Donnerstag, 28. April 2022

Ihre Hände

 

 

 

Auf dem Weg zum Schachturnier schaute Ari noch kurz in der Schulbibliothek vorbei: diese blonde Elfenfee, dieser Engel aus der 9! Ihre kleinen zarten feinen Hände verzückten ihn abermals, sein Herz klopfte, während sie zärtlich ein Buch schloss und lächelte. Ari fuhr mit seinem Lamborghini von einem Fahrrad, für welches er gespart hatte, seit er selbst in der 9 war, zum Schachclub. Dieses Mädchen! Er schloss die Augen und ließ los, fuhr den Hang runter und genoss den Wind. Morgen lade ich sie zum Winterball ein, war Ari sich sicher.

Der Zweitbeste nach Ari in der 12 schaute zu Boden und drehte sich weg, als wollte er mit dem Blick sagen, Ari sollte auf keinen Fall auf diese Gruppe Neunt- bis Elftklässler zugehen.  Doch das tat er, denn sie nahmen einen Namen in den Mund, der ihm heilig war. Auf ihren Smartphones schauten sie sich etwas an. "Heute habe ich es heimlich aufgenommen, wär doch sonst zu schade", lachte ein Zehntklässler-Schweinsgesicht. "Yo. Geiler Handjob", kommentierte ein Proll aus der 11. Ein Streber aus der 10 meinte, sie hätte das doch gar nicht nötig, sie käme schließlich aus einem sehr wohlhabenden Elternhaus. "Sie tut es nicht für Geld", versicherte ein Bub aus ihrer Klasse, fast noch ein Kind. "Hat sie dir auch schon einen runtergeholt?" "Nein, aber einen Finger in der Arsch gesteckt". Reges Lachen. Ari sagte nichts und ging schweigend an der Gruppe vorbei.

Ari ging hinters Clubhaus und erbrach. Ihm war schwindlig, er setzte sich auf den Boden und erbrach wieder. Dann ging er in den Club. "Noch ein Unentschieden, und du hast das Turnier gewonnen!" hörte er. "Ich gebe auf", sagte Ari. "Fühlst du dich nicht wohl? Gut, morgen nächste Partie. Schaffst du schon. Er muss dich jetzt aber nur noch viermal statt fünfmal schlagen, damit Gleichstand ist". "Ich gebe das Turnier auf", sagte Ari und fuhr mit dem Rad davon.

Auf der Brücke über dem Fluss stand er ein paar Minuten völlig regungslos, dann nahm er sein Fahrrad und schleuderte es mit Wucht in den Fluss. Ari ging zu Fuß nach Hause. Er fühlte nichts. Nur eine Leere so groß wie Gott. Er ging in die Kapelle, zog die Hose runter und pisste überall hin: auf die Kreuze, auf die Jesüsse, auf alles. Zu Hause angekommen, zerstörte er mit Taekwondotritten seine Zimmermöbel. Skizzen, Zeichnungen, Schulhefte, all sein Bargeld legte er auf den Grill, übergoss mit Spiritus und zündete an. Die filigrane Zeichnung ihrer Hände, Workload 60 Stunden, verbrannte in wenigen Sekunden. Ari löschte das Feuer, als alles verbrannt war, und ging nochmals ins Haus. Er warf seine Schach- und Taekwondopokale in den Müllcontainer im Hof und steckte etwas in sein Portemonnaie, bevor er das Haus richtung Wald verließ.

Auf einem Waldhügel über der Kleinstadt setzte er sich, setzte immer wieder an zum Brechen, aber es kam nichts mehr heraus. Ari holte seinen Organspendeausweis aus dem Portemonnaie und klemmte diesen sichtbar zwischen zwei Kieselsteinen. Dann rief er einen Kranken- bzw. Leichenwagen. Sein Puls war ruhig. Er fühlte keine Angst, keine Wut, nichts. Er schnitt sich mit einem Küchenmesser beide Arme auf, sehr tief, doch es tat nicht einmal weh. Er schnitt sich ein Stück Fleisch aus der Brust, und doch war ein anderes Gefühl immer noch stärker als der Schmerz. Er hörte die Sirenen, holte ein Teppichmesser heraus und schnitt sich die Halsschlagader durch.

 

Freitag, 1. April 2022

Liberal

 

 

 

Ersterseits war die Gemeinde World City hochverschuldet, doch zweiterseits war sie auch die liberalste Gemeinde der USA. Dritterseits verkündete die US-Regierung, dass es aufgrund der schweren wirtschaftlichen Situation keine staatlichen Hilfen für notleidende Gemeinden geben würde, was ohne Unterstützung der Bundesregierung für World City eine Hungersnot und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems bedeuten würde. Doch vierterseits sollte die zum Jahresabschluss liberalste Gemeinde des Landes ihre Schulden komplett erlassen bekommen und eine saftige Haushaltsprämie dazu.

Auf der High School passierte Folgendes: der älteste Sohn aus einer katholischen Familie outete sich. Jemand ist schwul in der liberalsten Gemeinde eines liberalen Landes? Warum sollte das ein Problem sein! Doch gleich danach wurde dieser junge Mann namens Uri Ross zu Hause von seinem Vater verprügelt. Er ging gleich zum Schuldirektor und bat um Hilfe. Dieser stellte klar, dass sein Vater, Mr. Ross, auf keinen Fall bei der Polizei angezeigt wird. Am nächsten Tag gab es noch mehr Schläge. Mr. Ross wurde von mehreren respektierten Mitgliedern der Gemeindeverwaltung ausgeschimpft, sein Kiosk mit christlichen Devotionalien, Vodka und Bibeln wurde von immer mehr Bewohnern der Gemeinde boykottiert.

Um Vodka entbrannte allerdings ein heftiger Streit, denn viele Einwohner waren alkoholabhängig und konnten nicht kurzfristig auf Vodka-Einkäufe bei Mr. Ross verzichten. Dieser verprügelte nochmals seinen ältesten Sohn, doch der Junge schlug diesmal zurück. Er ging zur Polizei und forderte wenigstens Schutzhaft für sich selbst, damit der Konflikt mit seinem Vater nicht weiter eskaliert. Die Polizei weigerte sich kategorisch, sich einzumischen. Der Polizeichef sagte aber: "Die Familie Ross braucht ein neues Familienoberhaupt". Am nächsten Tag stellte er klar, dass er keineswegs zum Sturz des Vaters aufgerufen habe.

Es ging jeden Tag so weiter: Mr. Ross verprügelte seinen Sohn immer heftiger, dieser wehrte sich auch immer heftiger, und zog den Unmut der Gemeinde auf sich. Die Leute redeten: "Warum kann er nicht einfach leugnen, dass er schwul ist?" "Er soll auf seinen Vater hören, er ist schließlich sein Vater". "Wir können den Schuldenerlass und die Prämie nicht für einen einzigen Schwulen riskieren!" Und so blieb Uri nur die Hoffnung, bei der Abwehr eines weiteren Angriffs seinen Vater so schwer zu verletzen, dass er ihn nicht mehr verprügeln konnte.