Montag, 11. November 2019
Der Gamma-Incel
Frustriert bin ich, Alter. Als Gamma-Depri poste ich jeden Tag Texte im Internet auf Nichtverlag, melancholische, depressive Texte halt. Hatte immer zehn Likes mindestens, aber seit ein paar Wochen immer weniger. Ich war seit Jahren der Lieblingsautor von mindestens 50 Usern, heute, als ich das letzte Mal nachgeguckt habe, waren es 15 Frauen und vier Rentner. Dafür freue ich mich über die Nachricht, dass der Frauenanteil in STEM-Fächern in diesem Semester auf fast 80% gestiegen ist, das ist doch toll! Mein Nachbar, der misogyne Kleinunternehmer in der Bestattungsbranche, schaut die Nachrichten doch auch. Die Suizidrate bei Frauen beträgt neuerdings nicht mehr ein Fünftel, sondern ein Hundertstel von der der Männer. Der Oberincel des Internets hat sich öffentlich bei allen Frauen dieser Welt entschuldigt und eingestanden, dass Incels Loser und Frauenhasser sind. Wenn ich ins Café gegenüber gehe, wo der Bestattungs-Heini immer seinen Americano trinkt, sehe ich seit Tagen nur noch Weiber. Worüber freut er sich also so?
Ich bin Student im 19. Semester Sozialwissenschaften, aber allgemeinbildungshalber gehe ich auch mal nach Mathe. Gestern keinen einzigen Typen im Vorlesungsraum gesehen! Der Feminismus hat endlich gewonnen, geil, oder? Aber seltsam ist, dass dieser rechte Typ, der sich immer so frauenfeindlich geäußert hat, nur noch schweigt, aber nicht im Frust, sondern erleichtert, fast entrückt. Hat dieser Incel etwa eine Freundin gefunden? Übrigens sind die Incel-Foren, wo ich für mein Frauenhass-Im-Internet-Projekt recherchiere, seit Tagen leer. Nein, nicht gesperrt oder so, die gehen da einfach nicht mehr rein. Vielleicht haben sie endlich eingesehen, dass wir gewonnen haben.
Die Müllabfuhr streikt nicht, aber der Müll wird nicht mehr abgeholt. Ich arbeite so Studentenjobs, und wundere mich über diese boomenden Stellenanzeigen-Seiten. Dieser Autist mit seinem Weininger wurde von drei IT-Personalchefs gedrängt, die sagten, kein Problem, dass Sie nicht programmieren können, wir bringen es Ihnen bei, die boten ihm scheißviel Geld an. Er sagte, er würde überlegen. Arrogantes Arschloch. Fragt doch mich, ihr Scheißfrauenhasser! Ich habe mich danach in der Bar besoffen, musste aber ewig warten, es gab einen Barkeeper statt wie immer mindestens drei. Eh ne Loserkneipe, wo nur schüchterne Typen arbeiten. Am nächsten Tag dann etwas verkatert bin ich durchs Unigebäude spaziert und habe festgestellt, dass die Uni jetzt Vorlesungsräume an Pick-Up-Artists vermietet. Neulich gelesen, dass wir fast 80% Frauen haben, Abbruchquote bei männlichen Studenten so hoch wie nie. Egal, ich hab mich da hingesetzt und aus Langeweile gelangweilt zugehört.
Ein dürrer Typ Ende 30 sagte zum Publikum: „Das Leben endet nunmal mit dem Tod, da kommt nix mehr. Nüx, alles aus, fertig. Das ist wissenschaftlich bewiesen. Epikur sagte, wenn wir sind, ist der Tod nicht, und wenn der Tod ist, sind wir nicht. Kein Schmerz! Nüx. Auch wenn ihr wütend seid und euch rächen wollt und um eure Rechte oder Bedürfnisse oder was auch immer kämpfen wollt, die Welt hat endliche Ressourcen! Es kann nicht jeder eine 10 haben. Es kann auch nicht jeder eine 9 haben. Und außerdem ist keine Frau so schön, dass es nicht nach ein paar Monaten wieder so beschissen wird wie vorher. Ach, verdammt, ich sag euch, wenn man mir morgen eine Milliarde schenkt, dann werde ich trotzdem dabei bleiben, dass ich mir am meinem 40. Geburtstag in den Kopf schieße. Glaubt ihr, Reiche wären weniger unglücklich oder weniger krank? Nur eines ist auf dieser Welt real: das Leid. Die Tiere können es nicht beenden. Die Frauen können es nicht beenden. Die Feiglinge sehen die richtige Lösung ein, sind aber zu feige, ihr Leid zu beenden. Wovor haben die denn Angst? Nach dem Tod ist einfach gar nichts! Noch weniger Leid als im traumlosen Schlaf! Habt Mitleid mit ihnen, sie sind nicht reflektiert genug, sie sind instinktgesteuert, sie haben nur Gefühle, keine Gedanken. Aber wir hören endlich auf mit der Hass-Scheiße, Freunde! Hass quält nur einen selbst. Kein Hass mehr! Kein Neid! Keine Incel-Postings! Macht euch morgen einen schönen Tag und verlasst übermorgen diese sinnlose Welt!“ Wie der zu 99% männliche und zu 99% volle Vorlesungssaal gejubelt hat!
Scheiße, ich meine Fuck, ich bin eigentlich kein Incel. Oder bin ich ein Incel? Verfickt nochmal, ja, natürlich bin ich ein Incel! Ich hatte zwar was in der Schule mit der kurzhaarigen Revoluzzerin, neulich was mit der Dicken da, aber im Ernst, wann hat sich mal eine schöne Frau für mich interessiert? Selbst dieser arrogante Autist wird von den Miezen angeguckt, er merkt es entweder nicht, oder ist noch arroganter als ich dachte. Aber ich mit meiner eigentlich guten Kindheit, aus einer guten Familie, nie Außenseiter gewesen, nie was schlimmes erlebt, ich wundere mich, ja, ich war doch immer da und so, bin auf Parties gegangen, ich meine, nicht mal eine 7, ja nicht mal eine 6 wollte was von mir. Fuck, der Suizid-Selbsthilfegruppentyp hat Recht! Wozu leben und sich weiter verarschen lassen!? Also sitze ich jetzt auf dem Zehnerturm im geschlossenen Freibad, bin über den Zaun geklettert, und sehe, wie Typen so ungefähr von 25 bis 40 auf der Wiese tot umfallen. Ein friedlicher Incel-Massensuizid. Und ich sitze hier einsam und allein, will eigentlich auch nicht mehr leben, und weiß nicht, was ich machen soll. Und nun höre ich die Stimme des Mannes, den ich aus meinem ganzen linksgrünfeministischen Herzen hasse. „Die Furcht vor dem Tod ist ein strenger Wächter“, sagt er zu mir. „Es ist ok, wenn du zu feige bist, dich umzubringen. Ich habe übrigens diesen IT-Langweilern abgesagt und arbeite stattdessen in der Suizid-Prävention für Menschen, die keinen Mut zu einem echen Suzid haben“. „Verstehe ich nicht“, verstand ich nicht. „Du wärest bestenfalls zu einem Hilfeschrei-Suizidversuch fähig, aber würdest eh nicht sterben. Darum wollen wir dafür sorgen, dass du keinen Suzidversuch unternimmst. Es kann zu bleibenden Schäden führen...“ Ich staunte nicht schlecht, wieviel Empathie so einer wie er für so einen wie mich haben kann. Eins musste ich ihm versprechen: nie wieder in den Vorlesungssaal zu diesem Typen zu gehen, den ich anfangs für einen Pick-Up-Artist gehalten hatte.
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