“Gerechtigkeit!” lachte Steinstedt, “Sagt doch lieber gleich Milde, Gnade, Gleichmacherei, das ist doch, was ihr mit Gerechtigkeit meint!” Die Studenten am Linken-Stand waren nicht begeistert, Steinstedt ging auf die andere Straßenseite zur AfD, während er dachte: “Gerechtigkeit ist in dieser Gesellschaft marginalisiert, ja kriminalisiert. Gerechtigkeit existiert nicht mehr real, es sind nur noch Gerechtigkeitsphantasien erlaubt: Batman, Punisher...” “Haben diese Schwuchteln für straffreien Sex mit Kindern agitiert?” fragte der AfD-Werber Steinstedt. “Nein, nur für soziale Gerechtigkeit”. “Was für Kommunistenschweine, nicht?” “Werdet erstmal eure Nazischweine los, dann können wir über die Kommunistenschweine reden”. Steinstedt trank am AfD-Stand noch einen Kaffee, während die von ihm beleidigte Leberwurst ihn demonstrativ ignorierte. Da kam endlich Professor Afdewählius im Rollstuhl angerauscht, mit dem sein alter Student eigentlich reden wollte. “Über die ersten Buchstaben in meinem Nachnamen bin inzwischen gar nicht mehr glücklich”, klagte der emeritierte Akademiker.
Auf dem Heimweg ging Steinstedt an einer Gesamtschule vorbei, wo im Hof ein anscheinend geistig behinderter Junge von einer geschlechtlich bunt gemischten Gruppe aus älteren Jugendlichen schon zum n-ten Mal misshandelt wurde. Steinstedt schaute diesmal nicht weg, sondern verscheuchte die Meute mit einem ernsten Blick und fragte den den Schulhof beaufsichtigenden Lehrer, warum dieser den Schulhof nicht beaufsichtigte. Der fette Trottel stöhnte nur und aß weiter sein Pausenbrot. Als Steinstedt eine Woche später an demselben Schulhof vorbeiging, wurde der behinderte Junge nachgeäfft, mit Saft begossen und mit Kastanien beworfen. Steinstedt blieb stehen. Zwei Mädchen machten sich nun einen Spaß daraus, den Jungen heftig zu ohrfeigen, während der Rest der Gruppe darüber lachte, dass er, wie sie es nannten, Angst vor Mädchen hatte. Steinstedt stieg über den Zaun und ging entschlossenen Schrittes auf die Gruppe zu. Er haute einen Elftklässler mit einer ordentlichen Ohrfeige um, verpasste einem Mädchen eine Kopfnuss und grätschte dem anderen Mädchen ein rotwürdiges Faul ein. Er schlug zwei Jungen und ein weiteres Mädchen leicht bis mäßig ins Gesicht, während der Opferjunge schnell ins Schulgebäude wegschlich. Bevor Steinstedt den Chef der Clique mitnahm, schaute er noch beim Direktor vorbei, dem er wortlos mit der Faust die Nase brach.
Den Anführer der Schulhofgang begleitete Steinstedt nach Hause. Er verprügelte seine Eltern krankenhausreif und ließ den Halbstarken zusehen. Dann verprügelte er auch den Bengel und rief einen Krankenwagen. Auf dem Weg zur Kneipe, in der er bei einem Drink über diese verfluchte Degeneratengesellschaft hinwegkommen wollte, sah er, wie ein muslimischer Mitbürger dem vom Rollstuhl gestoßenen Professor Afdewählius metaphorisch ausgedrückt auf die Beine half. Steinstedt fasste mit an, erfuhr, wer die Täter waren, und rief jemanden bei der Polizei an, der diese beiden Skinheads kannte. Der Syrer war Anfang 30, und nahm Steinstedts Einladung auf einen Single Malt an. In der Kneipe sprachen die Männer bis zum Geschäftsschluss über die Almoraviden und Almohaden, über religiösen Extremismus im dunklen Mittelalter und in der aufgeklärten Zeit, die keinen Grund mehr hatte, an Flüche und Hexen, Bündnisse mit dem Teufel und heilige Kriege zu glauben. Hat sich die Haltung der Fundamentalisten geändert? Nein, stellte Steinstedt fest. An mangelnder Aufklärung kann es also nicht liegen. Ein Hass, der Selbstzweck ist, findet immer einen Grund. “Man muss dem Hass mit Gerechtigkeit begegnen” sagte der Syrer in Kants, Goethes und Steinstedts Muttersprache, die er erst letztes Jahr erlernt hatte. “Ohne Gerechtigkeit geht die Gesellschaft zugrunde”, stellte Steinstedt fest und ging nach Hause.
1.2019