliche Menschen das eben tun. Während der Bengel vor den Augen anderer Kinder und deren Eltern und alleinerziehender Mütter die Eissorten kreuz und quer durchprobierte, trank Steinstedt seinen wohlverdienten Kaffee.


6.2018