Mittwoch, 19. Juni 2019

Die Sinnlichkeit



1


Noch eine Kurve auf dem steilen Bergpfad, und da war dieser Platz, ein versteckter natürlicher Balkon mit Panoramaaussicht. Liine nickte pick, und sah Ari mit drei Miezen seines Alters zurückkommen. “Habe ich euch zuviel versprochen?” lachte der wie Anfang 20 aussehende 36-jährige Mann. Die Miezen hatten zunächst Höhenangst, waren dann aber immer mehr von der Aussicht begeistert. “Das wäre ein sauber Selfie”, witzte Liine, “...da würde von einem nichts übrig bleiben”. “Selfie?” fragte eine der Miezen. “Nicht der gemeiniglich geläufige Selfie, ein Selfie der düstereren Art”, klärte Ari auf. Die Miezen wollten gar nicht erst runtergucken, wo man da aufschlagen könnte. 600 Meter mindestens, aber wohl eher 800. “Und das war der einzige Weg hierher?” Ari nickte. “Vor dem Sonnenuntergang müsst ihr hier verschwinden. In der Dunkelheit würdet ihr abstürzen, ein unfreiwilliger Selfie, sozusagen”.

Die Miezen, eine langhaariger als die andere, nickten mit pick. Ari setzte sich so, dass der 15-jährige Junge zwischen ihm und den Miezen saß, und schwieg die meiste Zeit, weit in die Ferne blickend. Die Gesprächsthemen verdüsterten sich nach anfänglichem Höflichkeitssmalltalk, und Ari stimmte mit ein: “Das Problem ist, dass die Leute nicht mehr verrecken. Es ist eine Sache, seinen Eltern einen Selfie mit 18 nicht zumuten zu wollen. Aber wenn du 40 bist, und deine Eltern immer noch leben, wie lange willst du noch warten?” “Ja, diese verdammte lange Lebenserwartung”, bemängelte auch der 15-jährige Liine. “Aber mir würde schon eine weitere Woche wie eine Ewigkeit vorkommen”. Die 18-jährige Hienne, die Alterspräsidentin des Miezentrios, dachte laut, Liine sei unglücklich verliebt. Die anderen Miezen guckten verlegen, aber es hätte keine von ihnen sein können, denn sie kannten Liine erst seit einer Stunde und Ari seit zwei. Aus ihrem langweiligen Feriencamp kamen sie mit dem schweigsamen Sigma mit, den sie beim Lesen seiner Kant-Lektüre gestört hatten, um ihn nach einem guten Rückzugsort zu fragen. Nun waren sie an diesem Ort und wollten nicht wieder gehen.

Ari setzte einen Tee auf. Hienne stellte fest, dass er am Bergrand der Granitplattform eine Höhlenwohnung hatte, und fragte ihn, wie viele Miezen er hierher schon verschleppt und wo er ihre Leichen entsorgt hätte. “Wäre ich bloß so eine Lesbi-Raubkatze Anfang 20, ich könnte dich stundenlang hotwaxtorturen oder wasauchimmern, aber für einen Mann wäre das eh nur ein Zehntel der Lust”. “Du meinst, Sex für Männer lohnt sich nicht?” “Hedonisch auf keinen Fall. Der Preis ist zu hoch für zu wenig Lust. Aber dafür kennen wir die romantische Liebe, wenn wir jung sind”. Mit dem Tee zurück, sahen Ari und Hienne, wie die jüngeren Miezen dem Schönling Liine näher kamen, sein langgelocktes blondes Haar war halt schön. Julie, das 16-jährige brü- und auch sonst nette Mädchen, holte schon fast zum Kuss aus, als die ultraschüchterne hellblonde Eleine, auch 16, und langhaarigste von allen, ihr etwas ins Ohr flüsterte. “Wie süüüüß!” konnte sich Julie nicht halten und umarmte den Jungen. “Und wie alt ist er?” fragte sie nach anfänglichem Kichern. “Er ist 11, sieht aber aus wie 9, oder wie ein Mädchen, je nachdem, was weiß ich”, war Liine verlegen. Hienne ging zum schon wieder am Abgrund sitzenden Ari, der sie nur mahnte: “Ihr müsst jetzt gehen”. Stattdessen verlangte die verführerische Mieze noch einen Tee. Es dunkelte. “Die werden uns nicht suchen”, wollte sie den sich sorgenden Erwachsenen beruhigen, “Wir haben gut gelogen, wo wir sind”. Es wurde dunkel. Die Jugendlichen kuschelten sich aneinander, Ari legte sich etwas abseits auf den Rücken und beobachtete die immer sichtbarer werdenden Sterne.

Als unheimliche Geräusche der Nacht Stimmung verliehen, wurde Ari zurück auf die Picknickdecke gezogen, und gefragt, was er am liebsten gerade tun würde. “Die Kleine beschützen, die Maus küssen und mich von der Katze verführen lassen”, brachte er die Mädchen zum Lachen, wurde dann aber wieder ernst: “Aber höchstens mit 18. Ich bin schon doppelt so alt, wie ich gern wäre, und was hat es gebracht? Wissen, Weisheit, Freiheit, all das Unsinnliche, das einen immer weiter vom Leben entfernt”. “Ich wäre gern so weise und frei wie du”, seufzte Liine. Er weinte fast “Stattdessen kann ich nur an diesen Jungen denken, der schon in drei Jahren ein zur Unkenntlichkeit entstellter Bengel sein wird, kein zartes engelhaft mädchelndes Kind mehr”. “Eigentlich will man sich in jedem Alter umbrigen”, stellte Hienne fest, und fügte vergenauigend hinzu: “...jedenfalls, wenn man ein Junge ist. Wir Mädchen sind so unromantisch, wir langweilen uns so mit uns selbst, und warten nur darauf, dass sich wegen uns jemand umbringt, nur damit wir wieder Gesprächsstoff haben”.

Schon um Mitternacht war Ari dem Schlaf nahe, während für die Jugendlichen die Nacht erst begann. “Ich wünschte, die Zeit würde stehenbleiben”, würdigte Julie die Schönheit der Nacht. Keiner sagte etwas, also schmiegte sie sich an Ari und fragte: “Du weißt aber schon, wie langweilig die Jungs in unserem Alter sind?” “Meinst du etwa, Männer wären anders? Nur desillusioniert und verbittert, das ist alles”. “Und du?” ließ die Maus nicht locker. “Wenn ich halb so alt wäre, könnten wir weiter flirten”, stand Ari auf und ging wieder an den Rand des Abgrunds. Hienne tat so, als würde sie ihn hinunterstoßen wollen, doch ihm war es zu egal, so dass die schönste Abiturjahrgangsmieze ihrer Schule und nicht nur ihrer selbst Höhenangst bekam und weiter vom Abgrund zurückrückte. “Tut mir leid, dass wir euch nicht unterhalten können”, seufzte Liine, doch Hienne strich ihm übers Haar und sagte: “Ich bin froh, dass ihr nicht versucht, uns zu beeindrucken. Wir sind Freundinnen geworden, weil Schönheit einsam macht, ich denke, du weißt genau, warum”. Liine wusste. Alle Schwulen aus seiner Schule waren wütend auf ihn, dass er sich nicht outete und mit keinem von ihnen etwas anfing. Auch er war der Schönste in seinem Umfeld, wenn auch süßerweise auf mädchenische Art.

Die Nacht wurde kühler, die Miezen wollten kuscheln. “Hast du ein Problem mit dir?” fragte Hienne, als Ari weiterhin über dem Abgrund stehenblieb. Er schwieg. “Magst du dich nicht?” Er wusste nicht, was er sagen sollte. “Du fühst dich gar nicht alt an, sondern rein und kindlich. Du bist ein Traumkuschelwolf, wenn ich mal so sagen darf”. Er lächelte, aber wusste, dass er nicht dadurch wieder 18 sein könnte, dass er sich so anfühlte, auch nicht dadurch, dass er einen frischen gut trainierten und wohlduftenden Body hatte. Nach einer längeren Pause fragte Hienne endlich: “Oder bist du schwul?... Ich meine, wie hast du Liine kennengelernt?” “Er suchte nach einem Ort, um sich umzubringen, aber ich war schon hier”, seufzte Ari. “Es war ein Fehler, euch hierherzubringen. In 3 Jahren werdet ihr nicht mehr die reinen Mädchen von jetzt sein, in 10 Jahren, und was sind schon 10 Jahre, wird auch eure Schönheit verschwinden. Und ich bin dazu verdammt, der Vergänglichkeit zuzuschauen, und jedesmal noch weiser und noch weiser zu werden, und immer mehr Freiheit zu erlangen, die dann zu immer größerem Nichts führt”. Hienne schluchzte und ergriff seine Hand: “Nur der Tod kann dich erlösen, aber du... du kannst uns erlösen. Was meinst du, wie sinnlos das Leben eines Mädchens ist, wenn es nichts Höheres gibt? Du bist ein stolzer Adler, wir sind Kätzchen, Mäuschen, Mädchen! Du bist frei und weise und genügst dir selbst, wir sind unfrei, abhängig, schwach, unwissend, zart, zerbrechlich, niedlich, süß, achwasweißich...” Nun, wie geht es jetzt weiter, dachte sich Ari, und das denke ich mir gerade auch.



2


Wozu den Umweg über die Sinnlichkeit ins Nichts gehen, das Nichts ist doch schon da. Wartet. Ist offen. Ein gähnender Abgrund, der dich anlacht, weil die Lösung so einfach ist. Einfach springen. Aber nein, die Sinne wollen was erleben, und zwar die sexiesten Sexe, und das Ego will Bestätigung, und zwar im Form von anerkennendstem Respekt-ey. Erst allen alles beweisen, und dann springen. Und außerdem bin ich 18, dachte Ari, ich habe noch ein Leben vor mir. Was, wenn da mehr ist als nichts? Nach einem Sommer der Fahrradtouren, um sich selbst zu entfliehen, fand er endlich diesen abgelegenen und hochgelegenen Ort, eine Art natürlichen Balkon über einem Abgrund. Wenn sich umbringen, dann hier, es geht fast einen Kilometer runter. Aber die Maus, was wird sie denken? Dieses wunderschöne und ultraschüchterne 15-jährige Mädchen, weiß sie, dass ich in sie verknallt bin? Und wenn ja, weiß sie, wie sehr? Jeder Tag des Sommers war eine Qual, nur der Gedanke ans Springen ließ Ari ruhig schlafen. Aber ist es nicht am coolsten, das Leben so früh wie möglich wegzuwerfen? Oder haben wir eine Aufgabe hier, ohne zu wissen, wer sie uns gestellt hat? Wie können wir wissen, ob dem so ist? Wie können wir wissen, was die Aufgabe ist? Ist die Aufgabe vielleicht die Aufgabe, und zwar des Lebens durch einen Freitod?

Seit 18 Jahren, seit er 18 war, ging Ari an diesen Ort, baute sich sogar eine Höhlenwohnung, las hier, studierte im Grunde hier, und nicht auf der Uni, und wusste in dieser Sommernacht um 1:31 nicht weiter. Er schloss die Augen und stürzte in die Tiefe, es dauerte nicht lange, bis er aufschlug. Und dann war nichts. Aufgabe erfüllt. Gedanklich zum hundertsten Mal. Er öffnete die Augen, und es war genauso dunkel. Drei Minuten, versprach er der ob der Sinnlosigkeit eines Mädchenlebens fast schon weinenden Hienne, dann würde er sich wieder dazusetzen. Wenn die Mieze wüsste, dass es unendlich schärfer empfundene Sinnlosigkeiten gibt. Ist es sinnlos, das Nichts im dunklen Abgrund anzustarren? Für einen Hund. Für Ari wäre es sinnloser, jeder dieser Menschen zu sein, doch zum Glück war er keiner dieser Menschen, sondern er selbst, und empfand die sinnvollste, die höchste Sinnlosigkeit, eine Art Sinnlosigkeitsluxus. Anstatt sich mit tierisch-menschlichen Problemen abzugeben, starrte er ins Nichts, noch eine Minute lang, dann setzte er sich wieder zu den Mädchen und dem Schönling, der gerade nicht vom Küssen und Sinnlicherem sprach, sondern feststellte, dass er die Maus von einem Jungen, in die er verknallt war, am liebsten strahlend vor Glück sehen wollte, mit dem Mädchen, in welches der Liebling des Schönlings verknallt war. Die Welt ist nicht klein, aber es gibt sehr wenige schöne Mädchen, und als Liine vom Traummädchen des kleinen Jungen erzählte, erkannte Hienne eine bekannte Mieze.

Die Ultraluxusmieze Couchelle, die war es, in die der 11-jährige Junge trotz eines Altersunterschieds von 7 Jahren verknallt war. Zarter und zierlicher als sie es war, war für ihr Alter nicht möglich, aber dennoch handelte es sich um eine 18-Jährige. Die Mädchen kicherten erst, dann lachten sie. Liine versicherte noch, dass der Kleine nicht bloß von einer Mieze wie aus einem Film träumte, sondern ernsthaft in sie verknallt war, sie beschützen wollte, mit ihr zusammen sein, wie mit einer Gleichaltrigen. “Was wolltet ihr denn als Kinder?” machte sich Ari auf einem Kissen bequem und war dem Schlaf nahe. “Ich denke, wir wussten alle in dem Alter nicht, wie lesbisch wir sind”, stellte Julie fest. “Aber ihr habt euch immer so verhalten...” “Als ob wir einen Hund wollten?” unterbrach Hienne den enttäuscht klingenden Liine. “Das ist die einzige Macht, die Mädchen haben. Die Wirkung auf Simps und Manginas. Manipulieren können. Durch Liebreiz in den Selfie treiben. Das ist grausam, aber machtlos zu sein, macht Angst”. “Wenn die Wölfe euch nicht beschützen...” meinte Liine den fast schon schlafenden Ari. Julie seufzte: “Alle guten Männer sind einsame Wölfe oder Mönche oder tot”. “Es tut mir aufrichtig leid”, sagte der einsamste der Wölfe mit edler Stimme, “aber ich habe mich nie als Objekt betrachtet. Ich bin weder gut noch ein Mann noch sonst irgendwas, ich sehe mich, seit ich denken kann, als ein in die Sinnlichkeit geworfenes Bewusstsein, das das Rätsel der Welt, letztendlich vielleicht des Nichts, lösen muss. Ich gehe im Sinnlichen nicht auf, es zieht spurlos, na gut, nicht ganz spurlos, an mir vorbei. Ich leide an dessen Vergänglichkeit, aber ich kann es nicht davor bewahren. Ich wäre euch kuschelgern ein besserer Demiurg, als der, der diese Welt regiert. Ich würde euch die sinnvollsten, liebevollsten, sinnlichsten Lesbiversen erschaffen, aber ich bin leider kein schaffender, sondern nur ein betrachtender Geist. Verflucht, ich kann sogar lieben, aber der Geliebten dann keine Welten schenken”.

Erst streichelte der Wind Aris Gesicht mit dem Haar des langhaarigsten Mädchens, dann spürte der Edelwolf ihren lieblichen Atem, als sie, ängstlich an ihn gekuschelt, einschlief. Hienne betrachtete noch minutenlang das unbeschreiblich schöne Gesicht des soeben eingeschlafenen Mädchens, bevor auch sie einschlief, während die Füße des Jünglings und der Maus über dem Abgrund baumelten. “Ich finde alle Männer hässlich”, sagte Julie. “Nur einige Jungen und einige, die noch wie Jungen aussehen, finde ich erträglich. Aber Mädchen sind schöner. Nur halt langweilig”. Liine war nach Weinen, aber er ertappte sich beim unedlen Grübeln darüber, ob er damit einen unmännlichen Eindruck machen würde. Sein Basileus machte übrigens Anstalten, den Miezen zu beweisen, dass er nicht schwul war. Der Gedanke, Couchelle zu vernaschen, machte ihn geil, er wollte dem Kleinen zeigen: ich bin ein Mann, du ein Kind. Julie wusste selbst, dass sie diese destruktive, tierisch machende Wirkung auf Jungen hatte, und begann leise zu weinen, als Liine unfreiwillig in erotischen Phantasien versank.

Der Sonnenaufgang weckte Ari, der die schlafende Eleine mit einer Zärtlichkeit zudeckte, als wäre sie seine vierjährige Tochter, was Hienne im Halbschlaf registrierte, und weshalb sie das Mädchen etwas an sich zog, als wäre sie was sie halt auch war, ein kindlichst niedliches 16-jähriges Mädchen.  Liine träumte davon, wie der kleine Junge, nun erwachsen, ihn eine widerliche Schwuchtel nannte, und wachte in Tränen auf. Neben ihm schlief brünetterweise Julie, schlief wie ein einsames verlassenes Kätzchen, wehrlos und lecker. Ari prüfte seine Waffenkammer, bewunderte ein paar geile Granaten, checkte die Maschinengewehre und das Geld. Als er mit dem Tee zur Picknickdecke schritt, waren alle schon wach. “Du musst ein Haus bauen”, sagte Julie. “Und einen Staat gründen”, lieblichte Hienne bei. Eleine nickte schüchtern, und Liine fragte zynisch nach: “Was soll er denn werden, ein thermonuklearer Despot?” “Warum nicht?” begeisterte sich Hienne, “er könnte doch eine Insel besetzen, und dort ein Lesbiversum gründen. Wir würden jeden Tag ungestört von all den Losern, all den Alten, Kranken und Bedürftigen, Kätzchen streicheln und interessante Gespräche führen”. “Du verachtest die Menschen”, stellte Ari anerkennend fest. Hienne erleichterte ihr Herz: “Alles Vampire, emotionale Kannibalen, hässliche Monster, dumme, lüsterne, stinkende...” Alle lachten, alle lachten mit. Wenn du nicht allein bist, dann bist du für die, die du liebst, verantwortlich, und die sind halt zart, sensibel, zerbrechlich, verwöhnungsbedürftig, und du willst natürlich die Welt für sie schön machen, so richtig aufräumen, purgen, wenn nötig, alles Leben vernichten, und neues, schönes, nicht ekliges, Leben erschaffen. Nur Gott kann es sich leisten, zu lieben, dachte Ari, als er sich mit den Mädchen zurück auf den Weg ins Feriencamp machte. Selbst der edelste Mensch kann nur aus der Ferne lieben, machtlos, leidend, die Vergänglichkeit alles Geliebten und das Nichts als Endresultat vorwegnehmend. “Was wirst du tun?” fragte Liine, nachdem Ari zurückkehrte. “Ich werde ein Mann sein” sagte der edle Adler entschlossen, “und du geh und sei ein Junge, solange du noch kannst”.


6.2019

Sonntag, 16. Juni 2019

Diese verfluchte Hitze




Hinten im Schlafzimmer spielten zwei Degeneraten Galaxian, der Balkon war voll mit rauchenden Halbstarken, in der Küche wurde gesoffen und Flaschendrehen gespielt. Derjenige, der sich ekelte, nannte sich seit diesem Morgen Riki, denn als er auf dem Weg zur Schule aufs Geländer stieg, um sich von der Brücke zu schmeißen, da kam ein Mädchen auf ihn zu, und fragte, wer er sei, und was er zu tun gedenke. “Ich bin ein Nichts”, sagte er, aber das aufgeweckte Kind wusste eine bessere Antwort: “Du bist General Riki. Nur du weißt, wie man sie besiegt”. Und so stieg Riki aufs Fahrrad und fuhr weiter zur Schule, und an jenem Abend ging er zum ersten Mal zu einem Klassentreffen. Im Flur wurde er in ein Gespräch darüber verwickelt, was man denn im Leben wirklich will. Riki sagte es geradeheraus, und alle sahen ihn so an, als hätte er sie beleidigt, obwohl das, was er sagte, harmlos und kindlich war. Wie dem auch hatte gewesen geseint, er fuhr nach Hause, und schlief in der Nacht zum Freitag ganz gut.

Auf dem Schulweg sah Riki, wie die Polizei zwei Subpassionarier abführte, wahrscheinlich nach einem Drogenbeschaffungsdiebstahl der Sorte Peinlich. 18, bald 18, knallte Riki die ganze Mathestunde hindurch durch den Kopf, 18, und die Jugend vorbei, ohne eine gehabt zu haben. Ein Urlaub vom Leben, das wäre jetzt geil. Dass die Zeit stehen bleibt, und dann halt drei Wochen entspannen. Aber das Leben ging weiter, auf die dritte Stunde folgte die vierte. In Deutsch musste Riki eine Buchrezension präsentieren, die er mit den Worten abschloss: “Es ist freilich kein Wunder, dass das Machwerk unseres wenn auch gealterten so doch immer noch Zeitgenossen die Klasse von Spenglers Untergangsgemälde nicht erreicht, jedoch ist unbestritten, dass die Selbstabschaffung eines Kulturvolkes zutreffenderweise empirisch festgestellt wurde, wenngleich auf tiefgründige psychopolitische Analyse weitgehend verzichtet wurde und stattdessen banale und angreifbare Statistiken zu Demografie und Genetik...” Der Lehrer wollte den Satz nicht zu Ende hören. Was er nicht wusste, war, dass Riki nur so tat, als würde er vom Hausaufgabenheft ablesen. In Wirklichkeit rezensierte er den roten Bestseller life. Ach, endlich. Zwei Stunden Schwimmen.

Nächstes Jahr Abitur, Scheiße. Schulzeit vorbei, wie Haftstrafe abgesessen. Und nun diese verfluchte Hitzewelle, dieses abartige Scheusal eines scheußlichst beschissenen Wetters, diese idiotesk-affenpenisartige Unzivilisiertheit, diese zum Wetterrassismus einladende Stinkscheiße von Hochsommertemperatur, diese schwüle arschartige abnormale missgeborene kakerlakerale Krankheit, genannt 32 Grad. Ein Gewitter hoffentlich. Und dann vom Blitz getroffen werden, das wärs. Auf dem Weg zum Fahrrad kam der Deutschlehrer auf den müden schwitzenden Häftling zu und dankte ihm für sein Engagenment gegen Rassismus, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit, welches für Riki doch eine Selbstverständlichkeit war. Ja, in der 11. Klasse hatte er jedeste Menge Gutes getan, nur leider nichts Gutes erlebt. Und nein, schlechter bis mittelmäßiger Sex mit der da oder der da hätte nicht gezählt. Scheiße, was solls. Noch eine Woche Schule, dann in den Sommerferien auswanderungstauglich Englisch lernen. Von Deutschland hatte Riki genug.

Als es blitzte, stieg er auf sein Fahrrad und fuhr los, einfach dem Donner hinterher. Der Wind blätterte im zweiten Band des Untergangs des Abendlandes, der auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums lag. Ein Baum wurde getroffen und verfehlte den Radfahrer beim Fallen nur knapp. Es fing an zu regnen, Riki stellte das Fahrrad ab und ging in den Konsumtempel. Er wusste nicht wohin, also schritt er immer weiter nach oben, in die Schlafmöbel-Abteilung, wo er einen Nicki machte, bis der Laden schloss. Und wenn er mal Nicki machte, dann machte er meistens einen kräftigen Nicki. Er ging zum überdimensionalen Fenster und sah auf den leeren Parkplatz. Cool, dachte Riki, und versuchte, irgendwo eine Tasse schwarzen Tee aufzutreiben. Der Sücherheitsdienst war nicht anwesend, und auch sonst schien sich niemand im Gebäude aufzuhalten. Cool, dachte Riki, und fand in unmittelbarer Bälde einen Wasserkocher und eine Packung English Breakfast.

Riki duschte und suchte nach einer Schlafmöglichkeit. Auf einem Ehebett für früher 5999, jetzt und nur noch bis Dienstag für 3499, richtete er sich ein, und schlief in der Nacht zum Samstag ganz gut. Er träumte davon, wie zwei Degeneraten in seinem Schlafzimmer Galaxian spielten, lachte aber auf, als er sich erinnerte, dass er doch gar keine Nintendo-Konsole hatte, und der Traum somit luzide wurde. Cool, dachte Riki, und entführte in seinem luziden Traum eine Polizeikarre, mit der er Cruisin USA auf den Straßen seiner norddeutschen Mini-Großstadt spielte. Er wachte auf, und sah sich um nach einem passenden Frühstück. Gar nicht so schlecht, dachte er, eigentlich so, als wäre gerade Zombie-Pokalypse, und er hätte sich an einem geilen Ort verschanzt. Draußen war nichts. Keine Autos, auch keine Subpassionarier, die außerhalb der Geschäftszeiten den riesigen Parkplatz mit Skateboards zweckentfremdeten. Aber etwas schreckte ihn auf. Höre ich etwa Galaxian, dachte er und schaute nach. In der Spieleabteilung saß eine wunderschöne Mieze in einem riesigen Sessel und spielte Super Mario 64 auf Nintendo 64. “Setz dich”, sagte diese wahrscheinlich-so-um-die-18-jährige Maus von einer Mieze, “ich habe gerade angefangen”. Und so begann ein vielstündiger Walkthrough, während Riki entspannt danebenlag und nebenbei beobachtete, wie weder Degeneraten noch Subpassionarier, sondern das ultimative Endprodukt langsam den Parkplatz füllte.



6.2019