Dienstag, 21. Januar 2020

Gerechtigkeit





“Gerechtigkeit!” lachte Steinstedt, “Sagt doch lieber gleich Milde, Gnade, Gleichmacherei, das ist doch, was ihr mit Gerechtigkeit meint!” Die Studenten am Linken-Stand waren nicht begeistert, Steinstedt ging auf die andere Straßenseite zur AfD, während er dachte: “Gerechtigkeit ist in dieser Gesellschaft marginalisiert, ja kriminalisiert. Gerechtigkeit existiert nicht mehr real, es sind nur noch Gerechtigkeitsphantasien erlaubt: Batman, Punisher...” “Haben diese Schwuchteln für straffreien Sex mit Kindern agitiert?” fragte der AfD-Werber Steinstedt. “Nein, nur für soziale Gerechtigkeit”. “Was für Kommunistenschweine, nicht?” “Werdet erstmal eure Nazischweine los, dann können wir über die Kommunistenschweine reden”. Steinstedt trank am AfD-Stand noch einen Kaffee, während die von ihm beleidigte Leberwurst ihn demonstrativ ignorierte. Da kam endlich Professor Afdewählius im Rollstuhl angerauscht, mit dem sein alter Student eigentlich reden wollte. “Über die ersten Buchstaben in meinem Nachnamen bin inzwischen gar nicht mehr glücklich”, klagte der emeritierte Akademiker.

Auf dem Heimweg ging Steinstedt an einer Gesamtschule vorbei, wo im Hof ein anscheinend geistig behinderter Junge von einer geschlechtlich bunt gemischten Gruppe aus älteren Jugendlichen schon zum n-ten Mal misshandelt wurde. Steinstedt schaute diesmal nicht weg, sondern verscheuchte die Meute mit einem ernsten Blick und fragte den den Schulhof beaufsichtigenden Lehrer, warum dieser den Schulhof nicht beaufsichtigte. Der fette Trottel stöhnte nur und aß weiter sein Pausenbrot. Als Steinstedt eine Woche später an demselben Schulhof vorbeiging, wurde der behinderte Junge nachgeäfft, mit Saft begossen und mit Kastanien beworfen. Steinstedt blieb stehen. Zwei Mädchen machten sich nun einen Spaß daraus, den Jungen heftig zu ohrfeigen, während der Rest der Gruppe darüber lachte, dass er, wie sie es nannten, Angst vor Mädchen hatte. Steinstedt stieg über den Zaun und ging entschlossenen Schrittes auf die Gruppe zu. Er haute einen Elftklässler mit einer ordentlichen Ohrfeige um, verpasste einem Mädchen eine Kopfnuss und grätschte dem anderen Mädchen ein rotwürdiges Faul ein. Er schlug zwei Jungen und ein weiteres Mädchen leicht bis mäßig ins Gesicht, während der Opferjunge schnell ins Schulgebäude wegschlich. Bevor Steinstedt den Chef der Clique mitnahm, schaute er noch beim Direktor vorbei, dem er wortlos mit der Faust die Nase brach.

Den Anführer der Schulhofgang begleitete Steinstedt nach Hause. Er verprügelte seine Eltern krankenhausreif und ließ den Halbstarken zusehen. Dann verprügelte er auch den Bengel und rief einen Krankenwagen. Auf dem Weg zur Kneipe, in der er bei einem Drink über diese verfluchte Degeneratengesellschaft hinwegkommen wollte, sah er, wie ein muslimischer Mitbürger dem vom Rollstuhl gestoßenen Professor Afdewählius metaphorisch ausgedrückt auf die Beine half. Steinstedt fasste mit an, erfuhr, wer die Täter waren, und rief jemanden bei der Polizei an, der diese beiden Skinheads kannte. Der Syrer war Anfang 30, und nahm Steinstedts Einladung auf einen Single Malt an. In der Kneipe sprachen die Männer bis zum Geschäftsschluss über die Almoraviden und Almohaden, über religiösen Extremismus im dunklen Mittelalter und in der aufgeklärten Zeit, die keinen Grund mehr hatte, an Flüche und Hexen, Bündnisse mit dem Teufel und heilige Kriege zu glauben. Hat sich die Haltung der Fundamentalisten geändert? Nein, stellte Steinstedt fest. An mangelnder Aufklärung kann es also nicht liegen. Ein Hass, der Selbstzweck ist, findet immer einen Grund. “Man muss dem Hass mit Gerechtigkeit begegnen” sagte der Syrer in Kants, Goethes und Steinstedts Muttersprache, die er erst letztes Jahr erlernt hatte. “Ohne Gerechtigkeit geht die Gesellschaft zugrunde”, stellte Steinstedt fest und ging nach Hause.

1.2019

Freitag, 17. Januar 2020

Steinstedt ist zurück




Steinstedt gähnte. Professor Afdewählius redete schon seit drei Stunden und war immer noch nicht fertig. Er sprach von demographischen Problemen, die auf Deutschland in den nächsten Jahrzehnten zukommen würden, während Steinstedt auf seinem Stuhl rutschte und es nicht mehr erwarten konnte. Übermüdet und verärgert sprang er zwanzig Sekunden früher auf, als der Attentäter auf Professor Afdewählius zulief. Und so blieb dem Attentäter-Darsteller nichts anderes übrig, als das Messer noch fünf Schritte vor dem Podium auf den Boden zu werfen und sich hinzuknien, während Steinstedt erschrak, dass er zu früh aufgesprungen war, und sich wieder auf seinen Platz setzte.  Professor Afdewählius war ratlos, also redete er einfach weiter, während der Attentäterdarsteller leise das Messer aufhob und sich wegschlich.

“Was war das?” fragte der Moderator Cedul nach dem Vortrag und vermutete vermutlich eine Künstleraktion dahinter, bis er sah, wie der Attentäterdarsteller Professor Afdewählius aggressiv um das versprochene Honorar anbettelte. Schließlich sei Steinstedt schuld, dass die Aktion nicht so gelaufen war wie geplant. Professor Afdewählius rief Steinstedt abseits des Banketts zu sich und fragte, warum dieser nicht aufgepasst habe. Da er dem  Attentäterdarsteller den Honorar verweigerte, rief dieser entnervt: “Nazis! Fickt euch mit eurem Attentat!” Da ergriff Professor Afdewählius das Wort: “Haha, sehen Sie, verehrte Damen und Herren, wir sind derart beliebt, derart in der Mehrheit, dass wir schon die Attentäter selbst bezahlen müssen, damit sie uns angreifen!” Der ganze Saal klatschte, aber die Leute wollten auch Gewalt sehen. Steinstedt suchte sich den am grünsten aussehenden Linken aus und begann eine Jagd. Der Hase lief und sprang, aber Steinstedt war flinker und schneller, und holte ihn schließlich ein. “Ich habe seit 60 Stunden nicht geschlafen, Leute, seid so nett, und sagt mir einfach, was ich mit ihm tun soll. Mein Kopf funktioniert nicht mehr, sorry. Ihr sagt, ich mache”.

Die Menge im Saal war begeistert. “Schlag ihm in die Fresse!” schrie eine bürgerliche Dame Mitte 50. Steinstedt tat dies. “Tritt ihm in den Bauch!” rief ein älterer Herr. Auch dies tat Steinstedt. “Jetzt tritt ihm in die Fresse!” wieherte eine Seniorin im Rollstuhl vor Begeisterung. Steinstedt holte aus, fiel aber hin, rutschte halt aus, war halt müde. Er fiel dabei etwas unglücklich auf den Kopf, war dann verwirrt, und verprügelte auf einmal all jene, die ihm soeben Gewaltbefehle erteilt hatten, mit einem Schlagstock. Bis ihn Professor Afdewählius zur Seite riss und fragte: “Was machst du denn, Junge?” So ungeschickt hatte sich Steinstedt damals in seinem Nebenjob angestellt, als er Student war und nicht wusste, wovon er die Miete für sein Penthaus in der City bezahlen sollte.
1.2019

Freitag, 3. Januar 2020

Die Rettung





War Salvatore Besitzer einer Waffenfabrik oder Leiter eines Ärzteteams, das verwundete Zivilisten in Kriegsgebieten rettete? Wäre sehr wichtig, das zu wissen, aber ich habe es wirklich vergessen. Jedenfalls gehörte dem 60-Jährigen eine Villa mit Swimmingpool, und Frank erzählte Victor, und Victor erzählte mir, dass einmal ein junger Mann über den Zaun stieg und in den Pool sprang. Ob dieser Mann in Victors Erzählung islamophoberweise Ali oder rassistischerweise Demba genannt wurde, kann ich mich nicht mehr erinnern. Victor nannte ihn die meiste Zeit einfach Junge. Also sprang dieser Junge in den Pool und begann sogleich zu ertrinken. Wenige Sekunden später, als hätte sie Salvatores Garten den ganzen Tag beobachtet, stieg die mutige Carla über den Zaun und sprang in den Pool, um den Jungen zu retten.

Als Salvatore von der Arbeit nach Hause kam, war da schon die Polizei, und fragte: „Wollten Sie diesen Jugendlichen in Ihrem Pool ertrinken lassen?“ „Nein“, sagte Salvatore. „Wenn dem so ist, dann übernehmen sie ab jetzt die Kosten für seinen Lebensunterhalt“. Salvatore war empört: „Und wenn ich mich weigere!?“ „Dann wird der Richter voraussichtlich entscheiden, dass Sie ein rassistischer Hassverbrecher sind, und Ihnen zusätzlich eine hohe Strafe aufdonnern. Kommen Sie schon, der Junge ist doch so süß“. Und so verpflichtete sich Salvatore laut Victor, für den Lebensunterhalt eines 25-jährigen Rumtreibers aufzukommen. Was für ein Arschloch, dieser Victor, sagte Pfarrer Böhmbumm in seiner Messe, „...erzählt rassistische Lügengeschichten, um Güte, Moral und Menschlichkeit zu kriminalisieren!“

Carla wurde übrigens dabei beobachtet, wie sie heimlich eine Katze zum Tierheim brachte. Jemand klingelte eines frühen Morgens an der Tür der vielbeschäftigten jungen Frau und sagte: „Hey, ich habe eine Katze gerettet. Sie gehört jetzt Ihnen, oder hassen Sie etwa Tiere?“ Carla schwieg verdutzt, also sprach der mutige Retter: „Geld haben Sie doch, oder sind Sie so herzlos, und werden diese unschuldige arme Katze ins Tierheim bringen?“ Mann, Victor, was erzählst du für Tierhasser-Propagandageschichten!


7.2019