Ceresa bereut schon beim Genießen: ein lebendes, fühlendes Wesen musste für seine Lamm-Delikatesse geschlachtet werden. Schwermütig äußert er einen Gedanken, der ihn seit vielen Jahren beschleicht:
Vielleicht bin ich zu arrogant, wenn ich den stolzen erhabenen Suizid befürworte und den erbärmlichen verzweifelten Suizid geringschätze. Hätte der Incel-Terrorist von Toronto Suizd begangen, hätte er keine Menschen umgebracht. Und was ist mit all den anderen Terroristen und Verbrechern, die nach Jahren von Leid und Verzweiflung keinen anderen Ausweg sehen, als sich mörderischen Ideologien zur Verfügung zu stellen? Und was ist mit Hitler, der als junger Mann unglaublich gelitten haben soll? Wenn man ehrlich ist, glaubt man eh nicht an einen höheren Sinn des Lebens: man will Lust. Ein leidvolles Leben, das keine Hoffnung auf Glück in Form von Lust im Diesseits verspricht, kann man doch kurz und schmerzlos mit einem Kopfschuss beenden. Hätten sich zumindest die Gequälten und Verzweifelten unter den großen und kleinen Schurken der Weltgeschichte umgebracht, hätte es hunderte Millionen von Morden weniger gegeben. Und auch die, die nichts tun, die keine Verbrechen begehen, und nur still vor sich hin leiden, bis ihr erbärmliches Leben vorbei ist: ist es nicht teuflisch, sie für ihre Suizidgedanken zu beschämen und zu verurteilen? Soll man sie nicht stattdessen ermutigen, ihrem sinnlosen Elend ein Ende zu setzen?
Der Kellner, Ende 20, ein Incel, freut sich sehr, diese Worte voller Empathie und Verständnis zu hören, und sagt:
Das muss nicht nur für Extremfälle gelten. Die Lust-Unlust-Bilanz in einem gewöhnlichen Leben ist meistens negativ. Epikur sagt ja: wenn wir sind, ist der Tod nicht, und wenn der Tod ist, sind wir nicht. Allein wenn ich daran denke, dass all das sinnlose Alltagselend schon in einer Minute vorbei sein könnte... ein sehr verlockender Gedanke!
Der Küchenchef entschuldigt sich für den jungen Mann:
Ach, er muss nur die richtige Frau kennenlernen, dann sieht er nicht mehr so schwarz!
Frank Murphy erwidert:
Der Junge sieht doch nicht schwarz, er denkt einfach realistisch. Ich war nicht immer reich. Als junger Mann habe ich mich mal spaßeshalber für ein Demotivations-Wochenendseminar angemeldet, und hörte dort den Satz, der mein Leben veränderte: "Wisst ihr, weshalb die meisten von euch jeden Tag aufstehen und sich der gleichen langweiligen und sinnlosen Routine fügen? Wegen der sunk-cost fallacy". Da habe ich Schwarz gesehen. Aber am nächsten Tag war ich erleichtert, und fing endlich an zu leben. Ich habe jeden Bereich meines Lebens auf die sunk-cost fallacy untersucht und mein Leben geändert.
Ein kanadischer MGTOW rügt den der Küchenchef:
Eine Frau finden? Die Lösung soll darin bestehen, dass man sich neue Probleme schafft?
Ein alter Psychologe lacht:
So funktionert das. Alle machen das. Kannst du ein existenzielles Problem nicht lösen, schaff dir neue Probleme, die du lösen kannst! Und selbstverständlich ist es so, dass, abgesehen von der irrationalen Angst vor dem Tod, so gut wie jeder Mensch aufgrund des Trugschlusses der versunken Kosten weiterlebt: weil man schon so viel gelitten hat, will man sich nicht eingestehen, dass das Leben sinnlos ist. Auf lange Sicht führt das zu Verbitterung und ideologischer oder religiöser Radikalisierung. Das Leben ist ein Spiel, und man gewinnt, wenn man sich zur Erkenntnis durchringt, dass der Suizid das einzig Vernünftige im Leben ist, und zwar bevor man 20 wird!
Ceresa wird zynisch:
...sagt ein alter Mann.
Der Psychologe lacht weiter:
Und was ist, wenn ich wahrhaftig an ein Leben nach dem Tod glaube?
Der kanadische MGTOW lacht mit:
Dann sind Sie wahnsinnig geworden, gnädiger Herr! Sie wissen ganz genau, dass Sie nur wegen der sunk-cost fallacy weiterleben, aber Ihr Unterbewusstsein lässt sie glauben, ausgerechnet Ihr Leben sei nicht sinnlos wie das aller anderen. Der Glaube ist der Selbstmord des Verstandes. Dann schon lieber sich richtig umbringen, nicht wahr?
Ceresa wird romantisch:
Lust und Unlust unterscheiden sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Außer meinen Freunden hier verachte ich alle Menschen auf der Welt, und das nicht ohne Grund. Ich bin seit fast 50 Jahren auf der Welt, habe so einiges gesehen. Jeder Tag ist erfüllt von Trauer und Melancholie, aber ich behaupte dennoch, dass ich mehr Lust erlebe als Unlust erleide. Ich lebe weiter aus einem einzigen Grund: Ich lebe, weil die Kirsche blüht.
Der kanadische MGTOW spottet:
Ach, das ist doch gynozentrisch! Diese romantische Verklärung, das ist doch alles Selbstbetrug. Leben für die Schönheit? Und dann noch die abstrakte Schönheit? Was hat man schon davon? Aber man bleibt am Leben und dient weiter dem gynozentrischen System.
Der Incel-Kellner nickt.
2018