Dienstag, 26. Februar 2019

Der Brand




Jörg erzählte mir einmal von der folgenden Begebenheit im Büro des Unternehmens, für das er den Schaden nach einem Amoklauf schätzen sollte, und ja, die Begebenheit war der Amoklauf selbst. John war der CEO, ein höflicher, kultivierter, stets adrett gekleideter Mann mittleren Alters, oder, Euphemismen beiseite, Ende 40. Der Mitarbeiter Fritz war Mitte 30 und immer unzufriedener aufgrund mangelnden Respekts seitens der Unternehmensführung. Er trieb in seiner Freizeit Kampfsport, und das immer heftiger, und reagierte sich irgendwann nicht mehr bloß an Sparringspartnern und Sandsäcken ab.

Erst half er dem Skinhead Pedro, den Drogendealer Pablo schwer zu verprügeln, dann drangsalierte er Ausländer in seiner Nachbarschaft, und schließlich veranstaltete er eines Morgens eine Schlägerei in der Firma. Er war viel kräftiger und kampferfahrener als alle Kollegen, sie waren Fallobst für ihn. Nur der Boxer Vladimir war stark genug, doch Fritz versetzte ihm einen so starken Schlag, dass dieser sich erstmal lange davon erholen musste. Dem CEO reichte es, er rief Fritz zur Ordnung, doch der beleidigte Zukurzgekommene lachte nur und jagte weiter die Kollegen durch die Räume der Firma und schlug sie zusammen. John stellte Fritz im Flur, schlug ihm zweimal ins Gesicht, doch dieser war trotz blutender Nase nicht beeindruckrt, und scheuerte John erstmal eine. Dann machte er sich wieder an die Mitarbeiter ran, die wie hilflose Hühner durch die Korridore rannten und der Gewalt einfach nur entkommen wollten.

In der VIP-Lounge saß der Hauptaktionär der Firma, der dicke Sam, er warf John einen Baseballschläger zu, mit dem der Endvierziger auf den Amokläufer zurannte, doch den der Wütende mehrmals gekonnt abwehrte. Nun wurde John angesichts seiner Hilflosigkeit gegenüber dem Rowdy richtig zornig, nahm Anlauf, schlug Fritz mit voller Kraft, wo er ihn treffen konnte, warf ihn mit schweren Schlägen schließlich zu Boden, woran auch der wieder zu sich gekommene Boxer beteiligt war: seine Faustschläge waren weit wirkungsvoller als der Baseballschläger in der Hand des nicht mehr so jungen und kräftigen Kerls. Aber John ließ Fritz nun nicht wieder auf die Beine kommen, sondern prügelte weiter auf ihn ein, schlug ihm auf den Kopf, sodass mehrere Gehirnerschütterungen folgten, infolge derer Fritz seine Schulzeit in Hamburg aus dem Gedächtnis verlor, dann seine kurze Liebschaft in Pforzheim, und schließlich sogar seine Kindheit im elterlichen Haus in Dresden.

Fritz kam in die Klinik und musste für einige Zeit dort bleiben, beendete Jörg seinen Bericht, und ich sagte nur, ich hätte Verständnis für Johns harte Schläge zum Schluss der Gewaltorgie, denn angesichts seiner anfänglichen Hilflosigkeit und des bereits durch den Angreifer angerichteten Schadens war es durchaus nachvollziehbar, warum John mit voller Härte und durchaus barbarisch weiterschlug.

2.2019

Samstag, 16. Februar 2019

Die Komplizen





Elif traute ihren Ohren nicht, aber sie hörten richtig. Der junge Mann an der Bar lobte Trump und sogar Duterte, nannte ein Dutzend westlicher Regierungschefs Hurensöhne, jedes fünfte Wort aus seinem Mund war “Neger”, und seine Beispiele, um Kants kategorischen Imperativ zu veranschaulichen, waren extrem rassistisch. Als Elif an ihm und seinem Gesprächspartner vorbeiging, bemerkte er, dass ihm nichts an dieser jungen Frau gefiel außer ihrer Größe, sie sei nämlich so herrlich klein, wecke Beschützerinstinkte, und Mädchen müsste man beschützen, insbesondere vor ihren Familien. Elif verließ die Kneipe und lief nach Hause. Der blonde hochgewachsene verständnisvolle Traumtyp war nicht gekommen, also schrieb sie ihm die fünfte Email, in der sie ihn aufforderte, ein gemeinsames Foto von seiner Facebook-Seite zu entfernen.

Kaum geschlafen, ging es schon zum Mathetest in der elften Klasse eines Großstadtgymnasiums. Elif traute sich nach drei Tassen Kaffee endlich, den Vertrauenslehrer aufzusuchen, der ihr freundlich einen Kaffee anbot, und die Tatsache, dass sie schon drei hatte, als Zurückweisung empfand. Er sagte ihr vorweg: “Ich bewundere deine Kultur, Elif. Du darfst dir von den anderen nichts sagen lassen. Du bist die beste Schülerin in deiner Klasse. Wer auch immer Druck auf dich ausübt, dass du seit einiger Zeit ohne Kopftuch zur Schule kommst, du kannst mir ihre Namen aufschreiben, sie werden was erleben, das sage ich dir!” Elif wusste nicht, wie sie anfangen sollte, woraufhin er weiterredete: “Der Ben mag noch so cool tun und damit prahlen, dass er angeblich mit dir zusammen ist, nimm diesen Trottel einfach nicht ernst. Es wäre schade um Leonie, falls sie ´s glaubt. Du musst dich nicht gleich als lesbisch outen, aber besuch doch mal den LGBT-Schulverein, um ein Zeichen zu setzen. Vielleicht möchtest du lieber mit einer Frau darüber reden...”

Die Schulpsychologin gab Elif einen kurzfristigen Termin, und es sah fast schon wieder nach Hoffnung aus, als Elif den blonden hochgewachsenen Ben am nächsten Morgen auf dem Schulhof zur Rede stellen konnte. “Egal, was die anderen sagen, ich behalte das Foto mit dir auf meinem Account. Ich bin nicht rassistisch oder islamophob, das sollen alle auch ruhig sehen. Oder ist es dir peinlich, dass du auf dem Foto ein Kopftuch trägst?” Da klingelte es, und sie verstand ja schon, dass Ben lieber virtuesignallte, als ihre Sorgen ernst zu nehmen. Drei Stunden später saß Elif bei der Schulpsychologin im Zimmer und wusste nicht, wo sie anfangen sollte. “Wir sind ein offenes und tolerantes Gymnasium”, war die 60-jährige Frau stolz. Während sie sich und die Schule weiter beweihräucherte, merkte Elif, dass ihr der Atem stockte, und sie jetzt ein kein Wort mehr herausbekommen würde.

Am nächsten Morgen, das war ein Freitagmorgen, da weinte sie still in einer Ecke des Schulhofs. Um sich besser zu verstecken, hatte sie wieder das Kopftuch an. Der Lehrer für evangelische Religion lobte und ermutigte sie im Vorbeigehen, dass sie das Kopftuch trug. “Lass dich von denen nicht unterkriegen”, war seine freundliche Empfehlung. Nur hatte es auf jener Schule seit Jahren keinen rassistischen oder islamfeindlichen Vorfall gegeben. Nach der Schule ging das Mädchen nicht nach Hause, sondern in diese Bar; sie war so verzweifelt, dass sie hoffte, diesen Rassisten dort wiederzusehen, doch er war nicht da, und auf dem Heimweg wurde Elif in einen schicken Mercedes gezerrt und zu einem Waldstück außerhalb der Stadt gefahren. Da wartete schon ihr älterer Bruder Abdul neben einem frischen tief gegrabenen Erdloch. “Hure” rief er in seiner und ihrer Muttersprache und tötete seine Schwester mit einem Kopfschuss.


2.2019

Sonntag, 10. Februar 2019

Die Geburtstagsnacht




In einer Stunde werde ich 30, denkt Hiite, aber ich fühle mich wie 13, und nein, nicht so fröhlich und vital, sondern so am Anfang mit all den Lieblichialitäten. Das Studium ist längst geschafft, die Arbeit hat die Schule abgelöst, aber nur als Ort der Plackerei, nicht der Begegnung. Es ist 23:03 auf Hiites Uhr, er geht durch die schwach beleuchteten Gassen der Stadt und denkt über sein Leben nach. Über sein Unliebesleben, genauer gegast. Über sein Unliebessein, scharfzüngiger gegiftet. Die Laternen versprühen eine solche Trauer, dass sich die Bäume abzuwenden scheinen, während Hiite in den Park hineinspaziert. Die Menschen, denkt Hiite, kommen wegen Eitelkeiten, Kleinigkeiten miteinander nicht klar, und er selbst, mit seiner sozialen Kommunikationsstörung, kommt eigentlich nur mit Arschlöchern nicht klar, wird als Freund geschätzt, als aufrichtiger Mensch geachtet. Ein ordentlicher Typ, der Hiite. Manchmal beneidet er sich selbst um die Vernünftigkeit und Besonnenheit, die ja stets ein großer Segen war, denn er hat keine bereuenswerten Fehler gemacht, seine Seele ist leicht wie eine Feder. Aber er hat eben auch sonst nichts gemacht, nur gelernt und gearbeitet, nungut, hier und da zugehört, hüben und drüben geholfen. Der Park endet am Fluss, Hiite schaut wieder auf die Uhr: noch 40 Minuten, dann wird er 30. Nie, Quasch nie, immer, jeden Tag hat er sich so allein gefühlt. Wie einem Verdurstenden das Wasser fehlt ihm das lebenswichtige Geliebtizin, aber das gibt es nunmal nicht in der Apotheke zu kaufen.

Hiite spaziert am Fluss vorbei am Rande des Parks. Ganz selbstverständlich schlendern Menschen paarweise an ihm vorüber: gewöhnliche, schwule, lesbische. Hiite ist nichts besonderes, ein gewöhnlicher junger Mann. Nur überdurchschnittlich intelligent und ungewöhnlich still. Aber wozu auch Lärm machen, er ist doch keine hysterische Lusche. Hiite ist solide, ein korrekter Typ. Er hält Durststrecken aus, er kann mal länger leiden, ohne zu jammern. Er erzählt auch niemandem, wovon er niemandem erzählt. Ein Windstoß fühlt sich auf der Haut an wie ein Hauch nächtlicher Geliebtität, Hiite lächelt seit Langem wieder. Melancholisch bin ich nicht, denkt er, schon gar nicht depressiv, er würde seinen Gemütszustand am ehesten als iggeliebtifiziell beschreiben. Noch fünf Minuten. Über die Brücke, und dann nach Hause, schlafen. Morgen wird er nicht feiern. Einsamkeit erträgt man am besten allein. Auf der Brücke stellt er fest, dass er eigentlich überhaupt nicht selbstmordgefährdet ist, als er über das Geländer steigt. Aber die Sehnsucht sagt der Hoffnung, lass die Phantasie noch an, dreh sie voll auf, es will sich ja so sehr, dass etwas passiert, weiß aber selbst nicht, was. Hiite schließt die Augen und denkt an mädchenhändchenische Berührungen, an süßniedlichzartverspieltes Verlegenheitsgelächter, an die Miezen damals in der Elften und in der Zwölften, an den aus Schüchternheit verpassten Schulabschlussball, an sein Tunnelblickstudium, an  all die Momente, als jemand ruft: “Weg da, stören Sie mich nicht beim Springen!” Vier Stunden später hat Hiite den Herrn Mitte 40 überzeugt, keinen Suizid zu begehen, und begleitet den neuen Lebensmut fassenden Mann nach Hause. Erschöpft macht er die Tür seiner Wohnung auf, fällt auf seine Schlafcouch und erinnert sich im letzten wachen Moment, dass er 30 geworden ist.

2.2019