Dienstag, 21. Mai 2013

Depressionismus




Elendig kauerte der Angeklagte auf seinem Stuhl, den Blick nach unten, und die zitternden Arme um sich selbst geschlängelt, um so viel wie möglich von dem, wessen er sich schämte - seiner selbst, - vor den streng urteilenden Blicken zu verstecken. Als der Staatsanwalt ihn einen Mörder nannte, da überkam ihn ein wohliger Schauer, er setzte sich gerade hin, legte die Hände auf den Tisch und schnitt ein Paar Grimassen, bevor er mit sich entschuldigender Stimme sprach: "Ich - ein Mörder? Hören Sie auf zu schmeicheln!"


 2000

Freitag, 17. Mai 2013

Der Achte Fünfte





1. Wer ist Deutschland


"Sozialer Aufstieg", murmelte Peter, "das bedeutet, dass es mindestens zwei Klassen von Menschen gibt. Eine höhere Klasse muss es geben, sonst könnte man nicht aufsteigen". Des Lachens konnte ich mich aber erst nicht enthalten, als Jürgen meine: "Klassengesellschaft, auch bekannt als Faschismus". Wir fuhren zu einer Veranstaltung nach Hamburg, Zug, zweite Klasse. Ein Linksextremist lud alle progressiven Kräfte des Landes ein, um den achten Mai auf seine besondere Art zu begehen; es gierte mich neu, denn so vertraut mir der Sowjetkommunismus auch war, war mir der westliche Linksextremismus immer ein Stück befremdlich.

"Ich war heute in einem Chat", berichtete Rolf, "Cocaine war mein Nickname. Eine junge Chatterin sagte: Hitler ist eine fette Sau. Ich berichtigte sie: Adolf Hitler (20.4.1889 – 30.4.1945) war ein eher schlanker, mittelgroßer Mann. Sofort wurde die Verbindung unterbrochen; ich wurde des Chatrooms verwiesen, weil ich Hitler sein Menschsein zugestand. Hitler darf nicht ein Mensch genannt werden; in Deutschland ist es strafbar, zu sagen, Adolf Hitler gehörte zur Spezies homo sapiens sapiens". "Nur ein Beispiel unter unzählig vielen", meinte Jürgen, "Und was denkt das junge Mädchen? Wahrscheinlich, dass der Chatter Cocaine ein Nazi ist. So bildet man sich in Deutschland seine Meinung", schleuderte Peter entgegen. "Apropos Meinungsbildung", wachte der fünfte im Bunde auf, "die Bild-Zeitung, die ich wenn kaufen würde, dann um sie im Zug auf dem gegenüberliegenden Sitz zu platzieren, damit ich meine Füße auf den Sitz legen kann, ohne diesen zu verschmutzen". "Wo in Deutschland gibt es so schöne Pfützen, dass die Schuhe dreckig werden?" war mir neu. "Verschmutzen - das ist die Funktion der Bild-Zeitung", unterbrach mich Jürgen, "sie ist ein Triumph der Dummheit im Lande der Dichter und Denker". "Viereinhalb Millionen Vollidioten „lesen“ jeden Tag die Bild-Zeitung, die zweitpopulärste Tageszeitung in Deutschland erreicht keine Million von Lesern", war Peter aus der Statistik klug. "Nun, wenn die Deutschen so blöd sind, wie sie nun mal sind, dann wundert es keinen vernunftbegabten Menschen, dass diese Nation den Holocaust verbrochen hat, dass Millionen Deutsche immer noch vom Dritten Reich schwärmen und es sich zurück wünschen", wurde der Fünfte etwas konkreter, vielleicht um zu erinnern, wo wir hinfuhren. Peter nicht faul: "Blöde kann man leicht manipulieren, und der Psycho aus Braunau konnte die Massen nun mal begeistern". Jürgen klagte: "Der Krieg ist nun sechzig Jahre her, und er ist allein schuld. Niemand fühlt sich schuldig, alle jammern, der Österreicher hätte sie verführt, hätte Deutschland ins Verderben gestürzt, und hassen ihn mehr dafür, dass er den Krieg nicht gewonnen hat, als dafür, dass er ihn, wie sie alle auch, gewollt hat".

Wir stiegen in Uelzen um, ein für meine Begriffe dekadenter Bahnhof, dörflicher und kümmerlicher, als für gleiches Geld mit deutscher Technologie machbar gewesen wäre. "Vergiss die Integration", meinte Jürgen zu mir, "bleib wie du bist, werde bloß nicht wie die Deutschen". "Wie bin ich denn?" fragte ich in die Runde. "Wie sind denn die Russen so? Unkompliziert, großherzig, optimistisch, saufsam, etwas prahlerisch, aber sehr sympathisch", lobte mich Peter. "Ich mag es aber verkopft, diskret, nüchtern, schüchtern, bescheiden, misanthropisch", stellte ich unverblümt fest. Peter kochte: "Solche Migranten wie dich zu tolerieren, ist am Schwersten, ihr wollt die besseren Deutschen sein, als die verdammten Deutschen!" "Ich bin nicht toleranzbedürftig", bemerkte ich. "Assimiliert?" sah mich Jürgen angewidert an. "Deutschland hat dich verdorben. Du hättest in Russland bleiben sollen", meinte Rolf. "Sprecht ihr ihm das Recht ab, hier zu sein?" lachte der Fünfte gut. "Auf solche Messerstecher in den Rücken können die Linken in Deutschland verzichten!" rief Peter. "Aufgrund welcher Lebensleistung spielst du dich so groß auf?" interessierte mich sehr. Es brachte mir ein unappetitliches Schimpfwort ein. "Deutschland, in das ich gekommen bin, das sind nicht die dicken Säue, die in den Wohlstand, für den sie nichts können, hineingeboren wurden, ihr Leben lang nichts getan haben, außer ihr Land zu verteufeln, und meinen, immer und überall im Recht zu sein, nur weil sie links sind", blieb ich ruhig. "Schon klar, du bist in das Land Goethes und Schillers gekommen", war Rolf beleidigt. "Komisch, dass dieses Land, das außer Künstlern auch Wissenschaftler hervorbrachte, die besten der Welt, nie nach diesen benannt wird - oder hört man einen je sagen: das Land Einsteins und Plancks?" schraubte ich die Beleidigungsspirale weiter fort. "Nicht unsere Schuld, dass der Kommunismus bei euch schiefgelaufen ist und ihr deshalb so verbittert seid!" rief Peter mir zu, und da war schon die Endhaltestelle Hamburg-Altona.



2. Du bist der Holocaust


Ein Hinterhof irgendwo in Hamburg, wir kamen an. Ausländisches Bier wurde gereicht, auf die Nachfrage worauf ich die Antwort bekam: "Kann sein, dass deutsches Bier besser schmeckt, aber es ist deutsch". Auf einer improvisierten Bühne hielt der Gastgeber bereits seine Rede: "Immer wieder wollen deutsche Politiker einen Schlussstrich ziehen. Sie sind Faschisten. Sie gehören allesamt ins Gefängnis. Hitler ist mir gar sympathisch, wenn ich sehe und höre, wie die Deutschen zu ihrer Geschichte stehen. Er ist mir sympathischer, als eine dreiundachtzigjährige Frau, die seinen Holocaust, die ihren Holocaust still mitgetragen hat, für die NSDAP gestimmt hat, deren Mann an der Ostfront uns Leben kam. Hitler ist ein Mann, wie es aussieht. Er trägt die Verantwortung. Alle schütteln ihre Schuld ab, alle wollen nichts gewusst haben, alle sind Opfer gewesen. Das Bekenntnis zu Hitlers Alleinschuld am Elend der Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert ist das höchste Heiligtum des deutschen Volkes". Ich war angesichts einer solch brennenden Hitlerverherrlichung nicht wirklich überrascht, kannte sie aber bisher nur von Rechtsextremisten.

"Ich bin stolz, kein Deutscher zu sein!" rief der Redner unter tosendem Beifall in die Menge. Nun war ich gespannt, zu welcher Nationalität er sich bekennen würde. "Die Deutschen sind eine Schicksalsgemeinschaft von scheinheiligen Pseudohumanisten, eine Irrenanstalt in politischer und moralischer Hinsicht", hörte ich weiter zu. Rolf setzte sich zu mir, sein Ärger war vergangen. Jürgen und Peter setzten sich demostrativ dorthin, wo die geographische Entfernung zu mir am Größten war. Der Redner donnerte indes weiter: "Alles, was je einer über die Deutschen gesagt hatte, stimmt, solange es nichts Gutes ist. Es hat seinen Grund. Es gibt Namen, die wie Links im Internet auf den Grund hinweisen, sehr präzise, sehr einleuchtend. Natürlich nicht für blöde Schwachköpfe, die die Bild-Zeitung lesen, aber auf deren intellektuelles Niveau würden uns Hitler und ich niemals begeben. Sepp Herberger. Konrad Adenauer. Die Stunde Null. Mit der Gründung der BRD wurde die Welt erschaffen, davor war nichts. Alles schnell verdrängen. Wir sind Fussball-Weltmeister, wir sind ein Wirtschaftswunderland, wir sind alle 1949 auf die Welt gekommen, mit dem Davor haben wir nichts zu tun". Rolf sah mich fragend an, ich nickte. Rolf fragte zur Sicherheit nach: "Hier hat er doch Recht, oder?" Ich schwieg, der Redner sprach: "Ach, es hat einen Krieg gegeben? Welchen Krieg? Davon steht in der Bild-Zeitung nichts. Holocaust? Was für ein dreckiger Jude hat sich dieses perverse Wort ausgedacht? Was bedeutet es überhaupt? Ich sags dir, du Hurensohn. Es bedeutet deine Mutter. Es bedeutet: dein Vater, dein Grossvater, deine Grossmutter, alle deine Onkel, alle deine Tanten, und wenn das schon alles ist, was es dazu zu sagen gibt, dann kann ich dir nur gratulieren. Gut weggekommen, noch mal Glück gehabt, du Nazischwein. Für die Meisten gilt aber: Du bist der Holocaust. Wir sind ja im Jahre 1949. Noch vor 4 Jahren hattest du jüdische Kinder zu Tode getreten, polnische Frauen erschossen; und nun willst du davon nichts wissen, nun ist der Hund aus Braunau allein an Allem schuld, nun sind die Russen wieder die Bösen, und vielleicht hast du der freien Welt sogar etwas Gutes getan, als du vor 8 Jahren mit deinen Kameraden - die auch am neunten Mai 45 plötzlich nichts mehr wussten, sich an nichts mehr erinnern konnten, ein zerstörtes Deutschland vorfanden und Opfer einer weltweiten Verschwörung gewesen sind, nicht wahr - russische Familien in Ställe eingepfercht und sie angezündet hast, beim lebendigen Leib verbrannt, die Welt von den Untermenschen gesäubert". Vielen Zuhörern blieb die Luft weg, der Redner setzte noch den Deckel drauf: "Jeder wusste was er tat, jeder wollte es, jeder tat es gern. Dummheit ist keine Entschuldigung, Feigheit ebenso wenig. Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust".

Pause. Die Gemüter kochten, und es war schwer abzulesen, ob vor Zustimmung oder vor Ablehnung. "Adorno war der Meinung, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch", setzte sich der Fünfte zu uns. Rolf nickte bejahend. "Nach Auschwitz Fussball-Weltmeister zu werden? Nach Auschwitz mit Schwäbisch Hall Eigenheime bauen? Nach Auschwitz „Wetten Dass“ gucken?" fragte der Fünfte. "Grausam", meinte Rolf. "Gut, das Leben geht weiter, und die Kinder können für die Gräueltaten ihrer Eltern nun mal nichts", wurde der Fünfte rhetorisch, "aber nach Auschwitz die NPD wählen? Nach Auschwitz in die DVU eintreten? Nach Auschwitz Nazi sein?" "Unverzeihlich", urteilte Rolf, "alles andere, als die Betreffenden mit dem Tode zu bestrafen, ist eine bodenlose Frechheit... eine Unverschämtheit, die das deutsche Volk für immer moralisch disqualifiziert".
Wir drei gingen auf die Straße, die Pause war etwas länger geraten als geplant. "Kennst du den Redner?" fragte Rolf den Fünften. "Nein, noch nie gesehen". "Aber dass einer, den den Krieg nicht erlebt hat, so redet, ist doch bewundernswert", wollte Rolf bejaht wissen. "Ich kann mir nicht vorstellen, was jetzt noch kommt", tat ich meine politische Phantasielosigkeit kund.



3. Die Dichte des Denkens


Die Sitzplätze waren bei unserer Rückkehr neu verteilt, wir setzten und ganz rechts zu einem sehr hellhäutigen blonden Mädchen. "Kommst du aus Hamburg?" fragte Rolf. Sie nannte eine kleinere Ortschaft in Schleswig-Holstein, die von uns drei nur ich, der Migrant, heimatkundlich erschlossen hatte. Auf die Frage des Fünften, was sie auf der Veranstaltung zu suchen hatte, gab sie an, als Reporterin für eine rechtskonservative Schülerzeitung vor Ort zu sein.

Der Redner begann in alter Frische: "Es ist nun eine Straftat in Deutschland, den Holocaust zu leugnen, seine Zunge so zu bewegen, dass aus dem Mund rauskommt: „Den Holocaust hat es nicht gegeben“. Sehr klug, bravo. Wie wäre es damit, ein tätliches Leugnen des Holocaust unter Strafe zu stellen? Ein Alptraum für jeden Deutschen, denn der Deutsche tut jeden Tag, wenn er zur Arbeit geht, wenn er die Bild-Zeitung liest, wenn er Fussball guckt, nichts Anderes, als den Holocaust zu verdrängen, zu relativieren, zu leugnen, denn darauf kommt es im Endeffekt hinaus. Schwer vorstellbar, wenn in Deutschland auf einmal jeder Deutsche hinter Gitter kommt. Inkonsequenz ist daher zu einer Tugend geworden, Inkompetenz zum Lernziel, sobald es um einen intellektuellen Beruf geht". "Das Bildungssystem darf natürlich nicht zu kurz kommen", kommentierte ich, als er sprach: "Der Geschichtsunterricht in Deutschland - arme Anne Frank! Die Meisten denken wohl, dass sie eine Deutsche war, und von den Russen ermordet wurde". Der Fünfte brachte meine Alltagserfahrungen aus fernen sprachunkenntnisbedingten Hauptschulzeiten zum Ausdruck: "Es ist kein Geheimnis, dass Millionen erwachsener deutscher Menschen glauben, die Russen hätten sie überfallen". Mir bleib die Antwort im Halse stecken, als ich vom Rednerpult hörte: "Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Hitler und Adenauer?" Es gab eine kurze rhetorische Pause, in der ich genüsslich zusah, wie die schlake Hand des hellen blonden Mädchens durch das lange Haar  desselben Mädchens fuhr, damit das hübsche Gesicht eine freie Sicht bekam. "Nur diesen: der eine Verbrecher wird gehasst, der andere zum Gott gemacht. Die größte deutsche Persönlichkeit der gesamten Geschichte, des ganzen Jahrtausends der Existenz des Deutschtums, das, so hat die Mehrheit der Anrufer gestimmt, soll Adenauer sein. Warum nicht gleich Hitler? Da wäre man wenigstens bei der Wahrheit geblieben, wenn es schon um die Intelligenz so düster bestellt ist. Max Planck gehörte nicht einmal zu den 100 besten Deutschen - wen wundert das bei einem Volk von Bildzeitungslesern?" wurde der Redner nun medienkritisch. "Der Bildungsstand der Deutschen ist leicht rückläufig, aber immer noch weit über dem Weltdurchschnitt", provozierte ich Rolf. Der Redner wurde von einem Zwischenrufer "Nestbeschmutzer" genannt, worauf er diesem, allerdings nicht vom Pult und ohne Mikro, ausführlich und ausufernd antwortete. Wieder eine Pause. "Woran denkst du?" fragte mich Rolf, und erwartete einen klugen politischen Einwurf. "Wie kann man mit einer so zierlichen Hand so schnell schreiben?" meinte ich das Mädchen. Rolf wütete: "Du bist so pervers, du verfluchter Privatier! Sich einfach aus der Politik raushalten, nur an den eigenen Egoismus denken!" "An sich selbst denken, das ist Egoismus", korrigierte ihn der Fünfte, "an den Egoismus denken, das ist Psychoanalyse".

"Was wird eigentlich in den deutschen Familien so geredet", kam der Redner zurück, " - über den Krieg, über den Opa, über den Holocaust? Was erzählen deutsche Eltern ihren Kindern über die Ausländer? Die Türken sind doch alle kriminell, nicht wahr? Die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion - alles russische Mafia, die Polen ein Volk von Autodieben, und die Juden... Schnell die Pfote aufs Maul, bevor man sagt, was man sagen wollte; bevor man sagt, was man wirklich denkt". Rolf erblasste: "Das ist selbst mir zu links". "Wetten, es wird gleich rechts?" scherzte das helle blonde Mädchen, und der Gastgeber sprach: "Wenn nicht die reiche jüdische Lobby in den USA - hätten die Juden ein besseres Schicksal als die Türken? Nun, die Juden sind vorne gut bestückt, und nehmen Deutschland von hinten. Die Weltmacht heißt USA, und die Interessen der Juden fallen mit den Interessen des zweiten Römischen Reiches heute zufälligerweise zusammen". Rolf stutzte: "Die Türken? Was haben die Türken denn für ein nach Vergeltung schreiendes Schicksal?" "Vielleicht meinte er die Kurden", bemerkte der Fünfte humorlos. "Ein Glück, das dem geschundenen jüdischen Volk zu gönnen ist. Israel hat circa 50 Atombomben. Gut so. Zur Selbstverteidigung; wer weiß, ob morgen Ahmadinedschad oder übermorgen - wie hieß diese Fettsau von der CDU noch mal – es freut mich, dass Israel in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass jeder, der noch mal versucht, das jüdische Volk auszurotten, einen Atompilz vor die Haustür gestellt bekommt", täuschte der Redner einen philosemitischen Orgasmus vor.



4. Unpolitische Macht


"Ich sehe nach, was da los ist", flüsterte Rolf, "Peter hat Jürgen eben eine reingehauen". Auch vor dem Rednerpult gab es eine moderate Schlägerei, auch da ging es um dasselbe wie bei Peter und Jürgen, um den Vorwurf des Antisemitismus, wobei keiner anschließend wusste, wer wen warum einen Antisemiten genannt hatte oder wer was weshalb als einen Antisemitismusvorwurf interpretierte, und darum losboxte. "Komischer Russe: Eine Schlägerei, und du nimmst nicht Teil", scherzte der Fünfte.

Die Gemüter beruhigten sich und der Gastgeber setzte seine Rede fort: "Willy Brandts Kniefall von Warschau war die einzige gute Tat, die ein deutscher Politiker im zwanzigsten Jahrhundert vollbracht hatte. Wenn ich die Partei all der Opfer ergreife, so aus Humanität, aus der jedem gebildeten Menschen zugänglichen Überlegung, dass es das Normalste auf der Welt ist, dies zu tun, und ich erweise damit nicht den geschundenen Völkern, sondern meinem eigenen Selbstverständnis als Mensch eine Wohltat". "Am Ende die obligatorische Gefühlsduselei", zeigte sich der Fünfte enttäuscht. "Wo sind Peter und Jürgen?" fragte ich Rolf. "Nach Hause gefahren", schulterzuckte dieser. "Von den Deutschen erwarte ich bedingungslose Dankbarkeit dafür, was hier sage", sprach der Redner, als ein alter Mann links von uns ihn erkannte: "Das ist doch der Urenkel von diesem Helden von der Ostfront, ...Bahr oder ...Behr". Dieser sprach indes: "Wem es schwer fällt, mir zu danken, etwa weil ich ein Russe bin, und man ja bekanntlich den Russen nicht dankt, sondern sie hinter Stacheldraht verhungern lässt oder in Ställen verbrennt, der suche ein Holocaust-Mahnmal in seiner Stadt auf, falle auf die Knie und kapituliere bedingungslos. Falle mit dem Gesicht auf die Erde, in die dein Grossvater, dein Vater, oder vielleicht du selber Blut vergossen hast, weil du in deinem Hass auf die Juden, auf die Zigeuner, auf die Russen Hitler zugejubelt hast, ihn gelobt und mit ihm gefeiert hast. Verdamme ihn nicht dafür, dass eure von der katholischen und manch anderen Kirchen geheiligte Mission gescheitert ist, verfluche dich selbst dafür, dass jedes Wort, das Hitler in seinen Tiraden hinausrief, aus der Tiefe deines Herzens kam, dass du derjenige warst, der ihn an die Macht brachte und in seinen Krieg zog, in deinen Krieg, den du wolltest, du, Deutscher! Schuldspruch, Deutschland, Hitler ist ein falsches Alibi - das Gericht des Gewissens ist tief geschockt über den rigorosen Unwillen zur Einsicht, und im Namen der Menschheit ergeht das moralische Urteil: Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust!"
Ich schämte mich fremd. Er war so deutsch, wie dieses blonde Mädchen schön, gab sich aber für einen Russen aus. "Ich verrate dir gleich, was hier läuft", revidierte der Fünfte seine Aussage vom Nichtkennen des Redners. Rolf ging in die Büsche, und der Fünfte verriet mir: "Er ist Schauspieler und Mitglied in einem rechtsextremistischen Geheimbund". "Kommt das in deinen Bericht?" fragte ich das Mädchen. Sie sah mich unpolitisch an, worauf ich den Fünften, der gebürtiger Hamburger war, nach einer bürgerlicheren Gegend als jener hier fragte. Vorbei an der graffitographischen Aufschrift "Unpolitisch macht hirntot" spazierte ich Hand in Hand mit dem hellen blonden Mädchen in ein gutbürgerliches Café. Sie war so direkt, mir die Eigenschaften solgleich zu benennen, aufgrund derer ich ihr sympathisch war: ich sei klug, diskret, nüchtern, schüchtern, bescheiden, misanthropisch. Da an diesem Abend mit gewaltsamen Ausschreitungen zu rechnen war, begleitete ich sie mit dem Zug bis nach Hause, fuhr dann auf die Reeperbahn, wo ich Rolf und den Fünften traf.

"Gemütlich hier", stellte der Fünfte fest. "Zu steril", verneinte Rolf, "hast du sie flachgelegt?" "Das hat noch niemand, vermute ich, und das Mädchen ist 19". "Eine von der patriarchalen Sexualmoral unterdrückte junge Frau", kommentierte Rolf. "Ein Mädchen", korrigierte ihn der Fünfte. "Was?" "Er sprach von einem Mädchen". Eine Schweigepause, die nicht allen bekam. Während Rolf mit den Tränen kämpfte, klopfte der Redner dem Fünften von Hinten auf die Schulter und lachte: "Wie war ich, du alter Kommunist?" "Ich muss neidlos anerkennen: du warst geil", zog der Fünfte den Hut. Rolf musste sich übergeben, ich ging mit ihm in eine Bartoilette. "Politik, scheiß Politik, scheiß auf die Politik!" wischte er sich das Maul ab. Wir tranken in der Bar einen Apfelsaft und fuhren heim, ohne den Fünften.



2010

Donnerstag, 16. Mai 2013

Fremdschämen, sich




1


Der Whisky roch nach Leder und gerösteten Früchten. Kuzma setzte sich zu uns, kletterte etwas unbeholfen auf den hohen Stuhl. Ich erzählte gerade von einem Fall des Fremdschämens, als Stoiber Anfang 2007 bei einer dreistündigen Rede unbemerkt den Versprecher vom amerikanischen Präsidenten Breshnew produzierte. "Das ist gar nichts" lachte Kuzma. Er klopfte auf die Zigarettenschachtel, bis eine auf den Tisch fiel. Erwin reichte ihm die brennende Kerze vom Nachbartisch. Kuzma bedankte sich und nahm seinen Doppelten unter die Lupe. Er trank den Whisky schnell, es hätte auch Vodka sein können.

Ich machte es mir bequem, ließ den Whisky im Glas zirkulieren, roch an ihm und dachte, ich sei zu betrunken, um dieses Gefühl, das ich bei Stoibers Versprecher empfand, Kuzmas Erzählung folgend empfinden zu können. "Er hieß Sebastian. Er heißt immer noch Sebastian, tot ist er ja nicht. Er hasste seinen Namen, wie vermutlich jeder Stotterer seinen Namen hasst. Die Wahrscheinlichkeit lag bei 0,8 dass er sich mit Se-se-sebastian vorstellte. Etwas seltener sagte er S-s-s-sebastian zu sich, aber es kam auch vor, dass er, hochmütig lächelnd, die erste Silbe seines Namens ausgesprochen zu haben, dann mitten im Wort stotterte: Seba-ba-bastian". "S und A sind gemein, aber auch F", so ich. "K, B und D sind hart, aber nicht so listig. Bei denen weiß man ja, dass man sie nicht packt, und findet Synonyme, die mit anderen Buchstaben beginnen".

"Also kam der Sebastian zu diesem Klassentreffen, setzte sich still in die Ecke, knabberte ein Bisschen, trank ein Bisschen, wollte sich schon verabschieden, da kam dieses Mädchen. Sie hieß wie die Kidman, Michelle". "Nicole", so Erwin. "Und sie guckte so, wie eine arrogant-verführerisch guckende Michelle Kidman". "Nicole". "Ach ja, Nicole". Kuzma rief den Kellner, ließ sich noch einen Doppelten bringen. "Er war schon sehr lange in sie verknallt. Natürlich hatte er sie niemals angesprochen. Als er gehen wollte und in der Tür stand, da packte sie ihn am Arm und stellte ihm eine Small-Talk-Frage. Aufgefordert zu reden, sprach er fließend. Übermut überkam Sebastian. Er begab sich auf ein Eis, so dünn, wie die Figur von Michelle. Er übernahm die Initiative, gab ihr einen Drink aus und fragte sie, ob er sie nach Hause begleiten dürfe. Sie war überrascht, denn Sebastian war schüchtern, aber sie war einverstanden. Sie gingen nach Draußen. Sebastian zitterte, wollte sich aber nichts anmerken lassen, und zitterte umso mehr. Er versuchte, sein Sprechen zu kontrollieren, aber das Stottern kam in jedem Satz mehr und mehr in den Wortfluss. Die Minute, die ihm vergönnt war, bei sich zu Hause sein Fahrrad abzustellen - er hatte sein Fahrrad dabei, und somit etwas zum Festhalten -,  die nutzte er, um durchzuatmen und etwas Kleines in die Hosentasche zu stecken."

Erwin hustete. Kuzma zündete eine Zigarette an und fuhr fort: "Nun, ohne Fahrrad, war er noch nervöser, konnte seine Sätze nicht mehr beenden. Als er eine Frage mit Ja beantworten wollte, stotterte er beim Ja und sprach nach dem halben J nicht weiter. Michelle lud ihn ein, bei ihr zu Hause etwas zu trinken, und nebenbei die Hausaufgaben in Mathematik und Chemie für sie zu machen. Da war Sebastian wieder souverän und erledigte alles routiniert in zehn Minuten. Michelle ging in die Küche. Sie kam ins Wohnzimmer zurück, und da kniete Sebastian mitten in ihrem Wohnzimmer und hielt etwas Kleines in der ausgestreckten Hand. Er begann: Ih-i-i-i-i... Michelle sah den Ring, tat so, als sähe sie ihn nicht. Sie setzte sich an den Tisch und wartete. Er, rot wie eine Erdbeere, versuchte es diesmal mit Mh-m-m-m-mi-mi... und kroch auf Knien auf sie zu, er wollte den Ring ja nicht der Luft überreichen. Sie versuchte ihn zu ignorieren, und er sah nur kurz in ihre Augen, wonach er aufsprang, sich auf das Sofa warf, die Augen schloss, fünf Sekunden bewegungslos verharrte, wieder aufsprang und murmelte, er sei eingeschlafen und wo sie so lange war. Sie sagte nichts. Er äußerte die Absicht, nach Hause zu gehen, sie begleitete ihn zur Tür. Als sie seine Hand an der Türklinke berührte, nahm er all seine Verzweiflung zusammen, schraubte den Kopf durch die Luft zu ihr, machte den Kussmund. Sie erschrak und driftete von ihm weg, fuchtelte mit den Händen in der Luft, sich schützend, und er fuchtelte auch mit seinen Händen, wobei er wirres Zeug murmelte und wie ein Irrer in schnellen Zuckungen mit dem Kopf schüttelte".

Erwin nahm die Kerze vom Nachbartisch und zündete Kuzma die nächste Zigarette an. Alle schauten auf Kuzma, aber der betrunkene Germanistikstudent war fertig mit seiner Rede. "Was ich als Chemiker nicht verstehe" , fing Erwin an und beendete den Satz mit wirrem Unfug. Das Fremdschämen hatte vollends Besitz von ihm genommen, und ich unterbrach ihn, weil er mit den Blicken darum bat. "Woher weißt du denn, dass es sich genauso zugetragen hat?" fragte ich. "Sein Nebenfach ist Germanistik. Er sitzt oft neben mir. Verarbeitet, was er erlebt, in Kurzgeschichten, und gibt sie mir zum Korrekturlesen". "Ist er Legastheniker?" "Er tut manchmal so, - das ist sein Vorwand, um mir seine Geschichten zum Lesen zu geben. Er kann es niemandem erzählen, aber ist furchtbar einsam. Und ich tu so, als wären sie fiktiv, korrigiere sie, gebe sie ihm, und er bedankt sich für die Korrektur, wobei ich weiß, wofür er in Wahrheit dankbar ist. Dafür, dass jemand ihn wahrnimmt".


Ich trank meinen Whisky und wir gingen nach Draußen. Kuzma griff nach der Schachtel - keine Zigaretten mehr drin. Wir gingen an einem Kiosk vorbei, dort arbeitete Michelle. "Ein G-g-gruss von Se-se-sebastian", scherzte Erwin. Michelle wurde rot wie eine Erdbeere und schlug das Fensterchen zu.



2



Kuzma schlich an Erwin heran und erschreckte ihn. Ich schmunzelte. Als Kind hatte ich eine Verschwörungstheorie, welche besagte, dass ich zu stottern begann, nachdem ein Mädchen mir laut ins Ohr geschrieen hatte. Erwin schlug vor, in ein Lokal zu gehen, in dem man sich zum Flirten traf. Da die anderen Bars alle zu waren, kam ich mit. Ich setzte mich in die Ecke, schimpfte über das Nichtvorhandensein schottischer Whiskys und bestellte mir ein dunkles Weizenbier. Es herrschte Rauchverbot, aber das betrübte weder Erwin noch Kuzma, da der Kauf einer weiteren Zigarettenschachtel vor einer halben Stunde von mäßigem Erfolg gekrönt wurde.


Zwei junge Frauen setzten sich zu uns in die gemütliche Ecke. Erwin mimte Sebastian, daraufhin wandten sie sich vom gutaussehenden Erwin ab und Kuzma und mir zu. Kuzma sagte höflich, wir würden auf unsere Freundinnen warten, nur Erwin wäre Single. Sie gingen. Erwin lachte zuerst. Sie unterhielten sich mit einer anderen Gruppe, lachten, zeigten auf unsere Ecke, kamen aber wieder, als sie merkten, dass Erwin sich einen Scherz erlaubt hatte.

"Ich war also mit Ron und zwei anderen werdenden Lehrern, deren Namen ich nich mehr weiß, auf dieser Geburtstagsparty" erzählte Kuzma, "Alle Damen waren sofort um Ron versammelt, er war witzig, geistreich, charmant, malte Bilder, schrieb Theaterstücke - eins davon führten wir gestern wieder auf, schade, dass ihr nicht da wart - , aber die Damen interessierte erwas Anderes. Das sei alles doch nicht die Wahrheit, meinten sie. Wie ist Ron denn in Wahrheit so? Das erfuhren sie, als er seinen epileptischen Anfall hatte. Das befriedigte sie zutiefst, und die Herren noch tiefer, denen sich die Damen wieder zuwandten". "Was ist mit dir?" fragte eine der jungen Frauen Kuzma. "Du bist doch normal, oder?" Kuzma lachte, sagte aber nichts. Ich erzählte eine alte Geschichte, vielleicht aus dem Jahr 1989: "Es war Kasachischunterricht und ein Junge musste nach Vorn gehen und die Vokabeln aufsagen. Er sah nervös aus, riss sich aber zusammen, stellte sich gerade, fand den Tunnelblick und begann die Vokabeln aufzusagen: Nan - Chleb". "Chleb heißt auf Russisch Brot", bemerkte Kuzma. "Da stand er eine weitere Sekunde, zwei, drei, wiederholte: Nan - Chleb, und es verging wieder eine Sekunde, und noch eine, und er war rot wie eine sowjetische Fahne, hielt die Spannung nicht aus und begann von Vorn: Nan - Chleb. Und wieder: Nan - Chleb, bis die Kasachischlehrerin ihn erlöste. Er durfte sich setzen". "Eine Zwei?" fragte Kuzma. "Nein, keine Zwei. Die Lehrerin meinte, es hätte an seiner Nervosität gelegen".

Aus dem Lokal, in die frische Winterluft. "Die Beiden waren doch nett?" fragte Kuzma. "Ich fand sie nicht nett" so Edwin, "ich hätte auch Sebastian sein können". "Ein Wenig bewundere ich Sebastian. Ich hätte mich nicht getraut, in diesen Schaumbad der Scham zu steigen" begann ich zu meinen, aber Kuzma sagte mir die Wahrheit: "Du hast zu früh begriffen, dass es keinen Sinn hat, krampfhaft zu versuchen, normal zu sein". Ich schwieg. Hätte ich dieses Mädchen damals a-a-angesprochen, wäre ich wenigstens wahrgenommen worden. So aber weiß sie nicht einmal, dass es mich gibt, was für uns Beide letzlich auch besser ist.



3


"Es war Biologiestunde, die Lehrerin stellte eine Frage, ich meldete mich, stand auf und blieb mit offenem Mund stehen. Eine halbe Minute, vielleicht länger. Ich versuchte zu sprechen, aber es kam nichts. Die Lehrerin ignorierte mich daraufhin und fragte einen anderen Schüler". "Ich hätte das gern erlebt. Ich meine, am eigenen Leib" so Erwin. "Wieso?" fragte Kuzma. "Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist, und auch nicht, wie es ist, manisch-depressiv oder schizophren zu sein. Vor zwei Jahren tippte ich kurz vor der Pfüfung eine SMS, verschickte sie, ging zur Prüfung. Nach fünf Minuten überkam mich das Gefühl, dass etwas schwer nicht in Ordnung war. Ich wurde nervös, aber nicht wegen der Prüfung. Ich schwitzte. Ich nahm die Professoren kaum noch wahr, als sie mir meine 1,7 gaben. Ich rannte aus der Uni, schaltete mein Handy wieder ein - das war eine sehr persönliche SMS. Und ich habe sie ausversehen jemandem geschickt, der... Ich meine, ausgerechnet ihr habe ich sie geschickt! Ich sah den Boden an, bat ihn, mich zu verschlucken". "Wir sind wieder beim Kiosk" erinnerte ich Kuzma. "Geh du kaufen. Dein Gesicht hat sie nicht gesehen". 


Ich und Michelle, da war ich gespannt. Ich sagte höflich wenn nicht sogar zärtlich, ich wollte eine Packung Marlboro. Sie sah mich an und fragte: "Stotterst du?" Aus dem Aussprechen meines Satzes kam das keineswegs hervor, also fragte ich nach. Michelle meinte, mein Satz sei so glattpoliert, und die Augen verrieten es, auch wenn das Mundwerk wie eine Schweizer Uhr funktionierte. "Nicht mehr so wie früher" sagte ich. "Ich war früher schön" sagte sie. Sie sah immer noch gut aus, aber ich verstand, was sie sagen wollte: früher sah sie nicht gut aus, sondern war schön.

Michelle ging mit uns zum zugefrorenen Fluss, flirtete mit Erwin, und er mit ihr. Sie bestand darauf, uns in Sachen Trunkenheit einholen zu wollen, wir gewährleisteten dies. Auf dem Eis sitzend, erzählte sie von der peinlichen Szene mit Sebastian, merkte aber, dass diese uns allen bekannt war. "Das war gar nichts" sagte Michelle. "Dennis, mein erster Freund, wollte, dass ich für ihn strippte. Was ich nicht wusste war, dass überall hinter Sofas und Schränken seine mit Gucklöchern bewaffneten Freunde warteten. Ich tat mein Bestes, strippte, stöhnte, und auf einmal kamen alle aus ihren Verstecken und applaudierten". "Peinlich", bemerkte Kuzma trocken. Erwin hustete. Wir erinnerten uns, dass er kürzlich eine Lungenentzündung hatte. Kuzma rief ein Taxi und fuhr Erwin heim; ich begleitete Michelle nach Hause.

Ich wurde nervöser, als wir gingen, denn ich wurde nüchterner. Ein Fahrrad hatte ich nicht dabei, nur meine Hausschlüssel, die ich auf dem Weg hochwarf und fing. Michelle lud mich zu einem Kaffee ein, ich nahm die Einladung an. Als sie in der Küche verschwand, kniete ich im Wohnzimmer und streckte die Hand, in der ich etwas Kleines hielt, nach Vorn aus. Michelle tat so, als sähe sie mich nicht, stellte den Kaffee auf den Tisch, ging dann aber rückwärts auf mich zu. Ich überreichte ihr den USB-Stick mit Sebastians Texten. Diese Aktion wurde vor knapp einer Stunde mittels kuzmasebastianischen Telefongesprächs autorisiert; Kuzma gab mir den Stick, als er mit Edwin in ein Taxi stieg. Wir tranken Kaffee, unterhielten uns, ich sah ihre Fixervenen. Ich sah Michelle nicht wieder, aber Kuzma erzählte mir am nächsten Freitag, dass sie und Sebastian nun zusammen seien; er dachte über eine Therapie in einem logopädischen Zentrum nach und sie habe sich in einer Entzugsklinik angemeldet.



2010

Samstag, 11. Mai 2013

Julius und Erich




1. Julius (28)

Es war Klassenfahrt, und am Lagerfeuer saßen sie alle, und da kam das schönste Mädchen vorbei. Das reiche Söhnchen prahlte mit teurem Spielzeug, der Leichtathlet mit dem Oberkörper, der Dealer mit Lockerheit und etwas Gras. Julius guckte nach Unten und war sehr nervös. Das schönste Mädchen konnte sich aussuchen, also dachte es: wer ist denn hier der Schüchternste, Sensibelste und so weiter, und setzte sich zu Julius und sie wurden ein Paar. Nein, natürlich nicht. Sie hat das reiche Söhnchen mit dem genetischen Defekt geheiratet, hat nun zwei Bälger: eins mit Mukoviszidose und eins ohne Großhirn geboren. Was kann Julius dafür?


2. Weiße Maus

Schon in der Grundschule wollten die Mädchen neben Julius sitzen, denn sie dachten sich: wer ist denn der Schönste hier - und das war natürlich Julius. Julius benahm sich ja wie ein gut erzogenes Mädchen - hatte Angst, ekelte sich, passte gut auf sein Körperchen auf, ebenso auf sein Seelchen. Er wollte des schönen Mädchens würdig sein, das ihm irgendwann über den Weg laufen sollte und wie die anderen Mädchen dachte: welcher Junge ist denn der Romantischste, Zärtlichste und Geistreichste, ach, natürlich Julius, und schon damals wurde der Kleine schnell rot und lief weg. Keins der Mädchen hatte von ihren Jungs nur 5% von dem rausgeholt, was die eigene Schönheit wert war, sprich, keine war die ihr geschenkte Schönheit wert.


3. Schabenfutter

Kein Kind will, dass die Tante es küsst, auch der Onkel nicht. Der Opa ist lieb, aber seine Haut... warum wird das Kind nicht stattdessen von dieser jungen frischen älteren Cousine am Arm und an der Wang berührt? Die Oma ist nett aber so fett... Die Türklinken fasste Julius nie mit der Hand an, er wollte schließlich mit einem Mädchen händchenhalten, wobei er nur Pfötchen sah und nie Händchen. Das neue langhaarige feingliedrige Mädchen mit schimmernd weißer Haut kam in den Klassenraum und dachte natürlich: so, welcher von den Jungs fühlt sich am Angenehmsten an, wenn er mich fängt und kitzelt? Dachte Julius. Das Mädchen ließ sich vom Dicken dort begrabschen, der sich nach dem Pausenbrot nie die Hände wusch. Das Mädchen ist Hure geworden, steht jeden Abend am Hackeschen Markt, und der Dicke - hat abgenommen - ist Bankkaufmann und ihr Stammkunde.


4. Julius und Innere Werte

Du fragst, warum sich Julius immer in die schönsten Mädchen verknallte? Moment, war Schönheit bei dir nicht relativ, war sie nicht Geschmackssache, lag sie nicht im Auge des Betrachters? Wenn es so ist - welchen Sinn hat also deine Frage? Julius verknallte sich in die Mädchen, in die er sich eben verknallte. Seltsamerweise verknallten sich alle Jungs in dieselben Mädchen, in die sich Julius verknallte. Und diese Mädchen dachten immer: so, wer von den Jungs hat die geilsten inneren Werte? Wenn es so war, dann hängt der Wert der inneren Werte davon ab, wessen Sohn man ist. Nicht wie versaut oder wie blöd oder gewaltbereit, denn Julius ging ja aufs Gymnasium, wo die guten Mädchen waren. Sagte ich Waren? Nein, waren sagte ich.


5. Grausamkeitskitzeln

In der Grundschule da war ein Mädchen verrückt nach der jungen hübschen Lehrerin, welche eines Tages einen rohen garstigen Mann verführte. Das Mädchen bekam es mit und weinte selbstverständlich und sprach was hast du getan und ging nie wieder zu der Lehrerin nach Hause zum Spielen wie früher. Wirklich? Nein, das Mädchen hatte nur ein komisches Kitzeln im Bauch und spielte weiter mit der Lehrerin. Julius ging zum Schuldirektor und erzählte ihm, dass die junge Lehrerin kleine Mädchen verführte, und die Lehrerin flog von der Schule. Dieses sonderbare Gefühl, das du hattest, was war das, fragte Julius das Mädchen zehn Jahre später. Es kam davon, dass ich wusste, dass du mich magst, und leiden würdest, wenn ich weiter mit ihr spiele, sagte das Mädchen.


6. Selbstmordvermeidungsherzkühlung

Julius war in der zehnten Klasse, als eine große Party war, und er wieder mal in der Ecke stand. Da kam ein Mädchen herein, so niedlich und süß wie zehn Kätzchen, und fragte sich: so, welcher von den Jungs ist noch Jungfrau und hat den größten Respekt und die tiefste Ehrfurcht vor einem Mädchen? Nein, das konnte es nicht sein, denn um danach zu urteilen, welchen Jungen das Mädchen auswählte, konnte es nur gedacht haben: so, wer ist hier der frauenverachtendste respektloseste und widerlichste Eber, dem muss ich unbedingt einen blasen! Julius wurde später oft Kaltherzigkeit vorgeworfen, worauf er erwiderte: hätte ich mein Herz nur ein wenig wärmer gehalten, wäre ich längst von einer Brücke gesprungen.


7. Das egoistische Gähnen

Die Evolution meinte es eigentlich gut mit Julius, und so malte er die schönen Mädchen im Kopf noch schöner und beachtete die anderen nicht. Diese aber dachten: so, welcher von den Jungs ist denn an inneren Werten interessiert... Tatsächlich? Immer, wenn es einem nicht so schönen Mädchen gelang, so ein richtiges Arschloch noch mit Scheißklümpchen auf den Arschhaaren ans Land zu ziehen, kündigte es die Beziehung zu seinem Frauenversteherchen (per SMS oder ähnlich) und freute sich die Titten aus der Brust. Nächstes Versuch. Die nicht so schönen Mädchen dachten: wer ist denn den inneren Werten nach der Allerbestensbesteste Junge, am Wenigsten an Äußerlichkeiten interessiert? Und sie dachten sich ein Loch - nein nicht in Julius - in den leeren Stuhl, auf dem dieser Niemand saß, der überhaupt nicht an Äußerlichkeiten interessiert war.


8. Erich (30)

Erich liegt auf dem Sofa und träumt vor sich her, während die Sonne zu einem für andere romantischen Sonnenuntergang langsam dahinsinkt. Seine Gedanken sind schwer: nie, nicht nur ein einziges Mal. Dann springt er auf: aber Erich, wie viele Männer, ja wie viele Menschen denn überhaupt waren in ihrem ganzen Leben mal mit einer schönen Frau zusammen? Für die Frauen ist es sicherlich leichter: die Mädchen halten miteinander in der Schule Händchen, ohne sich für die Jungs damit unattraktiv zu machen (umgekehrt scheint es verdammt unattraktiv zu sein, dem Erich übrigens genauso wie den Mädchen), - und nach der Schule wer weiß? Aber komm schon, Erich, wie viele Männer? 3%? Zu hoch geschätzt? Aber nur ein einziger Kuss! Hm, dann wohl noch weniger. Es gibt mehr Ungeküsste als Ungeleckte. Fürs Lecken kann man eine bezahlen, aber wo kann man Küsse kaufen? Bei denen, die Sex verkaufen, will man ja nicht: die halten einen solchen Wunsch - einfach schön zärtlich küssen, alles bleibt an - für genauso pervers wie Anpissen oder was weiß Erich. Er zieht sich eine warme Jacke an und geht hinaus. Bald 30, denkt Erich leise vor sich hin. Bald 30, und immer noch nichts, kein einziges Mal.


9.  Gute Idee

Erich steht ja auf schöne Frauen. Sei doch nicht so engstirnig, sagt Jürgen. Erich lässt sich überreden, geht mal wieder aus. Guck doch, sagt Jürgen. Warum lächelt er, denkt Erich, und wo soll ich hingucken? Erich langweilt sich. Willst du wieder gehen, fragt Jürgen, und fügt vorwurfsvoll hinzu: du machst dir alles selbst kaputt! Erich geht ein Licht auf: du hast Recht, Jürgen. Jürgen lächelt und guckt zu den mäßigen Damen hinüber. Erich folgt aber überhaupt nicht seinem Blick, weshalb Jürgen ihn irritiert anstarrt. Es muss doch nicht gleich Sex sein, feiert Erich seine Horizonterweiterung, und es muss auch nicht Liebe sein, - es wäre zum Beispiel schön, mit einer schönen Frau befreundet zu sein, am Besten mit einer Lesbe, da muss man sich den Brechreiz nicht verkneifen, wenn man ihr auf die Lippen guckt. Jürgen schüttelt mit dem Kopf: Erich, ist es denn dein Ernst? Erich weiß, wie Jürgen es meinte, schweigt ein Bisschen, guckt dann zu den Damen rüber, seufzt und sagt: gut, vielleicht nicht befreundet sein, aber eine zu kennen, so als lockere Bekanntschaft, das wäre auch schön.


10. Erich muss etwas beichten

Jürgen erzählt von einem knackigen Po. Ärsche, das mag Jürgen. Und Bernd, der mag Brüste. Je voller umso besser. Genüßlich erzählt er von den Brüsten seiner Neuen. Erich will auch etwas sagen, weiß aber nicht, wie er anfangen soll. Vielleicht: Ein Freund von mir... Aber wer? Wen soll ich auf Nachfrage nennen? Vielleicht: Ich kenne jemanden... Ja, und? Warum muss ich ausgerechnet von ihm erzählen? Oder: Neulich war ich amüsiert, als ich gelesen habe, dass es einen sehr interessanten Fetisch gibt... Hört sich komisch an. Warum nicht: Im Bus hörte ich gestern Abend, wie jemand sagte, er sei ganz verrückt nach... Warum bist du so rot geworden, fragt Jürgen. Stimmt etwas nicht, fragt Bernd. Es gibt Fetische, die sind so richtig durchgeknallt, aber komischerweise nicht peinlich. Erich hat es andersrum erwischt. Alles muss stimmen, sagt Erich, alles bis ins kleinste aber auch klitzekleinste Detail.


11. XS

Erich mag kleine, zierliche Frauen. So dünn wie möglich, aber nicht magersüchtig. Keira Knightley findet er hässlich - sie hat, sagt er, zu breite Knochen. Erich, sagt Bernd immer, so eine kannst du doch gar nicht... Ich will sie auch gar nicht ..., sagt Erich immer, ich will sie verwöhnen, auf Händen tragen, auch wörtlich. Ich kann mit keiner Frau was anfangen, die nicht kochen und putzen kann, lacht Bernd. Erich findet sowas frauenfeindlich. Letzte Nacht hatte Erich einen Traum: er sah im Vorhof zu seiner Studierhölle eine zierliche süße Frau, sprach sie an, nahm sie mit nach Hause. Dann wusste er aber nicht mehr, was er tun oder sagen sollte, bedrohte sie subtil, ja fast schon zärtlich, fesselte ihre Hände und Füße, trug sie auf sein großes weiches Bett. Er setzte sein diabolisches Grinsen auf, machte Andeutungen, dass er sie gleich küssen würde, dann ihren BH ausziehen und ihre hübschen kleinen Brüste berühren, hatte für alle Fälle noch ein S/M-Peitschchen dabei. Zärtlich, fast schon liebend, flüsterte er ihr zu, er könnte ihr vielleicht weh tun, aber sie guckte ihn nur an wie eine Kuh auf der Wiese und donnerte ihm schließlich ins Gesicht: "Fick mich endlich und lass mich gehen, ich muss heute Abend noch die Küche sauber machen!" Da wachte er auf und hatte so ein Gefühl, das er immer hatte, wenn ihn im Traum diese schrecklichen großen haarigen (oder auch nackten schwarz glänzenden) Monster verfolgten. 


12. Deckel drauf

Der Spruch, dass jeder Topf seinen Deckel finde, passt rein physiologisch eher zu Frauen, meint Jürgen. Es ist Hohn, weiß Erich. So ist es, Leute, kommt Bernd mit dem Bier an den Tisch, wer in der Schule keine gekriegt hat, bekommt nie wieder eine Chance. So schlimm ist es doch nicht, wiegelt Jürgen ab. Erich nickt und schüttelt mit dem Kopf. Wen kennst du denn, der in der Schule keine hatte und später eine gekriegt hat? Jürgen denkt nach, er hat viele Freunde: der hat eine Flüchtlingsbraut gekauft, der da geht regelmäßig ins Bordell, der bekommt reihenweise Körbe in der Disco, dieser hat es mit alleinerziehenden Müttern versucht, was immer am Ex gescheitert ist. Siehst du, freut sich Bernd. Was soll ich jetzt machen, verzweifelt Erich nach dem vierten Weizen. Trink ein fünftes und bagger die da an, lacht Bernd. Erich zieht die Augenbrauen hoch, behält sie drei Sekunden in der Luft und sagt dann nichts. Warum kann ich mir die Frauen nicht schöntrinken, denkt Erich und bestellt sich das fünfte Weizen.


13. Jürgen auf der Couch

Sex, sagt Erich, beziehe seinen eigentlichen Reiz aus der Entjungferung. Quatsch, lacht Jürgen. Du guckst doch Pornos, so Erich. Ja, ich bin doch nicht krank, so Jürgen. Dann sag mir, warum die Typen am Ende den Frauen ins Gesicht spritzen. Jürgen weiß keine Antwort. Erich weiß: bei diesen Stuten setzt keiner mehr voraus, dass sie jungfräulich sind. Logisch, meint Jürgen, wenn sie in einem Porno mitspielen. Aber ihr Gesicht, meint Erich, dieses geschminkte geputzte Gesicht vermittelt immer eine Illusion der Unschuld, - und du, mit dem Willi in der einen und mit dem Taschentuch in der anderen Hand, identifizierst dich mit dem Typen. Ja, sicher, sonst würde ich nicht gucken, versichert Jürgen. Und als er ihn am Ende rauszieht und ihr ins Gesicht spritzt, rufst du da nicht innerlich: Erster! Jürgen findet es erstmal plausibel, sagt aber: am Anfang kommt immer der BJ - nix Gesicht. Gut, sagt Erich, was denkst du dir denn am Schluss? Na ja, gut, also, - gibt Jürgen zu - ich denke da immer, dass die andere, größere Frau ihr die Augen aufhält und lüstern flüstert: ja, komm, spritz in ihre süßen lieblichen Augen! Auch wenn keine zweite Frau im Film dabei ist, fragt Erich nach. Dann denke ich mir eine dazu, sagt Jürgen.


14. Orgien statt Sorgen

Mit nicht so schönen Frauen hat Erich nie Probleme gehabt, wenn es darum ging, sie anzusprechen, oder sich mit ihnen ganz normal über etwas Bestimmtes zu unterhalten. Smalltalk kann Erich recht gut, besonders nach zwei Bier (der mit dem Asperger-Syndrom, das war der elitär-arrogante Julius; Erich ist bloß ein Wenig schüchtern). Nun spricht er mit einer Studierkollegin (er kann, wie der Autor, das schwül-inzestuöse Wort Kommilitone nicht ausstehen) in der S-Bahn auf dem Weg zur Uni: ich schaffe es einfach nicht, sie anzusprechen, denke immer zu viel darüber nach, trau mich am Ende nicht, und wenn doch, kommt kein Wort aus mir raus. Deine Sorgen möcht ich haben, erwidert sie höhnisch. Sie lebt mit einem Doktoranden zusammen, hat einen zweijährigen Sohn. Das war ironisch gemeint, sagt Erich. Klar, sagt sie, oder bist du doof? Und wenn ich dir sage, dass ich deine Sorgen haben möchte, dann meine ich es nicht ironisch - verstehst du jetzt? Sie schweigt, dann sagt sie: naja, so ironisch wie es in deinen Ohren klingt, meinte ich es auch nicht: du kommst um vier Uhr morgens nach Hause, musst keine Windeln wechseln, dich um das Chaos nicht kümmern, nicht an die Einkäufe denken, die Krippe, der Kinderarzt, meine Eltern, seine Eltern, die Geburtstage nicht vergessen, sonst weiß du nicht wohin mit dem Balg falls du zwei Tage für dich allein sein willst, - Single sein ist doch schön; man lernt es erst zu schätzen, wenn man keiner mehr ist. Erich freut sich den Arsch ab, den ganzen Tag lang: Single sein ist also doch besser - und das hat nicht ein Mann wie er gesagt, der sich etwas schönreden wollte, das er nicht ändern konnte, nein, eine Frau hat das zu ihm gesagt. Geil, denkt Erich, und weiter: welche Verpflichtungen habe ich heute eigentlich? Oops, gar keine. Schön, ich fahr mal ans Meer, will zwei Tage für mich allein sein.


15. Wegen dem Neger

Voll in der Kneipe, aber Bernd hat vor Stunden das alte niedrige Sofa in der hellgrünen Ecke reserviert. Jürgen freut sich und sagt: Erich, komm schon, freu dich, wir haben einen saugeilen Platz erwischt! Als sie sich setzen und drei Jim Beam mit Cola bestellen, setzt sich ein langhaariger zotteliger Typ im selbstgestrickten grünen Pulli dazu: Oh, ist das die grüne Ecke? Habt ihr gelesen, 28%! Jim Beam mit Cola ist was für Schwuchtel, lacht der Kellner, ein Türke. Wer eine Schwuchtel bedient, fängt Bernd an, aber der ungebetene grüne Gast unterbricht ihn und bestellt eine Bionade.

Als Nächstes bestellen die Drei Jim Beam ohne Cola - da weiß der Kellner, was die erste Bestellung sollte: eine Limo, ein Durstlöscher. Guck, der Neger da trinkt diesen französischen Apfelwein, wie heißt er... Cidre, sagt der Kellner, wollt ihr auch? Der ungebetene grüne Gast  unterbricht ihn: was fällt euch frauenfeindlichen Rassisten ein? Geht sofort zu ihm und entschudigt euch! Der Türke darauf in Türkdeutsch: Hast du ein Problem, du Schwuchtel? Der eben noch Empörte entschuldigt sich höflich, - er hält den Türken offenbar für einen Japaner, macht diese alberne Verneigung.

Guck, sagt Jürgen, der Neger bestellt sich jetzt einen Negerkuss - den kann er doch auch zu Hause haben. Es ist ein Eis, weiß Erich. Der grüne Freund, verzweifelt (und nun auch jimstens gebeamt): Was seid ihr für Menschen? Eine Dicke kommt vorbei, gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Deine Frau, fragt Bernd. Er nickt, Bernd lacht, steckt auch Jürgen an. Erich - noch nicht betrunken genug - ist geistig abwesend. Ihr sitzt jeden Abend irgendwo rum, ihr Säufer, fängt der Beleidigte an. Hast du ein Problem mit den Jungs, kommt der Kellner zurück und bringt nun vier Weizen. Ich betreue ehrenamtlich Flüchtlinge, gehe jeden Sonntag gegen Atomkraft demonstrieren, setze mich für den Bau einer Moschee ein, engagiere mich für eine Quote von horinzontal gechallengten Frauen in Film und Werbung, - und ihr!? Und wir sitzen hier und saufen, sagt Bernd, absichtlich mit türkischer Aussprache - schallendes Gelächter.

Als der grüne Freund fast schon heult, fragt ihn Jürgen: man gönnt sich ja sonst nichts, was gönnst du dir denn, wenn du dir mal was gönnst? Völlig betrunken erzählt der ungebetene grüne Gast, wie er vor drei Monaten nach Bangkok reiste und für EUR 23000 ein vierzehnjähriges Mädchen zu Tode folterte: kennt ihr diesen Film, Hotel oder so, und diese Thai-Mädchen sehen ja viel jünger aus als sie sind, - ich hab mir so vorgestellt, es wäre die Leonie aus der 4. Klasse, die mich damals hänselte... hey, wo geht ihr denn alle hin, bleibt hier, hey...!


16. Die Begegnung

Erich schlich oft durch Passagen, Arkaden, stellte sich in die offenen Zeitschriftenläden gleich neben den Kosmetikstudios, um Blicke auf weiß nur Erich was zu erhaschen. Er wurde schnell rot dabei, weshalb er immer Pausen einlegte, in denen er sich den Zeitschriften widmete. Nun aber sah er einen Mann in seinem Alter in eine schicke Boutique hineingehen, ein kleiner Schlanker mit vollem schwarzen Haar, der sich von einer hübschen Frau über ein Kosmetikprodukt ausführlich beraten ließ. Schamrot schlich Erich hinzu - da war dieser Blick der Frau, als er wusste nur er wo hinguckte, und Erich wollte am Liebsten im Erdboden versinken, - der androgyne Teufel grinste breit und ließ sich das teuer Eingekaufte einpacken.

Komm, Sebastian, rief er Erich zu sich, wandte sich dann zu der Verkäuferin: diesen Kretins macht man einen großen Gefallen, wenn man sie abtreibt, aber seine arme Mutter hatte wohl zu viele Schnulzen geguckt. Komm, du Hund! Erich folgte Julius mit gesenktem Kopf in eine gehobene Bar. Auch dort behielt Julius seine eleganten schwarzen Handschuhe an, die wunderbar zu seinen Schuhen und zu seiner Haarfarbe passten. Was ist dein Problem, fragte er Erich, warum treibst du dich rundherum rum und gehst nicht rein? Draußen wunderten sich Bernd und Jürgen - was machte Erich in dieser Schickimickibar? Wer sind die Deppen, fragte Julius.

Erich hat nun seine Nummer. Soll er ihn anrufen, diesen Zwangsneurotiker, der sich offenbar vor Türklinken ekelt? Erich fühlt sich von Julius ertappt, vielleicht hat er denselben Fetisch. Er greift zum Hörer und seine Hände zittern, so als ob er eine hübsche Frau anrufen würde. Macht er´s? Macht er´s nicht? Bernd schmeißt heute Nacht eine Party - soll Erich hingehen? Warum, denkt er, gebe ich mich seit Jahren mit Leuten ab, die so viel dümmer und plumper sind als ich? Dieser schwarze Schwan ist verlockend. Durch das Androgyne wirkt dieser Bastard nur noch düsterer, gefährlicher, - es ist eine elegante Männlichkeit, die Erich als Kind gern zum Vorbild gehabt hätte. Leider wuchs er unter Leuten wie Bernd und Jürgen auf, - wird der Sog der Gosse obsiegen?



2011

Donnerstag, 9. Mai 2013

Der letzte Antisemit




2045.

Werbesprecher: Sensation! 100 Jahre nach der Befreiung Deutschlands wurde in einem Berliner Wohnsilo ein Antisemit gefunden! Sehen Sie bei "Sadistisch aber Sexy" eine aufregende Talkshow über die Aufarbeitung der Auseinandersetzung über die Aufregungsausbleibensklitterung gestern bei "Anne Kann".

Platzberg: Schön gunnabend, gunnabend und schmerzliches Kommen!

Kriegman: Haben Sie gestern bei der Landtagswahl als Einziger die NPD gewählt?

Antisemit: In Sachsen? Als Berliner? Sie sind ja schlau.

Kriegman: Wieder ein antisemitisches Vorurteil...

Platzberg: Ich Platzhirsch, ich Fragen stellen.

Anne Muss: Sie korrupter quotengieriger...

Aischberger: Hat er Geld bezahlt, ich meine, hat er mehr als ich geboten, damit er in seine Sendung kommt? Das ist ja unerhört!

Platzberg: Sitz!!! Danke. Ich habe mich vorsichtshalber gendern lassen, so dass ich stets zum diskriminierteren Geschlecht gehöre, und kann mir deshalb jede Frechheit erlauben. Anne, fass!

Kriegman: Mich?

Antisemit: Hey, ich bin der Antisemit, nicht der Platzberg.

Platzberg: Ich meinte den Auch.

Anne Muss den Auch beißen: Grrrr.

Auch: Beißt mich ruhig tot, aber der Antisemit wird nur exklusiv mit mir reden.

Platzberg: In meiner Sendung!?

Auch: Der Plan war, dass ich dich mitten in der Sendung aus deiner Sendung schmeiße und selbst weiter morderiere, aber bevor die Anne mir die beiden Mikros abbeißt, setze ich mich zu euch. Aische, mach Platz am Lagerfeuer!

Kriegman: Aber Sie wissen schon, dass Sie als Mann das einer Frau nicht sagen dürfen!

Hüller (stürmt hinein): Er hat Mann gesagt! Er hat Frau gesagt! Ich hab mir lange überlegt, ob ich Platzbergs Gäste nach Hause schicke und allein mit dem Antisemiten weitermache, oder ob ich dich, lieber Michel, rausschmeiße...

Antisemit: Er ist Jude. Du musst nett zu ihm sein.

Hüller: Weil er Jude ist?

Antisemit: Weil ich hier der Antisemit bin, du Schwachkopf!

Kriegman: Wieder ein antisemitisches Vorurteil...

Auch: Welches denn diesmal?

Kriegman: Nichtjude, also Depp.

Platzberg: Auch, machst du Sendung?

Auch: Bei dieser miserablen Beleuchtung kann ich nicht arbeiten. Sag deinen Tretsklaven, sie sollen in die Pedale treten. Danke. So, nun kommen wir zu Ihnen, lieber Antisemit. Sie sagen, Sie seien der letzte noch lebende Antisemit...

Antisemit (lacht): Nein, ich sage das nicht. Ihr sagt das.

Auch: Sind Sie der einzige Antisemit in dieser Runde?

Hüller: Das ist ja eine Fangfrage.

Auch: Was du kannst, kann ich auch, aber ich machs nicht.

Platzberg: Unsere Sendezeit...

Auch: Dann mach doch den Faktencheck.

Platzberg: Herr Sarah Zinn, wie viele Antisemiten gibt es in Deutschland?

Antisemit: Ich bin der Einzige, ich hab meine eigene Bildkolumne! Er wird gleich lügen, es gibt keine außer mir!

Sarah Zinn: Also es gibt also wie immer seit der frühen Steinzeit etwa 10% also Antisemiten in der Bevölkerung.

Kriegman: Schämt euch, Deutsche zu sein!

Sarah Zinn: Also Entschuldigung, aber also nein. Deutschland hat sich im Jahr 2039 also abgeschafft, und es gibt keine Deutschen mehr.

Antisemit: Ich muss mich nicht mehr schämen! Ist das geil!

Platzberg: Wir wollten, dass er sich bis zum Schluss dieser Sendung zu Tode schämt, und haben ihm stattdessen sein schlechtes Gewissen genommen. Toll gemacht.

Anne Kann: Sind Sie zufällig ein homophober Fleischesser mit einer negativen CO2-Bilanz, der nicht bei jeder Wahl die Grünen wählt und manchmal nichtöffentliche Verkehrsmittel ohne Condom benutzt?

Antisemit (schämt sich, bis er tot umfällt): Ja...

Sarah Zinn: Freu dich also, Michel, Deutschland ist nun antisemitenfrei!

Kriegman: Wieder ein antisemitisches Vorurteil...

Werbesprecher: Diese Khulthursendung war möglich dank Ihrer Gebüren.

 2011