1. Wer ist Deutschland
"Sozialer Aufstieg", murmelte Peter, "das bedeutet, dass es mindestens
zwei Klassen von Menschen gibt. Eine höhere Klasse muss es geben, sonst
könnte man nicht aufsteigen". Des Lachens konnte ich mich aber erst
nicht enthalten, als Jürgen meine: "Klassengesellschaft, auch bekannt
als Faschismus". Wir fuhren zu einer Veranstaltung nach Hamburg, Zug,
zweite Klasse. Ein Linksextremist lud alle progressiven Kräfte des
Landes ein, um den achten Mai auf seine besondere Art zu begehen; es
gierte mich neu, denn so vertraut mir der Sowjetkommunismus auch war,
war mir der westliche Linksextremismus immer ein Stück befremdlich.
"Ich war heute in einem Chat", berichtete Rolf, "Cocaine war mein
Nickname. Eine junge Chatterin sagte: Hitler ist eine fette Sau. Ich
berichtigte sie: Adolf Hitler (20.4.1889 – 30.4.1945) war ein eher
schlanker, mittelgroßer Mann. Sofort wurde die Verbindung unterbrochen;
ich wurde des Chatrooms verwiesen, weil ich Hitler sein Menschsein
zugestand. Hitler darf nicht ein Mensch genannt werden; in Deutschland
ist es strafbar, zu sagen, Adolf Hitler gehörte zur Spezies homo sapiens
sapiens". "Nur ein Beispiel unter unzählig vielen", meinte Jürgen, "Und
was denkt das junge Mädchen? Wahrscheinlich, dass der Chatter Cocaine
ein Nazi ist. So bildet man sich in Deutschland seine Meinung",
schleuderte Peter entgegen. "Apropos Meinungsbildung", wachte der fünfte
im Bunde auf, "die Bild-Zeitung, die ich wenn kaufen würde, dann um sie
im Zug auf dem gegenüberliegenden Sitz zu platzieren, damit ich meine
Füße auf den Sitz legen kann, ohne diesen zu verschmutzen". "Wo in
Deutschland gibt es so schöne Pfützen, dass die Schuhe dreckig werden?"
war mir neu. "Verschmutzen - das ist die Funktion der Bild-Zeitung",
unterbrach mich Jürgen, "sie ist ein Triumph der Dummheit im Lande der
Dichter und Denker". "Viereinhalb Millionen Vollidioten „lesen“ jeden
Tag die Bild-Zeitung, die zweitpopulärste Tageszeitung in Deutschland
erreicht keine Million von Lesern", war Peter aus der Statistik klug.
"Nun, wenn die Deutschen so blöd sind, wie sie nun mal sind, dann
wundert es keinen vernunftbegabten Menschen, dass diese Nation den
Holocaust verbrochen hat, dass Millionen Deutsche immer noch vom Dritten
Reich schwärmen und es sich zurück wünschen", wurde der Fünfte etwas
konkreter, vielleicht um zu erinnern, wo wir hinfuhren. Peter nicht
faul: "Blöde kann man leicht manipulieren, und der Psycho aus Braunau
konnte die Massen nun mal begeistern". Jürgen klagte: "Der Krieg ist nun
sechzig Jahre her, und er ist allein schuld. Niemand fühlt sich
schuldig, alle jammern, der Österreicher hätte sie verführt, hätte
Deutschland ins Verderben gestürzt, und hassen ihn mehr dafür, dass er
den Krieg nicht gewonnen hat, als dafür, dass er ihn, wie sie alle auch,
gewollt hat".
Wir stiegen in Uelzen um, ein für meine Begriffe dekadenter Bahnhof,
dörflicher und kümmerlicher, als für gleiches Geld mit deutscher
Technologie machbar gewesen wäre. "Vergiss die Integration", meinte
Jürgen zu mir, "bleib wie du bist, werde bloß nicht wie die Deutschen".
"Wie bin ich denn?" fragte ich in die Runde. "Wie sind denn die Russen
so? Unkompliziert, großherzig, optimistisch, saufsam, etwas prahlerisch,
aber sehr sympathisch", lobte mich Peter. "Ich mag es aber verkopft,
diskret, nüchtern, schüchtern, bescheiden, misanthropisch", stellte ich
unverblümt fest. Peter kochte: "Solche Migranten wie dich zu tolerieren,
ist am Schwersten, ihr wollt die besseren Deutschen sein, als die
verdammten Deutschen!" "Ich bin nicht toleranzbedürftig", bemerkte ich.
"Assimiliert?" sah mich Jürgen angewidert an. "Deutschland hat dich
verdorben. Du hättest in Russland bleiben sollen", meinte Rolf. "Sprecht
ihr ihm das Recht ab, hier zu sein?" lachte der Fünfte gut. "Auf solche
Messerstecher in den Rücken können die Linken in Deutschland
verzichten!" rief Peter. "Aufgrund welcher Lebensleistung spielst du
dich so groß auf?" interessierte mich sehr. Es brachte mir ein
unappetitliches Schimpfwort ein. "Deutschland, in das ich gekommen bin,
das sind nicht die dicken Säue, die in den Wohlstand, für den sie nichts
können, hineingeboren wurden, ihr Leben lang nichts getan haben, außer
ihr Land zu verteufeln, und meinen, immer und überall im Recht zu sein,
nur weil sie links sind", blieb ich ruhig. "Schon klar, du bist in das
Land Goethes und Schillers gekommen", war Rolf beleidigt. "Komisch, dass
dieses Land, das außer Künstlern auch Wissenschaftler hervorbrachte,
die besten der Welt, nie nach diesen benannt wird - oder hört man einen
je sagen: das Land Einsteins und Plancks?" schraubte ich die
Beleidigungsspirale weiter fort. "Nicht unsere Schuld, dass der
Kommunismus bei euch schiefgelaufen ist und ihr deshalb so verbittert
seid!" rief Peter mir zu, und da war schon die Endhaltestelle
Hamburg-Altona.
2. Du bist der Holocaust
Ein Hinterhof irgendwo in Hamburg, wir kamen an. Ausländisches Bier
wurde gereicht, auf die Nachfrage worauf ich die Antwort bekam: "Kann
sein, dass deutsches Bier besser schmeckt, aber es ist deutsch". Auf
einer improvisierten Bühne hielt der Gastgeber bereits seine Rede:
"Immer wieder wollen deutsche Politiker einen Schlussstrich ziehen. Sie
sind Faschisten. Sie gehören allesamt ins Gefängnis. Hitler ist mir gar
sympathisch, wenn ich sehe und höre, wie die Deutschen zu ihrer
Geschichte stehen. Er ist mir sympathischer, als eine
dreiundachtzigjährige Frau, die seinen Holocaust, die ihren Holocaust
still mitgetragen hat, für die NSDAP gestimmt hat, deren Mann an der
Ostfront uns Leben kam. Hitler ist ein Mann, wie es aussieht. Er trägt
die Verantwortung. Alle schütteln ihre Schuld ab, alle wollen nichts
gewusst haben, alle sind Opfer gewesen. Das Bekenntnis zu Hitlers
Alleinschuld am Elend der Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert ist das
höchste Heiligtum des deutschen Volkes". Ich war angesichts einer solch
brennenden Hitlerverherrlichung nicht wirklich überrascht, kannte sie
aber bisher nur von Rechtsextremisten.
"Ich bin stolz, kein Deutscher zu sein!" rief der Redner unter tosendem
Beifall in die Menge. Nun war ich gespannt, zu welcher Nationalität er
sich bekennen würde. "Die Deutschen sind eine Schicksalsgemeinschaft von
scheinheiligen Pseudohumanisten, eine Irrenanstalt in politischer und
moralischer Hinsicht", hörte ich weiter zu. Rolf setzte sich zu mir,
sein Ärger war vergangen. Jürgen und Peter setzten sich demostrativ
dorthin, wo die geographische Entfernung zu mir am Größten war. Der
Redner donnerte indes weiter: "Alles, was je einer über die Deutschen
gesagt hatte, stimmt, solange es nichts Gutes ist. Es hat seinen Grund.
Es gibt Namen, die wie Links im Internet auf den Grund hinweisen, sehr
präzise, sehr einleuchtend. Natürlich nicht für blöde Schwachköpfe, die
die Bild-Zeitung lesen, aber auf deren intellektuelles Niveau würden uns
Hitler und ich niemals begeben. Sepp Herberger. Konrad Adenauer. Die
Stunde Null. Mit der Gründung der BRD wurde die Welt erschaffen, davor
war nichts. Alles schnell verdrängen. Wir sind Fussball-Weltmeister, wir
sind ein Wirtschaftswunderland, wir sind alle 1949 auf die Welt
gekommen, mit dem Davor haben wir nichts zu tun". Rolf sah mich fragend
an, ich nickte. Rolf fragte zur Sicherheit nach: "Hier hat er doch
Recht, oder?" Ich schwieg, der Redner sprach: "Ach, es hat einen Krieg
gegeben? Welchen Krieg? Davon steht in der Bild-Zeitung nichts.
Holocaust? Was für ein dreckiger Jude hat sich dieses perverse Wort
ausgedacht? Was bedeutet es überhaupt? Ich sags dir, du Hurensohn. Es
bedeutet deine Mutter. Es bedeutet: dein Vater, dein Grossvater, deine
Grossmutter, alle deine Onkel, alle deine Tanten, und wenn das schon
alles ist, was es dazu zu sagen gibt, dann kann ich dir nur gratulieren.
Gut weggekommen, noch mal Glück gehabt, du Nazischwein. Für die Meisten
gilt aber: Du bist der Holocaust. Wir sind ja im Jahre 1949. Noch vor 4
Jahren hattest du jüdische Kinder zu Tode getreten, polnische Frauen
erschossen; und nun willst du davon nichts wissen, nun ist der Hund aus
Braunau allein an Allem schuld, nun sind die Russen wieder die Bösen,
und vielleicht hast du der freien Welt sogar etwas Gutes getan, als du
vor 8 Jahren mit deinen Kameraden - die auch am neunten Mai 45 plötzlich
nichts mehr wussten, sich an nichts mehr erinnern konnten, ein
zerstörtes Deutschland vorfanden und Opfer einer weltweiten Verschwörung
gewesen sind, nicht wahr - russische Familien in Ställe eingepfercht
und sie angezündet hast, beim lebendigen Leib verbrannt, die Welt von
den Untermenschen gesäubert". Vielen Zuhörern blieb die Luft weg, der
Redner setzte noch den Deckel drauf: "Jeder wusste was er tat, jeder
wollte es, jeder tat es gern. Dummheit ist keine Entschuldigung,
Feigheit ebenso wenig. Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust".
Pause. Die Gemüter kochten, und es war schwer abzulesen, ob vor
Zustimmung oder vor Ablehnung. "Adorno war der Meinung, nach Auschwitz
Gedichte zu schreiben, sei barbarisch", setzte sich der Fünfte zu uns.
Rolf nickte bejahend. "Nach Auschwitz Fussball-Weltmeister zu werden?
Nach Auschwitz mit Schwäbisch Hall Eigenheime bauen? Nach Auschwitz
„Wetten Dass“ gucken?" fragte der Fünfte. "Grausam", meinte Rolf. "Gut,
das Leben geht weiter, und die Kinder können für die Gräueltaten ihrer
Eltern nun mal nichts", wurde der Fünfte rhetorisch, "aber nach
Auschwitz die NPD wählen? Nach Auschwitz in die DVU eintreten? Nach
Auschwitz Nazi sein?" "Unverzeihlich", urteilte Rolf, "alles andere, als
die Betreffenden mit dem Tode zu bestrafen, ist eine bodenlose
Frechheit... eine Unverschämtheit, die das deutsche Volk für immer
moralisch disqualifiziert".
Wir drei gingen auf die Straße, die Pause war etwas länger geraten als
geplant. "Kennst du den Redner?" fragte Rolf den Fünften. "Nein, noch
nie gesehen". "Aber dass einer, den den Krieg nicht erlebt hat, so
redet, ist doch bewundernswert", wollte Rolf bejaht wissen. "Ich kann
mir nicht vorstellen, was jetzt noch kommt", tat ich meine politische
Phantasielosigkeit kund.
3. Die Dichte des Denkens
Die Sitzplätze waren bei unserer Rückkehr neu verteilt, wir setzten und
ganz rechts zu einem sehr hellhäutigen blonden Mädchen. "Kommst du aus
Hamburg?" fragte Rolf. Sie nannte eine kleinere Ortschaft in
Schleswig-Holstein, die von uns drei nur ich, der Migrant,
heimatkundlich erschlossen hatte. Auf die Frage des Fünften, was sie auf
der Veranstaltung zu suchen hatte, gab sie an, als Reporterin für eine
rechtskonservative Schülerzeitung vor Ort zu sein.
Der Redner begann in alter Frische: "Es ist nun eine Straftat in
Deutschland, den Holocaust zu leugnen, seine Zunge so zu bewegen, dass
aus dem Mund rauskommt: „Den Holocaust hat es nicht gegeben“. Sehr klug,
bravo. Wie wäre es damit, ein tätliches Leugnen des Holocaust unter
Strafe zu stellen? Ein Alptraum für jeden Deutschen, denn der Deutsche
tut jeden Tag, wenn er zur Arbeit geht, wenn er die Bild-Zeitung liest,
wenn er Fussball guckt, nichts Anderes, als den Holocaust zu verdrängen,
zu relativieren, zu leugnen, denn darauf kommt es im Endeffekt hinaus.
Schwer vorstellbar, wenn in Deutschland auf einmal jeder Deutsche hinter
Gitter kommt. Inkonsequenz ist daher zu einer Tugend geworden,
Inkompetenz zum Lernziel, sobald es um einen intellektuellen Beruf
geht". "Das Bildungssystem darf natürlich nicht zu kurz kommen",
kommentierte ich, als er sprach: "Der Geschichtsunterricht in
Deutschland - arme Anne Frank! Die Meisten denken wohl, dass sie eine
Deutsche war, und von den Russen ermordet wurde". Der Fünfte brachte
meine Alltagserfahrungen aus fernen sprachunkenntnisbedingten
Hauptschulzeiten zum Ausdruck: "Es ist kein Geheimnis, dass Millionen
erwachsener deutscher Menschen glauben, die Russen hätten sie
überfallen". Mir bleib die Antwort im Halse stecken, als ich vom
Rednerpult hörte: "Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Hitler
und Adenauer?" Es gab eine kurze rhetorische Pause, in der ich
genüsslich zusah, wie die schlake Hand des hellen blonden Mädchens durch
das lange Haar desselben Mädchens fuhr, damit das hübsche Gesicht eine
freie Sicht bekam. "Nur diesen: der eine Verbrecher wird gehasst, der
andere zum Gott gemacht. Die größte deutsche Persönlichkeit der gesamten
Geschichte, des ganzen Jahrtausends der Existenz des Deutschtums, das,
so hat die Mehrheit der Anrufer gestimmt, soll Adenauer sein. Warum
nicht gleich Hitler? Da wäre man wenigstens bei der Wahrheit geblieben,
wenn es schon um die Intelligenz so düster bestellt ist. Max Planck
gehörte nicht einmal zu den 100 besten Deutschen - wen wundert das bei
einem Volk von Bildzeitungslesern?" wurde der Redner nun medienkritisch.
"Der Bildungsstand der Deutschen ist leicht rückläufig, aber immer noch
weit über dem Weltdurchschnitt", provozierte ich Rolf. Der Redner wurde
von einem Zwischenrufer "Nestbeschmutzer" genannt, worauf er diesem,
allerdings nicht vom Pult und ohne Mikro, ausführlich und ausufernd
antwortete. Wieder eine Pause. "Woran denkst du?" fragte mich Rolf, und
erwartete einen klugen politischen Einwurf. "Wie kann man mit einer so
zierlichen Hand so schnell schreiben?" meinte ich das Mädchen. Rolf
wütete: "Du bist so pervers, du verfluchter Privatier! Sich einfach aus
der Politik raushalten, nur an den eigenen Egoismus denken!" "An sich
selbst denken, das ist Egoismus", korrigierte ihn der Fünfte, "an den
Egoismus denken, das ist Psychoanalyse".
"Was wird eigentlich in den deutschen Familien so geredet", kam der
Redner zurück, " - über den Krieg, über den Opa, über den Holocaust? Was
erzählen deutsche Eltern ihren Kindern über die Ausländer? Die Türken
sind doch alle kriminell, nicht wahr? Die Aussiedler aus der ehemaligen
Sowjetunion - alles russische Mafia, die Polen ein Volk von Autodieben,
und die Juden... Schnell die Pfote aufs Maul, bevor man sagt, was man
sagen wollte; bevor man sagt, was man wirklich denkt". Rolf erblasste:
"Das ist selbst mir zu links". "Wetten, es wird gleich rechts?" scherzte
das helle blonde Mädchen, und der Gastgeber sprach: "Wenn nicht die
reiche jüdische Lobby in den USA - hätten die Juden ein besseres
Schicksal als die Türken? Nun, die Juden sind vorne gut bestückt, und
nehmen Deutschland von hinten. Die Weltmacht heißt USA, und die
Interessen der Juden fallen mit den Interessen des zweiten Römischen
Reiches heute zufälligerweise zusammen". Rolf stutzte: "Die Türken? Was
haben die Türken denn für ein nach Vergeltung schreiendes Schicksal?"
"Vielleicht meinte er die Kurden", bemerkte der Fünfte humorlos. "Ein
Glück, das dem geschundenen jüdischen Volk zu gönnen ist. Israel hat
circa 50 Atombomben. Gut so. Zur Selbstverteidigung; wer weiß, ob morgen
Ahmadinedschad oder übermorgen - wie hieß diese Fettsau von der CDU
noch mal – es freut mich, dass Israel in der Lage ist, dafür zu sorgen,
dass jeder, der noch mal versucht, das jüdische Volk auszurotten, einen
Atompilz vor die Haustür gestellt bekommt", täuschte der Redner einen
philosemitischen Orgasmus vor.
4. Unpolitische Macht
"Ich sehe nach, was da los ist", flüsterte Rolf, "Peter hat Jürgen eben
eine reingehauen". Auch vor dem Rednerpult gab es eine moderate
Schlägerei, auch da ging es um dasselbe wie bei Peter und Jürgen, um den
Vorwurf des Antisemitismus, wobei keiner anschließend wusste, wer wen
warum einen Antisemiten genannt hatte oder wer was weshalb als einen
Antisemitismusvorwurf interpretierte, und darum losboxte. "Komischer
Russe: Eine Schlägerei, und du nimmst nicht Teil", scherzte der Fünfte.
Die Gemüter beruhigten sich und der Gastgeber setzte seine Rede fort:
"Willy Brandts Kniefall von Warschau war die einzige gute Tat, die ein
deutscher Politiker im zwanzigsten Jahrhundert vollbracht hatte. Wenn
ich die Partei all der Opfer ergreife, so aus Humanität, aus der jedem
gebildeten Menschen zugänglichen Überlegung, dass es das Normalste auf
der Welt ist, dies zu tun, und ich erweise damit nicht den geschundenen
Völkern, sondern meinem eigenen Selbstverständnis als Mensch eine
Wohltat". "Am Ende die obligatorische Gefühlsduselei", zeigte sich der
Fünfte enttäuscht. "Wo sind Peter und Jürgen?" fragte ich Rolf. "Nach
Hause gefahren", schulterzuckte dieser. "Von den Deutschen erwarte ich
bedingungslose Dankbarkeit dafür, was hier sage", sprach der Redner, als
ein alter Mann links von uns ihn erkannte: "Das ist doch der Urenkel
von diesem Helden von der Ostfront, ...Bahr oder ...Behr". Dieser sprach
indes: "Wem es schwer fällt, mir zu danken, etwa weil ich ein Russe
bin, und man ja bekanntlich den Russen nicht dankt, sondern sie hinter
Stacheldraht verhungern lässt oder in Ställen verbrennt, der suche ein
Holocaust-Mahnmal in seiner Stadt auf, falle auf die Knie und
kapituliere bedingungslos. Falle mit dem Gesicht auf die Erde, in die
dein Grossvater, dein Vater, oder vielleicht du selber Blut vergossen
hast, weil du in deinem Hass auf die Juden, auf die Zigeuner, auf die
Russen Hitler zugejubelt hast, ihn gelobt und mit ihm gefeiert hast.
Verdamme ihn nicht dafür, dass eure von der katholischen und manch
anderen Kirchen geheiligte Mission gescheitert ist, verfluche dich
selbst dafür, dass jedes Wort, das Hitler in seinen Tiraden hinausrief,
aus der Tiefe deines Herzens kam, dass du derjenige warst, der ihn an
die Macht brachte und in seinen Krieg zog, in deinen Krieg, den du
wolltest, du, Deutscher! Schuldspruch, Deutschland, Hitler ist ein
falsches Alibi - das Gericht des Gewissens ist tief geschockt über den
rigorosen Unwillen zur Einsicht, und im Namen der Menschheit ergeht das
moralische Urteil: Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust!"
Ich schämte mich fremd. Er war so deutsch, wie dieses blonde Mädchen
schön, gab sich aber für einen Russen aus. "Ich verrate dir gleich, was
hier läuft", revidierte der Fünfte seine Aussage vom Nichtkennen des
Redners. Rolf ging in die Büsche, und der Fünfte verriet mir: "Er ist
Schauspieler und Mitglied in einem rechtsextremistischen Geheimbund".
"Kommt das in deinen Bericht?" fragte ich das Mädchen. Sie sah mich
unpolitisch an, worauf ich den Fünften, der gebürtiger Hamburger war,
nach einer bürgerlicheren Gegend als jener hier fragte. Vorbei an der
graffitographischen Aufschrift "Unpolitisch macht hirntot" spazierte ich
Hand in Hand mit dem hellen blonden Mädchen in ein gutbürgerliches
Café. Sie war so direkt, mir die Eigenschaften solgleich zu benennen,
aufgrund derer ich ihr sympathisch war: ich sei klug, diskret, nüchtern,
schüchtern, bescheiden, misanthropisch. Da an diesem Abend mit
gewaltsamen Ausschreitungen zu rechnen war, begleitete ich sie mit dem
Zug bis nach Hause, fuhr dann auf die Reeperbahn, wo ich Rolf und den
Fünften traf.
"Gemütlich hier", stellte der Fünfte fest. "Zu steril", verneinte Rolf,
"hast du sie flachgelegt?" "Das hat noch niemand, vermute ich, und das
Mädchen ist 19". "Eine von der patriarchalen Sexualmoral unterdrückte
junge Frau", kommentierte Rolf. "Ein Mädchen", korrigierte ihn der
Fünfte. "Was?" "Er sprach von einem Mädchen". Eine Schweigepause, die
nicht allen bekam. Während Rolf mit den Tränen kämpfte, klopfte der
Redner dem Fünften von Hinten auf die Schulter und lachte: "Wie war ich,
du alter Kommunist?" "Ich muss neidlos anerkennen: du warst geil", zog
der Fünfte den Hut. Rolf musste sich übergeben, ich ging mit ihm in eine
Bartoilette. "Politik, scheiß Politik, scheiß auf die Politik!" wischte
er sich das Maul ab. Wir tranken in der Bar einen Apfelsaft und fuhren
heim, ohne den Fünften.
2010
1
Der Whisky roch nach Leder und gerösteten Früchten. Kuzma setzte sich
zu uns, kletterte etwas unbeholfen auf den hohen Stuhl. Ich erzählte
gerade von einem Fall des Fremdschämens, als Stoiber Anfang 2007 bei
einer dreistündigen Rede unbemerkt den Versprecher vom amerikanischen
Präsidenten Breshnew produzierte. "Das ist gar nichts" lachte Kuzma. Er
klopfte auf die Zigarettenschachtel, bis eine auf den Tisch fiel. Erwin
reichte ihm die brennende Kerze vom Nachbartisch. Kuzma bedankte sich
und nahm seinen Doppelten unter die Lupe. Er trank den Whisky schnell,
es hätte auch Vodka sein können.
Ich machte es mir bequem, ließ den Whisky im Glas zirkulieren, roch an
ihm und dachte, ich sei zu betrunken, um dieses Gefühl, das ich bei
Stoibers Versprecher empfand, Kuzmas Erzählung folgend empfinden zu
können. "Er hieß Sebastian. Er heißt immer noch Sebastian, tot ist er ja
nicht. Er hasste seinen Namen, wie vermutlich jeder Stotterer seinen
Namen hasst. Die Wahrscheinlichkeit lag bei 0,8 dass er sich mit
Se-se-sebastian vorstellte. Etwas seltener sagte er S-s-s-sebastian zu
sich, aber es kam auch vor, dass er, hochmütig lächelnd, die erste Silbe
seines Namens ausgesprochen zu haben, dann mitten im Wort stotterte:
Seba-ba-bastian". "S und A sind gemein, aber auch F", so ich. "K, B und D
sind hart, aber nicht so listig. Bei denen weiß man ja, dass man sie
nicht packt, und findet Synonyme, die mit anderen Buchstaben beginnen".
"Also kam der Sebastian zu diesem Klassentreffen, setzte sich still in
die Ecke, knabberte ein Bisschen, trank ein Bisschen, wollte sich schon
verabschieden, da kam dieses Mädchen. Sie hieß wie die Kidman,
Michelle". "Nicole", so Erwin. "Und sie guckte so, wie eine
arrogant-verführerisch guckende Michelle Kidman". "Nicole". "Ach ja,
Nicole". Kuzma rief den Kellner, ließ sich noch einen Doppelten bringen.
"Er war schon sehr lange in sie verknallt. Natürlich hatte er sie
niemals angesprochen. Als er gehen wollte und in der Tür stand, da
packte sie ihn am Arm und stellte ihm eine Small-Talk-Frage.
Aufgefordert zu reden, sprach er fließend. Übermut überkam Sebastian. Er
begab sich auf ein Eis, so dünn, wie die Figur von Michelle. Er
übernahm die Initiative, gab ihr einen Drink aus und fragte sie, ob er
sie nach Hause begleiten dürfe. Sie war überrascht, denn Sebastian war
schüchtern, aber sie war einverstanden. Sie gingen nach Draußen.
Sebastian zitterte, wollte sich aber nichts anmerken lassen, und
zitterte umso mehr. Er versuchte, sein Sprechen zu kontrollieren, aber
das Stottern kam in jedem Satz mehr und mehr in den Wortfluss. Die
Minute, die ihm vergönnt war, bei sich zu Hause sein Fahrrad abzustellen
- er hatte sein Fahrrad dabei, und somit etwas zum Festhalten -, die
nutzte er, um durchzuatmen und etwas Kleines in die Hosentasche zu
stecken."
Erwin hustete. Kuzma zündete eine Zigarette an und fuhr fort: "Nun,
ohne Fahrrad, war er noch nervöser, konnte seine Sätze nicht mehr
beenden. Als er eine Frage mit Ja beantworten wollte, stotterte er beim
Ja und sprach nach dem halben J nicht weiter. Michelle lud ihn ein, bei
ihr zu Hause etwas zu trinken, und nebenbei die Hausaufgaben in
Mathematik und Chemie für sie zu machen. Da war Sebastian wieder
souverän und erledigte alles routiniert in zehn Minuten. Michelle ging
in die Küche. Sie kam ins Wohnzimmer zurück, und da kniete Sebastian
mitten in ihrem Wohnzimmer und hielt etwas Kleines in der ausgestreckten
Hand. Er begann: Ih-i-i-i-i... Michelle sah den Ring, tat so, als sähe
sie ihn nicht. Sie setzte sich an den Tisch und wartete. Er, rot wie
eine Erdbeere, versuchte es diesmal mit Mh-m-m-m-mi-mi... und kroch auf
Knien auf sie zu, er wollte den Ring ja nicht der Luft überreichen. Sie
versuchte ihn zu ignorieren, und er sah nur kurz in ihre Augen, wonach
er aufsprang, sich auf das Sofa warf, die Augen schloss, fünf Sekunden
bewegungslos verharrte, wieder aufsprang und murmelte, er sei
eingeschlafen und wo sie so lange war. Sie sagte nichts. Er äußerte die
Absicht, nach Hause zu gehen, sie begleitete ihn zur Tür. Als sie seine
Hand an der Türklinke berührte, nahm er all seine Verzweiflung zusammen,
schraubte den Kopf durch die Luft zu ihr, machte den Kussmund. Sie
erschrak und driftete von ihm weg, fuchtelte mit den Händen in der Luft,
sich schützend, und er fuchtelte auch mit seinen Händen, wobei er
wirres Zeug murmelte und wie ein Irrer in schnellen Zuckungen mit dem
Kopf schüttelte".
Erwin nahm die Kerze vom Nachbartisch und zündete Kuzma die nächste
Zigarette an. Alle schauten auf Kuzma, aber der betrunkene
Germanistikstudent war fertig mit seiner Rede. "Was ich als Chemiker
nicht verstehe" , fing Erwin an und beendete den Satz mit wirrem Unfug.
Das Fremdschämen hatte vollends Besitz von ihm genommen, und ich
unterbrach ihn, weil er mit den Blicken darum bat. "Woher weißt du denn,
dass es sich genauso zugetragen hat?" fragte ich. "Sein Nebenfach ist
Germanistik. Er sitzt oft neben mir. Verarbeitet, was er erlebt, in
Kurzgeschichten, und gibt sie mir zum Korrekturlesen". "Ist er
Legastheniker?" "Er tut manchmal so, - das ist sein Vorwand, um mir
seine Geschichten zum Lesen zu geben. Er kann es niemandem erzählen,
aber ist furchtbar einsam. Und ich tu so, als wären sie fiktiv,
korrigiere sie, gebe sie ihm, und er bedankt sich für die Korrektur,
wobei ich weiß, wofür er in Wahrheit dankbar ist. Dafür, dass jemand ihn
wahrnimmt".
Ich trank meinen Whisky und wir gingen nach Draußen. Kuzma griff nach
der Schachtel - keine Zigaretten mehr drin. Wir gingen an einem Kiosk
vorbei, dort arbeitete Michelle. "Ein G-g-gruss von Se-se-sebastian",
scherzte Erwin. Michelle wurde rot wie eine Erdbeere und schlug das
Fensterchen zu.
2
Kuzma schlich an Erwin heran und erschreckte ihn. Ich schmunzelte. Als
Kind hatte ich eine Verschwörungstheorie, welche besagte, dass ich zu
stottern begann, nachdem ein Mädchen mir laut ins Ohr geschrieen hatte.
Erwin schlug vor, in ein Lokal zu gehen, in dem man sich zum Flirten
traf. Da die anderen Bars alle zu waren, kam ich mit. Ich setzte mich in
die Ecke, schimpfte über das Nichtvorhandensein schottischer Whiskys
und bestellte mir ein dunkles Weizenbier. Es herrschte Rauchverbot, aber
das betrübte weder Erwin noch Kuzma, da der Kauf einer weiteren
Zigarettenschachtel vor einer halben Stunde von mäßigem Erfolg gekrönt
wurde.
Zwei junge Frauen setzten sich zu uns in die gemütliche Ecke. Erwin
mimte Sebastian, daraufhin wandten sie sich vom gutaussehenden Erwin ab
und Kuzma und mir zu. Kuzma sagte höflich, wir würden auf unsere
Freundinnen warten, nur Erwin wäre Single. Sie gingen. Erwin lachte
zuerst. Sie unterhielten sich mit einer anderen Gruppe, lachten, zeigten
auf unsere Ecke, kamen aber wieder, als sie merkten, dass Erwin sich
einen Scherz erlaubt hatte.
"Ich war also mit Ron und zwei anderen werdenden Lehrern, deren Namen
ich nich mehr weiß, auf dieser Geburtstagsparty" erzählte Kuzma, "Alle
Damen waren sofort um Ron versammelt, er war witzig, geistreich,
charmant, malte Bilder, schrieb Theaterstücke - eins davon führten wir
gestern wieder auf, schade, dass ihr nicht da wart - , aber die Damen
interessierte erwas Anderes. Das sei alles doch nicht die Wahrheit,
meinten sie. Wie ist Ron denn in Wahrheit so? Das erfuhren sie, als er
seinen epileptischen Anfall hatte. Das befriedigte sie zutiefst, und die
Herren noch tiefer, denen sich die Damen wieder zuwandten". "Was ist
mit dir?" fragte eine der jungen Frauen Kuzma. "Du bist doch normal,
oder?" Kuzma lachte, sagte aber nichts. Ich erzählte eine alte
Geschichte, vielleicht aus dem Jahr 1989: "Es war Kasachischunterricht
und ein Junge musste nach Vorn gehen und die Vokabeln aufsagen. Er sah
nervös aus, riss sich aber zusammen, stellte sich gerade, fand den
Tunnelblick und begann die Vokabeln aufzusagen: Nan - Chleb". "Chleb
heißt auf Russisch Brot", bemerkte Kuzma. "Da stand er eine weitere
Sekunde, zwei, drei, wiederholte: Nan - Chleb, und es verging wieder
eine Sekunde, und noch eine, und er war rot wie eine sowjetische Fahne,
hielt die Spannung nicht aus und begann von Vorn: Nan - Chleb. Und
wieder: Nan - Chleb, bis die Kasachischlehrerin ihn erlöste. Er durfte
sich setzen". "Eine Zwei?" fragte Kuzma. "Nein, keine Zwei. Die Lehrerin
meinte, es hätte an seiner Nervosität gelegen".
Aus dem Lokal, in die frische Winterluft. "Die Beiden waren doch nett?"
fragte Kuzma. "Ich fand sie nicht nett" so Edwin, "ich hätte auch
Sebastian sein können". "Ein Wenig bewundere ich Sebastian. Ich hätte
mich nicht getraut, in diesen Schaumbad der Scham zu steigen" begann ich
zu meinen, aber Kuzma sagte mir die Wahrheit: "Du hast zu früh
begriffen, dass es keinen Sinn hat, krampfhaft zu versuchen, normal zu
sein". Ich schwieg. Hätte ich dieses Mädchen damals a-a-angesprochen,
wäre ich wenigstens wahrgenommen worden. So aber weiß sie nicht einmal,
dass es mich gibt, was für uns Beide letzlich auch besser ist.
3
"Es war Biologiestunde, die Lehrerin stellte eine Frage, ich meldete
mich, stand auf und blieb mit offenem Mund stehen. Eine halbe Minute,
vielleicht länger. Ich versuchte zu sprechen, aber es kam nichts. Die
Lehrerin ignorierte mich daraufhin und fragte einen anderen Schüler".
"Ich hätte das gern erlebt. Ich meine, am eigenen Leib" so Erwin.
"Wieso?" fragte Kuzma. "Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist,
und auch nicht, wie es ist, manisch-depressiv oder schizophren zu sein.
Vor zwei Jahren tippte ich kurz vor der Pfüfung eine SMS, verschickte
sie, ging zur Prüfung. Nach fünf Minuten überkam mich das Gefühl, dass
etwas schwer nicht in Ordnung war. Ich wurde nervös, aber nicht wegen
der Prüfung. Ich schwitzte. Ich nahm die Professoren kaum noch wahr, als
sie mir meine 1,7 gaben. Ich rannte aus der Uni, schaltete mein Handy
wieder ein - das war eine sehr persönliche SMS. Und ich habe sie
ausversehen jemandem geschickt, der... Ich meine, ausgerechnet ihr habe
ich sie geschickt! Ich sah den Boden an, bat ihn, mich zu verschlucken".
"Wir sind wieder beim Kiosk" erinnerte ich Kuzma. "Geh du kaufen. Dein
Gesicht hat sie nicht gesehen".
Ich und Michelle, da war ich gespannt. Ich sagte höflich wenn nicht
sogar zärtlich, ich wollte eine Packung Marlboro. Sie sah mich an und
fragte: "Stotterst du?" Aus dem Aussprechen meines Satzes kam das
keineswegs hervor, also fragte ich nach. Michelle meinte, mein Satz sei
so glattpoliert, und die Augen verrieten es, auch wenn das Mundwerk wie
eine Schweizer Uhr funktionierte. "Nicht mehr so wie früher" sagte ich.
"Ich war früher schön" sagte sie. Sie sah immer noch gut aus, aber ich
verstand, was sie sagen wollte: früher sah sie nicht gut aus, sondern
war schön.
Michelle ging mit uns zum zugefrorenen Fluss, flirtete mit Erwin, und er
mit ihr. Sie bestand darauf, uns in Sachen Trunkenheit einholen zu
wollen, wir gewährleisteten dies. Auf dem Eis sitzend, erzählte sie von
der peinlichen Szene mit Sebastian, merkte aber, dass diese uns allen
bekannt war. "Das war gar nichts" sagte Michelle. "Dennis, mein erster
Freund, wollte, dass ich für ihn strippte. Was ich nicht wusste war,
dass überall hinter Sofas und Schränken seine mit Gucklöchern
bewaffneten Freunde warteten. Ich tat mein Bestes, strippte, stöhnte,
und auf einmal kamen alle aus ihren Verstecken und applaudierten".
"Peinlich", bemerkte Kuzma trocken. Erwin hustete. Wir erinnerten uns,
dass er kürzlich eine Lungenentzündung hatte. Kuzma rief ein Taxi und
fuhr Erwin heim; ich begleitete Michelle nach Hause.
Ich wurde nervöser, als wir gingen, denn ich wurde nüchterner. Ein
Fahrrad hatte ich nicht dabei, nur meine Hausschlüssel, die ich auf dem
Weg hochwarf und fing. Michelle lud mich zu einem Kaffee ein, ich nahm
die Einladung an. Als sie in der Küche verschwand, kniete ich im
Wohnzimmer und streckte die Hand, in der ich etwas Kleines hielt, nach
Vorn aus. Michelle tat so, als sähe sie mich nicht, stellte den Kaffee
auf den Tisch, ging dann aber rückwärts auf mich zu. Ich überreichte ihr
den USB-Stick mit Sebastians Texten. Diese Aktion wurde vor knapp einer
Stunde mittels kuzmasebastianischen Telefongesprächs autorisiert; Kuzma
gab mir den Stick, als er mit Edwin in ein Taxi stieg. Wir tranken
Kaffee, unterhielten uns, ich sah ihre Fixervenen. Ich sah Michelle
nicht wieder, aber Kuzma erzählte mir am nächsten Freitag, dass sie und
Sebastian nun zusammen seien; er dachte über eine Therapie in einem
logopädischen Zentrum nach und sie habe sich in einer Entzugsklinik
angemeldet.
2010
1. Julius (28)
Es war Klassenfahrt, und am Lagerfeuer saßen sie alle, und da kam das
schönste Mädchen vorbei. Das reiche Söhnchen prahlte mit teurem
Spielzeug, der Leichtathlet mit dem Oberkörper, der Dealer mit
Lockerheit und etwas Gras. Julius guckte nach Unten und war sehr nervös.
Das schönste Mädchen konnte sich aussuchen, also dachte es: wer ist
denn hier der Schüchternste, Sensibelste und so weiter, und setzte sich
zu Julius und sie wurden ein Paar. Nein, natürlich nicht. Sie hat das
reiche Söhnchen mit dem genetischen Defekt geheiratet, hat nun zwei
Bälger: eins mit Mukoviszidose und eins ohne Großhirn geboren. Was kann
Julius dafür?
2. Weiße Maus
Schon in der Grundschule wollten die Mädchen neben Julius sitzen, denn
sie dachten sich: wer ist denn der Schönste hier - und das war natürlich
Julius. Julius benahm sich ja wie ein gut erzogenes Mädchen - hatte
Angst, ekelte sich, passte gut auf sein Körperchen auf, ebenso auf sein
Seelchen. Er wollte des schönen Mädchens würdig sein, das ihm irgendwann
über den Weg laufen sollte und wie die anderen Mädchen dachte: welcher
Junge ist denn der Romantischste, Zärtlichste und Geistreichste, ach,
natürlich Julius, und schon damals wurde der Kleine schnell rot und lief
weg. Keins der Mädchen hatte von ihren Jungs nur 5% von dem rausgeholt,
was die eigene Schönheit wert war, sprich, keine war die ihr geschenkte
Schönheit wert.
3. Schabenfutter
Kein Kind will, dass die Tante es küsst, auch der Onkel nicht. Der Opa
ist lieb, aber seine Haut... warum wird das Kind nicht stattdessen von
dieser jungen frischen älteren Cousine am Arm und an der Wang berührt?
Die Oma ist nett aber so fett... Die Türklinken fasste Julius nie mit
der Hand an, er wollte schließlich mit einem Mädchen händchenhalten,
wobei er nur Pfötchen sah und nie Händchen. Das neue langhaarige
feingliedrige Mädchen mit schimmernd weißer Haut kam in den Klassenraum
und dachte natürlich: so, welcher von den Jungs fühlt sich am
Angenehmsten an, wenn er mich fängt und kitzelt? Dachte Julius. Das
Mädchen ließ sich vom Dicken dort begrabschen, der sich nach dem
Pausenbrot nie die Hände wusch. Das Mädchen ist Hure geworden, steht
jeden Abend am Hackeschen Markt, und der Dicke - hat abgenommen - ist
Bankkaufmann und ihr Stammkunde.
4. Julius und Innere Werte
Du fragst, warum sich Julius immer in die schönsten Mädchen verknallte?
Moment, war Schönheit bei dir nicht relativ, war sie nicht
Geschmackssache, lag sie nicht im Auge des Betrachters? Wenn es so ist -
welchen Sinn hat also deine Frage? Julius verknallte sich in die
Mädchen, in die er sich eben verknallte. Seltsamerweise verknallten sich
alle Jungs in dieselben Mädchen, in die sich Julius verknallte. Und
diese Mädchen dachten immer: so, wer von den Jungs hat die geilsten
inneren Werte? Wenn es so war, dann hängt der Wert der inneren Werte
davon ab, wessen Sohn man ist. Nicht wie versaut oder wie blöd oder
gewaltbereit, denn Julius ging ja aufs Gymnasium, wo die guten Mädchen
waren. Sagte ich Waren? Nein, waren sagte ich.
5. Grausamkeitskitzeln
In der Grundschule da war ein Mädchen verrückt nach der jungen hübschen
Lehrerin, welche eines Tages einen rohen garstigen Mann verführte. Das
Mädchen bekam es mit und weinte selbstverständlich und sprach was hast
du getan und ging nie wieder zu der Lehrerin nach Hause zum Spielen wie
früher. Wirklich? Nein, das Mädchen hatte nur ein komisches Kitzeln im
Bauch und spielte weiter mit der Lehrerin. Julius ging zum Schuldirektor
und erzählte ihm, dass die junge Lehrerin kleine Mädchen verführte, und
die Lehrerin flog von der Schule. Dieses sonderbare Gefühl, das du
hattest, was war das, fragte Julius das Mädchen zehn Jahre später. Es
kam davon, dass ich wusste, dass du mich magst, und leiden würdest, wenn
ich weiter mit ihr spiele, sagte das Mädchen.
6. Selbstmordvermeidungsherzkühlung
Julius war in der zehnten Klasse, als eine große Party war, und er
wieder mal in der Ecke stand. Da kam ein Mädchen herein, so niedlich und
süß wie zehn Kätzchen, und fragte sich: so, welcher von den Jungs ist
noch Jungfrau und hat den größten Respekt und die tiefste Ehrfurcht vor
einem Mädchen? Nein, das konnte es nicht sein, denn um danach zu
urteilen, welchen Jungen das Mädchen auswählte, konnte es nur gedacht
haben: so, wer ist hier der frauenverachtendste respektloseste und
widerlichste Eber, dem muss ich unbedingt einen blasen! Julius wurde
später oft Kaltherzigkeit vorgeworfen, worauf er erwiderte: hätte ich
mein Herz nur ein wenig wärmer gehalten, wäre ich längst von einer
Brücke gesprungen.
7. Das egoistische Gähnen
Die Evolution meinte es eigentlich gut mit Julius, und so malte er die
schönen Mädchen im Kopf noch schöner und beachtete die anderen nicht.
Diese aber dachten: so, welcher von den Jungs ist denn an inneren Werten
interessiert... Tatsächlich? Immer, wenn es einem nicht so schönen
Mädchen gelang, so ein richtiges Arschloch noch mit Scheißklümpchen auf
den Arschhaaren ans Land zu ziehen, kündigte es die Beziehung zu seinem
Frauenversteherchen (per SMS oder ähnlich) und freute sich die Titten
aus der Brust. Nächstes Versuch. Die nicht so schönen Mädchen dachten:
wer ist denn den inneren Werten nach der Allerbestensbesteste Junge, am
Wenigsten an Äußerlichkeiten interessiert? Und sie dachten sich ein Loch
- nein nicht in Julius - in den leeren Stuhl, auf dem dieser Niemand
saß, der überhaupt nicht an Äußerlichkeiten interessiert war.
8. Erich (30)
Erich liegt auf dem Sofa und träumt vor sich her, während die Sonne zu
einem für andere romantischen Sonnenuntergang langsam dahinsinkt. Seine
Gedanken sind schwer: nie, nicht nur ein einziges Mal. Dann springt er
auf: aber Erich, wie viele Männer, ja wie viele Menschen denn überhaupt
waren in ihrem ganzen Leben mal mit einer schönen Frau zusammen? Für die
Frauen ist es sicherlich leichter: die Mädchen halten miteinander in
der Schule Händchen, ohne sich für die Jungs damit unattraktiv zu machen
(umgekehrt scheint es verdammt unattraktiv zu sein, dem Erich übrigens
genauso wie den Mädchen), - und nach der Schule wer weiß? Aber komm
schon, Erich, wie viele Männer? 3%? Zu hoch geschätzt? Aber nur ein
einziger Kuss! Hm, dann wohl noch weniger. Es gibt mehr Ungeküsste als
Ungeleckte. Fürs Lecken kann man eine bezahlen, aber wo kann man Küsse
kaufen? Bei denen, die Sex verkaufen, will man ja nicht: die halten
einen solchen Wunsch - einfach schön zärtlich küssen, alles bleibt an -
für genauso pervers wie Anpissen oder was weiß Erich. Er zieht sich eine
warme Jacke an und geht hinaus. Bald 30, denkt Erich leise vor sich
hin. Bald 30, und immer noch nichts, kein einziges Mal.
9. Gute Idee
Erich steht ja auf schöne Frauen. Sei doch nicht so engstirnig, sagt
Jürgen. Erich lässt sich überreden, geht mal wieder aus. Guck doch, sagt
Jürgen. Warum lächelt er, denkt Erich, und wo soll ich hingucken? Erich
langweilt sich. Willst du wieder gehen, fragt Jürgen, und fügt
vorwurfsvoll hinzu: du machst dir alles selbst kaputt! Erich geht ein
Licht auf: du hast Recht, Jürgen. Jürgen lächelt und guckt zu den
mäßigen Damen hinüber. Erich folgt aber überhaupt nicht seinem Blick,
weshalb Jürgen ihn irritiert anstarrt. Es muss doch nicht gleich Sex
sein, feiert Erich seine Horizonterweiterung, und es muss auch nicht
Liebe sein, - es wäre zum Beispiel schön, mit einer schönen Frau
befreundet zu sein, am Besten mit einer Lesbe, da muss man sich den
Brechreiz nicht verkneifen, wenn man ihr auf die Lippen guckt. Jürgen
schüttelt mit dem Kopf: Erich, ist es denn dein Ernst? Erich weiß, wie
Jürgen es meinte, schweigt ein Bisschen, guckt dann zu den Damen rüber,
seufzt und sagt: gut, vielleicht nicht befreundet sein, aber eine zu
kennen, so als lockere Bekanntschaft, das wäre auch schön.
10. Erich muss etwas beichten
Jürgen erzählt von einem knackigen Po. Ärsche, das mag Jürgen. Und
Bernd, der mag Brüste. Je voller umso besser. Genüßlich erzählt er von
den Brüsten seiner Neuen. Erich will auch etwas sagen, weiß aber nicht,
wie er anfangen soll. Vielleicht: Ein Freund von mir... Aber wer? Wen
soll ich auf Nachfrage nennen? Vielleicht: Ich kenne jemanden... Ja,
und? Warum muss ich ausgerechnet von ihm erzählen? Oder: Neulich war ich
amüsiert, als ich gelesen habe, dass es einen sehr interessanten
Fetisch gibt... Hört sich komisch an. Warum nicht: Im Bus hörte ich
gestern Abend, wie jemand sagte, er sei ganz verrückt nach... Warum bist
du so rot geworden, fragt Jürgen. Stimmt etwas nicht, fragt Bernd. Es
gibt Fetische, die sind so richtig durchgeknallt, aber komischerweise
nicht peinlich. Erich hat es andersrum erwischt. Alles muss stimmen,
sagt Erich, alles bis ins kleinste aber auch klitzekleinste Detail.
11. XS
Erich mag kleine, zierliche Frauen. So dünn wie möglich, aber nicht
magersüchtig. Keira Knightley findet er hässlich - sie hat, sagt er, zu
breite Knochen. Erich, sagt Bernd immer, so eine kannst du doch gar
nicht... Ich will sie auch gar nicht ..., sagt Erich immer, ich will sie
verwöhnen, auf Händen tragen, auch wörtlich. Ich kann mit keiner Frau
was anfangen, die nicht kochen und putzen kann, lacht Bernd. Erich
findet sowas frauenfeindlich. Letzte Nacht hatte Erich einen Traum: er
sah im Vorhof zu seiner Studierhölle eine zierliche süße Frau, sprach
sie an, nahm sie mit nach Hause. Dann wusste er aber nicht mehr, was er
tun oder sagen sollte, bedrohte sie subtil, ja fast schon zärtlich,
fesselte ihre Hände und Füße, trug sie auf sein großes weiches Bett. Er
setzte sein diabolisches Grinsen auf, machte Andeutungen, dass er sie
gleich küssen würde, dann ihren BH ausziehen und ihre hübschen kleinen
Brüste berühren, hatte für alle Fälle noch ein S/M-Peitschchen dabei.
Zärtlich, fast schon liebend, flüsterte er ihr zu, er könnte ihr
vielleicht weh tun, aber sie guckte ihn nur an wie eine Kuh auf der
Wiese und donnerte ihm schließlich ins Gesicht: "Fick mich endlich und
lass mich gehen, ich muss heute Abend noch die Küche sauber machen!" Da
wachte er auf und hatte so ein Gefühl, das er immer hatte, wenn ihn im
Traum diese schrecklichen großen haarigen (oder auch nackten schwarz
glänzenden) Monster verfolgten.
12. Deckel drauf
Der Spruch, dass jeder Topf seinen Deckel finde, passt rein
physiologisch eher zu Frauen, meint Jürgen. Es ist Hohn, weiß Erich. So
ist es, Leute, kommt Bernd mit dem Bier an den Tisch, wer in der Schule
keine gekriegt hat, bekommt nie wieder eine Chance. So schlimm ist es
doch nicht, wiegelt Jürgen ab. Erich nickt und schüttelt mit dem Kopf.
Wen kennst du denn, der in der Schule keine hatte und später eine
gekriegt hat? Jürgen denkt nach, er hat viele Freunde: der hat eine
Flüchtlingsbraut gekauft, der da geht regelmäßig ins Bordell, der
bekommt reihenweise Körbe in der Disco, dieser hat es mit
alleinerziehenden Müttern versucht, was immer am Ex gescheitert ist.
Siehst du, freut sich Bernd. Was soll ich jetzt machen, verzweifelt
Erich nach dem vierten Weizen. Trink ein fünftes und bagger die da an,
lacht Bernd. Erich zieht die Augenbrauen hoch, behält sie drei Sekunden
in der Luft und sagt dann nichts. Warum kann ich mir die Frauen nicht
schöntrinken, denkt Erich und bestellt sich das fünfte Weizen.
13. Jürgen auf der Couch
Sex, sagt Erich, beziehe seinen eigentlichen Reiz aus der Entjungferung.
Quatsch, lacht Jürgen. Du guckst doch Pornos, so Erich. Ja, ich bin
doch nicht krank, so Jürgen. Dann sag mir, warum die Typen am Ende den
Frauen ins Gesicht spritzen. Jürgen weiß keine Antwort. Erich weiß: bei
diesen Stuten setzt keiner mehr voraus, dass sie jungfräulich sind.
Logisch, meint Jürgen, wenn sie in einem Porno mitspielen. Aber ihr
Gesicht, meint Erich, dieses geschminkte geputzte Gesicht vermittelt
immer eine Illusion der Unschuld, - und du, mit dem Willi in der einen
und mit dem Taschentuch in der anderen Hand, identifizierst dich mit dem
Typen. Ja, sicher, sonst würde ich nicht gucken, versichert Jürgen. Und
als er ihn am Ende rauszieht und ihr ins Gesicht spritzt, rufst du da
nicht innerlich: Erster! Jürgen findet es erstmal plausibel, sagt aber:
am Anfang kommt immer der BJ - nix Gesicht. Gut, sagt Erich, was denkst
du dir denn am Schluss? Na ja, gut, also, - gibt Jürgen zu - ich denke
da immer, dass die andere, größere Frau ihr die Augen aufhält und
lüstern flüstert: ja, komm, spritz in ihre süßen lieblichen Augen! Auch
wenn keine zweite Frau im Film dabei ist, fragt Erich nach. Dann denke
ich mir eine dazu, sagt Jürgen.
14. Orgien statt Sorgen
Mit nicht so schönen Frauen hat Erich nie Probleme gehabt, wenn es darum
ging, sie anzusprechen, oder sich mit ihnen ganz normal über etwas
Bestimmtes zu unterhalten. Smalltalk kann Erich recht gut, besonders
nach zwei Bier (der mit dem Asperger-Syndrom, das war der
elitär-arrogante Julius; Erich ist bloß ein Wenig schüchtern). Nun
spricht er mit einer Studierkollegin (er kann, wie der Autor, das
schwül-inzestuöse Wort Kommilitone nicht ausstehen) in der S-Bahn auf
dem Weg zur Uni: ich schaffe es einfach nicht, sie anzusprechen, denke
immer zu viel darüber nach, trau mich am Ende nicht, und wenn doch,
kommt kein Wort aus mir raus. Deine Sorgen möcht ich haben, erwidert sie
höhnisch. Sie lebt mit einem Doktoranden zusammen, hat einen
zweijährigen Sohn. Das war ironisch gemeint, sagt Erich. Klar, sagt sie,
oder bist du doof? Und wenn ich dir sage, dass ich deine Sorgen haben
möchte, dann meine ich es nicht ironisch - verstehst du jetzt? Sie
schweigt, dann sagt sie: naja, so ironisch wie es in deinen Ohren
klingt, meinte ich es auch nicht: du kommst um vier Uhr morgens nach
Hause, musst keine Windeln wechseln, dich um das Chaos nicht kümmern,
nicht an die Einkäufe denken, die Krippe, der Kinderarzt, meine Eltern,
seine Eltern, die Geburtstage nicht vergessen, sonst weiß du nicht wohin
mit dem Balg falls du zwei Tage für dich allein sein willst, - Single
sein ist doch schön; man lernt es erst zu schätzen, wenn man keiner mehr
ist. Erich freut sich den Arsch ab, den ganzen Tag lang: Single sein
ist also doch besser - und das hat nicht ein Mann wie er gesagt, der
sich etwas schönreden wollte, das er nicht ändern konnte, nein, eine
Frau hat das zu ihm gesagt. Geil, denkt Erich, und weiter: welche
Verpflichtungen habe ich heute eigentlich? Oops, gar keine. Schön, ich
fahr mal ans Meer, will zwei Tage für mich allein sein.
15. Wegen dem Neger
Voll in der Kneipe, aber Bernd hat vor Stunden das alte niedrige Sofa in
der hellgrünen Ecke reserviert. Jürgen freut sich und sagt: Erich, komm
schon, freu dich, wir haben einen saugeilen Platz erwischt! Als sie
sich setzen und drei Jim Beam mit Cola bestellen, setzt sich ein
langhaariger zotteliger Typ im selbstgestrickten grünen Pulli dazu: Oh,
ist das die grüne Ecke? Habt ihr gelesen, 28%! Jim Beam mit Cola ist was
für Schwuchtel, lacht der Kellner, ein Türke. Wer eine Schwuchtel
bedient, fängt Bernd an, aber der ungebetene grüne Gast unterbricht ihn
und bestellt eine Bionade.
Als Nächstes bestellen die Drei Jim Beam ohne Cola - da weiß der
Kellner, was die erste Bestellung sollte: eine Limo, ein Durstlöscher.
Guck, der Neger da trinkt diesen französischen Apfelwein, wie heißt
er... Cidre, sagt der Kellner, wollt ihr auch? Der ungebetene grüne
Gast unterbricht ihn: was fällt euch frauenfeindlichen Rassisten ein?
Geht sofort zu ihm und entschudigt euch! Der Türke darauf in
Türkdeutsch: Hast du ein Problem, du Schwuchtel? Der eben noch Empörte
entschuldigt sich höflich, - er hält den Türken offenbar für einen
Japaner, macht diese alberne Verneigung.
Guck, sagt Jürgen, der Neger bestellt sich jetzt einen Negerkuss - den
kann er doch auch zu Hause haben. Es ist ein Eis, weiß Erich. Der grüne
Freund, verzweifelt (und nun auch jimstens gebeamt): Was seid ihr für
Menschen? Eine Dicke kommt vorbei, gibt ihm einen Kuss auf die Stirn.
Deine Frau, fragt Bernd. Er nickt, Bernd lacht, steckt auch Jürgen an.
Erich - noch nicht betrunken genug - ist geistig abwesend. Ihr sitzt
jeden Abend irgendwo rum, ihr Säufer, fängt der Beleidigte an. Hast du
ein Problem mit den Jungs, kommt der Kellner zurück und bringt nun vier
Weizen. Ich betreue ehrenamtlich Flüchtlinge, gehe jeden Sonntag gegen
Atomkraft demonstrieren, setze mich für den Bau einer Moschee ein,
engagiere mich für eine Quote von horinzontal gechallengten Frauen in
Film und Werbung, - und ihr!? Und wir sitzen hier und saufen, sagt
Bernd, absichtlich mit türkischer Aussprache - schallendes Gelächter.
Als der grüne Freund fast schon heult, fragt ihn Jürgen: man gönnt sich
ja sonst nichts, was gönnst du dir denn, wenn du dir mal was gönnst?
Völlig betrunken erzählt der ungebetene grüne Gast, wie er vor drei
Monaten nach Bangkok reiste und für EUR 23000 ein vierzehnjähriges
Mädchen zu Tode folterte: kennt ihr diesen Film, Hotel oder so, und
diese Thai-Mädchen sehen ja viel jünger aus als sie sind, - ich hab mir
so vorgestellt, es wäre die Leonie aus der 4. Klasse, die mich damals
hänselte... hey, wo geht ihr denn alle hin, bleibt hier, hey...!
16. Die Begegnung
Erich schlich oft durch Passagen, Arkaden, stellte sich in die offenen
Zeitschriftenläden gleich neben den Kosmetikstudios, um Blicke auf weiß
nur Erich was zu erhaschen. Er wurde schnell rot dabei, weshalb er immer
Pausen einlegte, in denen er sich den Zeitschriften widmete. Nun aber
sah er einen Mann in seinem Alter in eine schicke Boutique hineingehen,
ein kleiner Schlanker mit vollem schwarzen Haar, der sich von einer
hübschen Frau über ein Kosmetikprodukt ausführlich beraten ließ.
Schamrot schlich Erich hinzu - da war dieser Blick der Frau, als er
wusste nur er wo hinguckte, und Erich wollte am Liebsten im Erdboden
versinken, - der androgyne Teufel grinste breit und ließ sich das teuer
Eingekaufte einpacken.
Komm, Sebastian, rief er Erich zu sich, wandte sich dann zu der
Verkäuferin: diesen Kretins macht man einen großen Gefallen, wenn man
sie abtreibt, aber seine arme Mutter hatte wohl zu viele Schnulzen
geguckt. Komm, du Hund! Erich folgte Julius mit gesenktem Kopf in eine
gehobene Bar. Auch dort behielt Julius seine eleganten schwarzen
Handschuhe an, die wunderbar zu seinen Schuhen und zu seiner Haarfarbe
passten. Was ist dein Problem, fragte er Erich, warum treibst du dich
rundherum rum und gehst nicht rein? Draußen wunderten sich Bernd und
Jürgen - was machte Erich in dieser Schickimickibar? Wer sind die
Deppen, fragte Julius.
Erich hat nun seine Nummer. Soll er ihn anrufen, diesen
Zwangsneurotiker, der sich offenbar vor Türklinken ekelt? Erich fühlt
sich von Julius ertappt, vielleicht hat er denselben Fetisch. Er greift
zum Hörer und seine Hände zittern, so als ob er eine hübsche Frau
anrufen würde. Macht er´s? Macht er´s nicht? Bernd schmeißt heute Nacht
eine Party - soll Erich hingehen? Warum, denkt er, gebe ich mich seit
Jahren mit Leuten ab, die so viel dümmer und plumper sind als ich?
Dieser schwarze Schwan ist verlockend. Durch das Androgyne wirkt dieser
Bastard nur noch düsterer, gefährlicher, - es ist eine elegante
Männlichkeit, die Erich als Kind gern zum Vorbild gehabt hätte. Leider
wuchs er unter Leuten wie Bernd und Jürgen auf, - wird der Sog der Gosse
obsiegen?
2011