Montag, 27. Februar 2017

Eine Beziehungsgeschichte




Peter traf Sandra, und es funkte. Ihre Augen waren so schön, und er guckte ihr überhaupt nicht auf die Titten, das heißt beim zweiten Date schon, und sie hatte ihn rum, denn er hatte zwei Glas Rum, und beim dritten Date guckte er ihr voll bis total auf die Titten, das heißt er musste ja, denn sie waren nackt auf einer Matratze, und er war so glücklich, doch sie brach ihm das Herz, und wer das oder ähnliches, ob so schlecht geschrieben wie das hier, oder hammergut geschrieben, gern liest, der sollte jetzt nicht weiter lesen, denn er wird seine illusorische Scheinwelt der ach so herzschmerzlichen Gefühle nicht, oder aber zu gut, wiedererkennen.

Peter war ein dominantes Männchen in Sandras Revier. An ihrem Geruch erkannte er, dass ihr Immunsystem seins prima ergänzen würde, also wollte er mit Sandra einen Geschlechtsakt vollziehen. Sandra war ein mittelprächtiges Weibchen mittleren Reproduktionsalters, und konkurrierte mit allen Weibchen ihres Reviers um ein anderes dominantes Männchen, welches aber von einem jungen und extrem attraktiven Weibchen bereits erjagt wurde. Peter hatte als dominantes Männchen viele Möglichkeiten, seinem Fortpflanzungstrieb nachzugehen, und Sandra war eine von diesen Möglichkeiten. Um anderen Männchen seine Dominanz zu zeigen, machte Peter leichtfertig Schluss mit einem attraktiven Weibchen, mit dem er sich seit Wochen regelmäßig paarte. Sandra erforderte einen nur mäßigen Balzaufwand, und Peter war gerade im Energiesparmodus - sein Magen (und dessen Reserveorgan, das Bankkonto) war prall gefüllt und es gab zu der Zeit im Revier keine ernstzunehmenden Tölpel, die mit ihm konkurrieren konnten - , also ließ er sich ohne Erwartungen auf Sandra ein. Sandra nutzte Peters Vorliebe für Alkohol aus, und verführte ihn zum öffentlichen Geschlechtsakt (Knutschen an Orten, an denen man gesehen wird, um anderen Weibchen zu zeigen, dass Peter ihr gehörte). Später paarten sie sich, und einen Tag darauf wurde das andere dominante Männchen des Reviers von seinem extrem attraktiven Weibchen für ein Männchen, das in einem größeren Revier den Ton angab, verlassen. Sandra verlor keine Zeit, und bot dem verlassenen Männchen sofort einen Paarungsakt an. So untergrub sie Peters Status als dominantes Männchen, worauf Peters limbisches System umgehend reagierte. Peter heulte und jammerte, während einige Männchen, die sich zuvor nicht an die attraktiveren Weibchen herantrauten, nun um das Weibchen, das Peter kürzlich verlassen hatte, Balztänze auszuführen begannen.

2013

Dienstag, 21. Februar 2017

Amoklauf war gestern




Lex saß mit drei Arbeitskollegen in einem Café, ohne jedoch selbst etwas zu bestellen, denn er hatte weder Hunger noch Durst. Die Besprechung war kurz und sachlich, Lex mochte keinen Smalltalk. Aus Höflichkeit blieb er noch, nachdem ein Kollege ihn auf einen Cappuccino einlud, und ließ sich in ein persönliches Gespräch verwickeln. Als die Rechung kam, nahm der Kollege seine Einladung zurück, und Lex stellte fest, dass er sein Portemonnaie im Büro vergessen hatte. Die drei Kollegen schauten genüsslich zu, wie der Kellner jeden Lösungsvorschlag des hinterfotzig Verarschten mit steigender Respektlosigkeit ablehnte, bis Lex sich wie Scheiße fühlte. Die Kollegen wiesen ihn mit pseudoeloquenten Bemerkungen darauf hin, dass sie zuviert in aller Bälde das Lokal verlassen mussten, da auf alle noch Arbeit wartete. Jede Formulierung, mit der Lex seine Kollegen höflich  bat, ihm die verfickten 2,80 doch für 15 Minuten zu leihen, wurde rhetorisch gekonnt zurückgewiesen, so dass Lex schließlich darum betteln musste. Da die verfahrene Situation das laufende Geschäft aufhielt und andere Besucher des Lokals sich unwohl fühlten, kam eine Kellnerin hinzu, und machte Lex vor allen Leuten zur Sau, nannte ihn einen Schnorrer und wer geht schon ohne Portemonnaie in ein Café. Ein Kunde schlich schließlich höflich vorbei und drückte Lex die 2,80 in die Hand. Lex versprach stotternd, das Geld in wenigen Minuten zurückzuzahlen, doch als er und seine Kollegen zum Ausgang gingen, überkam alle anderen Gäste das unbehagliche Gefühl, dass das es doch nicht gewesen sein konnte. Das war es auch nicht, denn auf dem Weg zum Ausgang drehte sich Lex vor seinen Kollegen um, und schlug den, der ihn auf einen Cappuccino eingeladen hatte, und das vergessene Portemonnaie anscheinend zuvor im Büro gesehen hatte, mit der Faust ins Gesicht. Dieser fiel auf einen Tisch, und Lex schlug ihm immer weiter in die Fresse, bis er seine Birne zermatschte. Dem zweiten Kollegen, der wie versteinert dastand, schlug Lex mit einem schweren Dekostein auf den Hinterkopf. Während dieser blutend auf den Boden sank, warf Lex dem fliehenden Dritten eine volle Flasche von den Tresen hinterher und traf ihn ebenfalls am Hinterkopf. Mit seinen Sicherheitsstiefeln der Kategorie S5 trat Lex immer wieder auf die Köpfe seiner am Boden liegenden Kollegen ein, bis ihre Schädel platzten. Danach packten alle mit an, und brachten die Leichen in den Müllcontainer hinter dem Haus. Lex wechselte die Schuhe, und lief zum Büro der Baufirma, in der er arbeitete. Er nahm sein Portemonnaie und lief zum Café zurück. Der hilfreiche Gast lobte Lex dafür, dass er ihm das geliehene Geld umgehend zurückgab, obwohl kein Pfand hinterlegt worden war, und Lex hätte genauso einfach verschwinden können. Nun hatte Lex Hunger und bestellte einen Sandwich. Der Kellner von Vorhin traute sich nicht, ihn zu bedienen; die Kellnerin von Vorhin war diesmal sehr höflich und sogar freundlich, wie auch folglich Lex zu ihr. Doch als sie sich umdrehte, klatschte er ihr so kräftig auf den Po, dass sie ausrutschte und durch den Raum flog; alle lachten. Der Kellner, der die vier Kollegen bedient hatte, bewies sein Gespür für vorauseilenden Gehorsam, und näherte sich Lex mit den Worten, er - also er, nicht Lex - sei ein armseliges nach Scheiße stinkendes Schwein, und stehe seiner - also Lexens - Heiligkeit wie ein Sklave zu Diensten. Lex gab die Bestellung nochmal auf, und der Kellner entfernte sich von ihm mit den Worten: "Ich bin eine Schwuchtel! Ich bin eine Schwuchtel! Ich bin eine Schwuchtel!" Lex wartete in aller Ruhe auf seine Bestellung, während die anderen Gäste ihn, der vor wenigen Minuten drei exzellente Architekten getötet hatte, mit größter Achtung und Bewunderung anschmachteten. Das kann es doch nicht gewesen sein, dachte Lex, und holte ein Maschinengewehr aus seinem Rucksack.


9.2014

Sonntag, 12. Februar 2017

Pinacosaurus




1. Gastonia


Die Hitze war endlich verflogen, es wehte ein frischer Wind. Die große Pause verlief weitgehend ruhig, nur Blätter von den Bäumen fielen immer wieder auf die Parkbank im Schulhof, und Arschlöcher riefen immer wieder ein bescheuertes Wort ohne jede Bedeutung in den Wind, der so herrlich über das Schulgelände wehte. Ich wollte dem Wind zuhören, und die Arschlöcher umbringen. Die Welt braucht solchen Menschenmüll nicht. Zweite Halbzeit, die ersten fünf Minuten vorbei. Null zu null, immer noch. Gleich Erdkunde beim diesem Antisemiten, dachte ich an Herrn Meier-Sonstmann, diesen erbärmlichen Wichser. Warum er mich immer wieder Alexander nannte, wo ich doch Yuri heiße? In der Sechsten war ich hoffnungslos in Nelly verknallt, nun waren die Karten neu gemischt, denn sie hatte ganz unspektakulär die Schule gewechselt.

"Yuri, in Religion hast du was über das kategorische Imperativ gesagt", fing Edmund an, als wir uns setzten. Dieses Klugscheißerarschloch, aber ich antwortete ihm trotzdem: "Der kategorische Imperativ geht so: wolle das, was Gesetz für alle sein kann". "Und konkret?" "Wenn du die Möglichkeit hast, einen Atomkrieg auszulösen, nutze sie sofort, auch wenn du selbst dabei draufgehst". Hannes mischte sich ein, der blonde Bengel, der außer Fussball nichts im Kopf hatte: "Von wem ist dieser Psychospruch?" "Der Spruch selbst von Kant, das Beispiel von mir". "Kant, der russische Schriftsteller?" bewies Edmund erneut, wie furchtbar klug er war. Die Stunde war so langweilig, wie sonst nur Religion. Unglaublich, in der Sechsten war Erdkunde mein Lieblingsfach. Ich hatte nun ein Loch von drei Stunden, in Bio dann ein Referat, zusammen mit einem stillen und schüchternen Mädchen, das zwar gut aussah, aber seit Beginn des Schuljahrs zunehmend mies gelaunt war. Ich sah sie vor einer Woche sogar heimlich weinen, aber sie blickte mich so an: wenn du es erzählst, bringe ich dich um. Mädchen weinen doch, dachte ich, es ist doch normal, dass Mädchen weinen.

Ich fuhr in den Wald gleich hinter der Schule, fand blaue Beeren, probierte, fand nicht so toll. Wahrscheinlich giftig. Dann sah ich dieses Mädchen wieder, auch im Wald. "Meinst du, Herr Meier-Sonstmann ist Antisemit?" fragte ich. "Wieso?" "Weil ich dem nichts recht machen kann. Ich glaube, er nimmt mir übel, dass es mich gibt, und nicht, ob ich mich so oder so verhalte. Das ist es doch auch, was die Antisemiten den Juden vorwerfen". Sie lächelte kaum wahrnehmbar, aber se lächelte. Es war ein trauriges Lächeln, aber ich sah sie seit Beginn des Schuljahrs überhaupt nicht mehr lächeln. Und sie war seltsam ruhig, sonst kam sie mir ja so genervt vor, dass ich dachte, sie sei paranoid. Wir fuhren zurück zur Schule, und ich hatte das seltsame Bedürfnis, auf sie aufzupassen, als ob ich etwas ahnen würde, aber das tat ich zu dem Zeitpunkt nur unbewusst. Auf dem Weg stellte sich Justin, der Abschaum der Schule, mit einer Zigarette im Mund mitten auf die Straße. Egal, was dieses kriminelle Arschloch so machte, ob er klaute, Autoscheiben zerbrach, auf die Fahrersitze pisste, Tiere quälte, die Schule anzündete, er war als ein mieses widerwärtiges Arschloch immer noch akzeptiert, ein Teil dieser Welt. Etwas, was es immerhin geben darf.

"Willst du eine allgemeine Einführung über den Pinacosaurus machen?" fragte ich sie, und sie nickte. Die Biolehrerin kam, hübsch, Mitte 30, in einen von uns beiden verknallt. Sie hörte mir mit Genuß dabei zu, wie ich den primitiven aber mörderischen Gastonia im kreativen Teil des Referats mit einem intelligenten, aber etwas leichtsinnigen Deinonychus kämpfen ließ. Der Gastonia schnitt ihm mit seiner Schwanzschere die Beine ab, und wandte sich wieder der Nahrungssuche zu. Menschen können sich sieben Dinge gleichzeitig merken, der Gastonia nur eins, so endete mein Referat. Wenn der Gastonia frisst, hat er den zurückliegenden Kampf, bei dem er selbst hätte gefressen werden können, vergessen, so cool ist er. Nicht minder cool war dieses Mädchen, ganz gelassen, drehte sich nicht mehr um, wie all die Tage, reagierte auf Nachfragen ihrer Freundinnen nicht mehr gereizt, sagte ihnen, dass sie auf jeden Fall auf diese Klassenfahrt im September mitfahren würde. Ihr dunkles glattes Haar gefiel mir, aber auch ihre misanthropische Art. Es war so, als ob sie ihren eigenen Meier-Sonstmann hatte, stellte ich auf dem einsamen Heimweg fest, aber dieser war bei ihr diffus und überall, in jedem Gesicht, in jedem Blick, der etwas hätte ahnen können, was nicht hätte sein dürfen.

"Yuri, wie machst du diese Lupfer?" wollte Hannes wissen, als wir uns am Bolzplatz trafen. Ich zeigte es ihm. Dann was das Spiel, ich spielte den tödlichen Pass auf diese hinkende Missgeburt Tobias, und schoss das entscheidende Tor zum 6:5. Ich war der Held des Tages, Mädchen flirteten mit mir, aber ich sprang schnell auf mein Fahrrad, und sagte noch, es sei alles so tief egal, wie kein Selbstmörder in den Grand Canyon springen könne. Als ich in den Wald fuhr, spürte ich die Kälte des Kosmos, die mich bis zu den Knochen durchdrang. Ich sah eine Menschenmenge am Schulgelände, und ein furchtbar trauriges Mädchen mit wasserstoffblondem Haar, das sich der eigenen Traurigkeit furchtbar schämte: bloß nicht weinen, muss sie gedacht haben. Ein Krankenwagen stand vor der Eingangstür der Schule, eine Leiche wurde hineingetragen, ja, ich sah deutlich, dass es eine Leiche war. Ich hielt neulich in Physik ein Referat darüber, dass wenn man sich in den Kopf schießt, man überhaupt nichts merkt, weil die Kugel das Bewusstsein im Hirn schneller neutralisiert, als das Hirn den Schuss wahrnehmen kann. Ich sagte noch, dass der Schuss, den ein Soldat hört, schonmal kein Treffer ist, weil die Kugel schneller als der Schall fliegt. Da hat sich jemand mein Referat zu Herzen genommen. Ich wusste sofort, wer es war, und ich hasse euch alle, der Herr Meier-Sonstmann ist noch der Vernünftigste von euch, er mag mich einfach nicht. Aber ihr verfluchten Mörder, ihr werdet dafür in die Hölle kommen, und wenn es keine gibt, werde ich einen Nobelpreis dafür bekommen, eine erfunden zu haben. Eins musste ich noch tun. Ich lief zu diesem hellblonden Mädchen, das den Kampf mit den Tränen verlor, und nun laut weinte, während alle nur gafften und schwiegen. Ich sprach sie laut an und sagte, ich sei schuld, ich hätte dieser Irren das mit dem Selbstmord in den Kopf gesetzt, und nicht die Gemeinheiten des Mädchens wären schuld, schließlich hätten alle mitgemacht. Ich wusste, dass sie die Einzige war, die nie dieses gemeine Wort zu ihr sagte.




2. Ankylosaurus


Das Wort, die Haarspitzen des vom Planeten gemobbten Mädchens. Ihre hellblonde Freundin hielt nun mit aller Kraft daran fest. In den Herbstferien kamen wir uns näher, und zwar am Friedhof. Sie war jeden Tag dort, gleichgültig am alten Grab ihres Großvaters vorbeispazierend, zu einem jungen, ansehnlichen Grab einer furchtbar geliebten Tochter und Mitschülerin. Sie bemerkte, dass die exotischen Blumen, über deren Herkunft alle gerätselt hatten, von mir waren. Jeden Morgen stand ich früher auf und fuhr auf den Friedhof. Wäre ich nicht dorthin gefahren, hätte ich keinen Fuß mehr in die Schule gesetzt. Ich bring euch um, dachte ich nur, ich bring euch um. Sie hieß Emilie und ihr tränenfeuchtes Gesicht war das Einzige, was ich noch sehen konnte, ohne mich übergeben zu müssen. Gut, den Ankylosaurus konnte ich auch ganz gut leiden; er hatte eine knöcherne Keule am Schwanzende, die nicht zu verachten war. Ich wollte ein gepanzerter Dino sein, als ich sah, wie Emilie den Kontakt zu all ihren Freundinnen abbrach und nur noch weinte.

Im Oktober zeigte sich der Ernst der Sache von seiner Breitseite. Ich würde mich nicht so gut daran erinnern, wenn es bloß filmreifer Tränenkitsch wäre. Die Beiden hatten sich sehr wohl getraut, es untereinander auszusprechen - die Sprachlosigkeit war nicht der Grund für die Katastrophe. Jetzt aber, wo Emilies Freundin tot war, und ihr nichts und niemand mehr schaden konnte, auch Emilies offenes Bekenntnis nicht, stellte sich die schuldige Überlebende stur dem Stahlgewitter aus Lachen entgegen. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um klar zu machen, dass sie in die Tote verliebt sei. Ihren Eltern wurde es zu viel, und sie durfte nicht mehr das Grab ihrer Freundin besuchen. Es muss noch etwas passiert sein, wovon ich nichts weiß, aber ich kann nur versichtern: wenn es das ist, was ich denke, werde ich alle Familien der Leute, die daran auch nur passiv beteiligt waren, auslöschen. Es muss etwas passiert sein, denn an einem Tag Ende Oktober weinte Emilie zu letzten Mal. Das Buch über Paläontologie, das sie mir an dem Tag vollweinte, brachte ich nicht in die Stadtbibliothek zurück, sondern klaute es im Nachhinein, verschloss es für immer in meinem Tresor im Keller. Die Schwanzkeule des Ankylosaurus konnte Emilie ein Lachen entlocken, durch die Tränen hindurch, das werde ich dem lieben Ankylosaurus nie vergessen.

Im November brach Emilie den Kontakt auch zu mir ab, und ich dachte mir eine Strategie aus, die mir ermöglichte, etwas zu sehen, was ich als nächsten logischen Schritt vermutete. Emilie machte es mir nicht leicht, denn in den verdammt langen Ärmeln verschwanden sogar ihre Hände. Sie war so blass, ich wollte schon zu einem Lehrer gehen, zu irgendeinem Vollidioten, ich hatte große Angst, sie würde die Weihnachtsferien in einer Blutlache verbringen. Einmal war ein günstiger Moment in der Mädchenumkleide, da sah ich sie in Unterwäsche, und nein, ihre Arme waren nicht mit Schnitten verziert, aber es war das Grausamste, was ich bis dahin gesehen hatte. Emilie wusste zu verbergen, wie extrem sie abgemagert war, sie trug immer mehrere Schichten Kleidung. Was bildet ihr euch alle ein, ihr hättet ein Recht zu leben? Es war Weihnachten, ich bedankte mich höflich für die Geschenke, und warf sie vor den Augen meiner Eltern und Großeltern in den Müll. Die Oma freute sich so, mich nach einem halben Jahr wieder zu sehen, denn meine Großeltern wohnten sehr weit. Nun, ich kiptte mein Leibgericht, dass sie extra für mich an dem Tag gekocht hatte, und das sonst keiner mochte, direkt ins Klo, und sagte: "Erschießt mich, kommt! Ihr seid nicht besser als die Nazis, dass ihr Weihnachten feiert". Es ist alles leise über die Bühne gegangen. Ich war schon als Siebtklässler ein stiller Mensch, aber meine Worte waren stets deutlich.

Im Deutschunterricht verteilten sie das Grundgesetz, und ich strich den ersten Artikel bei mir durch. "Was machst du da?" fragte der Lehrer, ein Philanthrop und Idealist. "Ich merze die Lüge aus", sagte ich, und musste zum Rektor. Hannes und Edmund hatten mich zu meiner großen Überraschung enttäuscht: die beiden Petzen, Ratten, Denunzianten haben alles für sich behalten, was ich ihnen seit Ende November an Witzen und Bemerkungen rübergeschoben hatte, - diese waren rassistisch, antisemitisch, behindertenfeindlich, genozidverherrlichend. Ich wollte so gern schuldig sein, böse, nur so konnte ich meine Existenz noch für gerechtfertigt ansehen. Was ich sechs Wochen zuvor noch für den grauenerregendsten Horror meiner ganzen ästhetischen Erfahrung gehalten hatte, erschien mir am ersten Februar im Rückblich fast schön, wie etwa ein hart kritisiertes, aber dennoch insgeheim bewundertes Magermodel. Wegen angeblichen Kopfschmerzen nahm Emilie am Sportunterricht lange nicht mehr teil, aber ich sah sie dennoch wieder halbnackt, an dem Tag, als sie die Mädchentoilette wegen eines Pausentreffens ihrer früheren Freundinnen mied und in die Jungentoilette stolperte. Sie brach zusammen, ich trug sie in ein Krankenzimmer, legte sie auf eine Liege, und schaute ihr unter die Kleidung, die nun so dick war, wie die Knochenplatten der gepanzerten Echsen. Was ist ein menschlicher Körper zäh - immerhin konnte sie mit dieser auf bleiche Haut und dürre Knochen reduzierten Figur noch gehen.

Ich rief den Arzt, meinen Vertrauenslehrer, und noch mehr erwachsene Arschlöcher, und sie brachten das Mädchen weg. Am nächsten Tag war es so, als hätte sie nie existiert, eine seltsam perverse Erleichterung schlich nun durch die Arschgesichter, und alle waren so verbrecherisch gut gelaunt. Hannes zeigte mir stolz ein Mannschaftsposter seines Lieblingsvereins, worauf ich sagte: "Die sollte man alle zusammen schön vergasen", was der Lehrer hörte, und weshalb ich wieder zum Rektor musste. Den Gespräch zwischen meinem Eltern, zwei Lehrern und dem Schulrektor bezeichnete ich als Wannseekonferenz. Verzweifelt rief mein Vater: "Junge, was willst du eigentlich!?" Ich sah ihn ruhig an und sagte: "Ich will eine Zeitmaschine, die mich nach Verdun bringt, damit ich sinnvoll sterben kann". Der Jura wäre auch eine Reise wert gewesen: ich hätte einen Ankylosaurus so lange provoziert, bis er mich mit seiner Schwanzkeule erschlagen hätte. Am nächsten Tag ging ich zur Polizei und verlangte, mich einzusperren, sonst würde ich in einer SS-Uniform zur Schule erscheinen. Als meine Mutter Tabletten schuckte - natürlich nicht, um sich umzubringen, sondern um erbärmlicherweise einen Hilfeschrei an die Welt zu senden - , versprach ich ihr, mit dem Blödsinn aufzuhören, aber nur aus moralischer Pflicht, aus der Achtung der Menschheit in meiner eigenen Person. Indessen achtete ich die Menschheit in einer ganz anderen Person, von der im März nur noch ein schönes junges Grab übrig blieb, geometrisch so weit wie möglich vom Grab des anderen Mädchens entfernt, da haben die Eltern wieder einmal nur an ihr Kind gedacht.




3. Aletopelta


Man glaubt nicht, wie schnell alles vergessen ist. Im April taten alle so, als sei nichts gewesen. Am 20. hätte ruhig einen geschmackloseren Witz reißen können - niemand hätte dies in einen Zusammenhang mit früheren Ereignissen gebracht. Ich war wieder dieser coole Misanthrop, der Einzelgänger Yuri, der seiner Eitelkeit wegen ein Außenseiter sein wollte. Mich beneideten die Jungs, mir schauten die Mädchen hinterher, so als hätte ich keinen sogenannten Gesichtsverlust erlitten. In den Sommerferien arbeitete ich ehrenamtlich als Gärtner und Grabpfleger auf den Friedhöfen der Kriegstoten, andere Tote verachtete ich ganz schön tief: für nichts gelebt, für nichts gestorben, wie Tiere. Mir wurde Geld angeboten, aber ich lehnte immer schroff ab, mit der Begründung, dies sei eine Beleidigung für mich. Meine Eltern flogen in den Urlaub nach Andalusien, ich nach Auschwitz. Man fragte mich, ob ich jüdischer Abstammung sei. Ich sagte: "Ich freue mich, dass ich kein Jude bin, denn ich will kein Verständnis dafür haben, wie sehr ich die Menschen verachte. Zum Glück wurde meinen Vorfahren nichts angetan, auch mir nichts, ich sehe nur objektiv die Welt, wie sie ist, und ziehe meine Schlüsse daraus". "Aber du hast doch die drei Skins Hurensöhne genannt, die den Holocaust geleugnet hatten". "Ich habe drei Hurensöhne Hurensöhne genannt, weil es Hurensöhne waren. Hätte es das ganze verfluchte Jahrhundert vor uns nicht gegeben, wäre die Welt kein Stück besser". Man respektierte mich. Die Skins hätten mich verprügeln können, aber die Entschlossenheit in meinen Augen war ihnen zu viel. Sie gingen weite Wege um mich herum, dachten, ich sei doch Jude, und außerdem Russe, also müsste ich eine AK-47 in meiner Reisetasche haben.

45 durch 6 und plus 45, das heißt, es war die neunte Minute der zweiten Halbzeit. Klasse 8 im Volksmund. Auswechslungen: vier Statisten. Einwechslungen: ein Koreaner und ein Mädchen. Der Koreaner war sofort mein Freund, ein Mathegenie, ein korrekter Typ, gut im Tor. Das Mädchen kam, wie ich, aus Kasachstan, wurde aber noch als Kleinkind mitgeführt, so dass sie kaum Erinnerungen an die alte Heimat hatte. "Wie nennt man euch eigentlich? Kazakistani?" witzelte Nolberto, die dritte Einwechslung, von der ich erst kurz vor den Herbstferien Notiz nahm. "Die Mafiosi müssten doch wissen, dass selbst Neger mit ihren lustigen Speeren den Spaghettifressern den Arsch aufreißen können", spielte ich auf die Niederlage Italiens im Eroberungskrieg gegen Abessinien an, "da ist ein Kasache doch gleich Dschingis Khan". Nolberto murmelte nur: "Dafür haben wir die verdammten Neger vierzig Jahre später aus der Luft vergast". Ich sprach den Lehrer darauf an, was ich sonst nie tat. Er meinte aber, der Neue sei beleidigt gewesen, und meinte es gar nicht so. Stimmt, ich habe in der Vergangenheit aus geringeren Anlässen provoziert.

Das Mädchen hieß Alina, und war eine dunklehaarige Elfe. Die Herbstferien verbrachte ich fern von meinen Schulfreunden bei meinen Großeltern, buddelte ihnen den ganzen Garten durch, arbeitete zehn Stunden am Tag, manchmal mehr. Ich nahm sogar wieder Geschenke an, und war auf zwei Geburtstagen zu Diensten. Die weiträumig umfahrene Realität holte mich am ersten Schultag nach den Ferien ein, als die Tafel aufgeklappt wurde, und dort Weiß auf Asphaltgrau stand, Yuri sei in Alina verknallt. Ich muss gestehen, das stimmte soweit, aber ich wurde nicht rot, ich wurde blass. Ich wurde fast ohnmächtig, legte mich auf die Liege im Krankenzimmer, kam zur nächsten Stunde wieder. Sie sah mich kurz und verspielt an. Ich ignorierte sie, hörte dem Lehrer bei seinem Frontalunterricht zu. Ich dachte noch, was tropft da so Warmes von der Decke, hat die verfluchte Heizung ein Leck, bis mich Nolberto darauf hinwies, dass es meine Tränen waren. Ich war gar nicht traurig, nur extrem verwirrt. Am nächsten Tag und am Tag darauf ging es wieder; ich schaltete auf Tunnelblick, wie man mir später sagte. Alina ließ sich nicht ein weiteres Mal ignorieren, und ließ mir einen Brief zukommen. Da waren Herzchen drauf und all das obligatorisch kitschige Zeug, wovon mir schlecht wurde, und weshalb ich wie ein Pfeil aus dem Klassenzimmer auf die Toilette rannte. Ich konnte brechen noch essen, wurde anschließend apathisch, kam in eine Nervenklinik.

Kurz vor Weihnachten entließen mich diese Arschlöcher wieder, zum Glück bin ich nicht tablettensüchtig geworden. Wie ein weißer Engel im Schnee bewegte sich Alina leichtfüßig über den Schulhof. Sie freute sich, mich wiederzusehen, sagte, man hätte irrwitzige Geschichten über mich erzählt. Welch ein Abschaum, dachte ich, kaum bin ich weg, schon reden sie wieder über all das, was mal so plötzlich vergessen wurde. Ich wurde wieder leichenblass, konnte mich aber auf den Beinen halten, und fragte sie, was in diesem Brief stand. Sie gab ihn mir wieder, und ich las: "Vereint im Unglück namens N." - was sollte das wohl bedeuten? Der Zufall zeigte es mir, als ich aus Unachtsamkeit in die Parallelkasse ging, und dort diese aberwitzig aussehende Nelly wieder sah: ein Gesicht wie aus dem Kindchenschema geschnitzt, genauso wie damals in der Sechsten, und eine elegante, fast erwachsene Figur, nur nicht mit dem obszön großen Arsch wie bei denen über 15. Klein, zierlich, verführerisch, zickig, gemein, genau mein Typ, und offenbar auch Alinas Typ. Mein Gesicht bekam Farbe, ich wurde knallrot. "Ein Dreieck mit einer Null am Ende", sagte ich zu Alina, "ich bin in dich verknallt, du in sie, sie aber nicht in mich". Alina brach eine Schneeballschlacht vom Zaun, die Mädchen und der Pate gegen den unausstehlichen Kazakistani. Am Heiligabend sind die Straßen so angehnem lehr, so war es auch in jenem Jahr. Ich ging auf den Friedhof, und sagte zweimal "Frohe Weihnachten". Ich werde weiter leben, dachte ich auf dem Heimweg, aber mit einem Aber, so unübersehbar, wie das Rückenhorn des Aletopelta.




4. Minmi


Es war ein teuflischer Frühling: alle hatten nur noch Ficken im Kopf. Der Phallus des Luzifers, der Mittelpunkt der Welt. Je aufreizender sich die Mädchen anzogen, umso mehr ging ich auf Distanz. Einige wurden ja schon längst 14, waren spitz wie Karnickel im Abendsonnenschein. Auch mir wurde das traurige Schicksal zuteil, in ein Alter zu kommen, in dem Vergewaltigung strafbar ist. Ernsthaft: aus der selbst gewählten Außenseiterei wurde ein diskriminatorisches Ausgegrenztsein. Man riss Witze über mich, viele nannten mich Schwuchtel. Doch nichts traf so hart wie der Anblick von Alina und Nelly, die im Pausenhof öffentlich knutschen: hatte Alina im Herbst noch Gefühle für Nelly, so war jede kindliche Romantik verflogen, und die beiden Nutten leckten sich nun die Mäuler, um die Typen aufzugeilen. Als wäre ich von einem Märztag auf den anderen in Sodom aufgewacht. Nolberto meinte es gut mit mir, gab mir Tipps, bei welchen Mädchen ich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Chance hätte, und er beleidigte mich nicht: es handelte sich überhaupt nicht um jene, die den Typen ihrer ersten, zweiten, dritten Wahl nicht bekamen, und nun irgendeinen haben wollten, um nur nicht allein zu sein. Nein, es waren wirklich schöne Mädchen, die auch mir durchaus gefielen. "Sie wundern sich immer: warum spricht er kein Mädchen an? Ist er vielleicht schwul?" berichtete mir Nolberto. "Aber nur vielleicht", klopfte ich ihm auf die Schulter, und bat ihn, mich nicht mehr mit diesen Nichtigkeiten zu belästigen.

Auch ich wurde scharf wie ein Osterhase, aber ich kam damit überhaupt nicht klar: wie, ist die unschuldige Romantik denn schon vorbei, kann ich nicht mehr ganz normal verknallt sein, ohne schweinische Hintergedanken? Die Mädchen veränderten sich schlagartig: mit keiner konnte man mehr normal reden. Entweder will man was von ihr, oder was will man von ihr? Der einzige, der nicht schwul war, war wohl ich: die Anderen zeigten einander ihre steifen Schwänze, wichsten zusammen. Ich rührte meinen Schwanz nicht mal an, außer um ihn beim Pissen in Position zu bringen. Nachdem ich eine Ladung Ejakulat in meinem Biobuch fand - was für ein galanter Streich - , tauschte ich meine sämtlichen Schulbücher aus und kaufte mir einen metallenen Aktenkoffer. Beim Aussortieren von alten Sachen im Keller fand ich dieses Paläontologie-Buch wieder. Als hätte man die Zeit zurückgedreht, sehr weit zurück. Die Verniedlichungsform von Yuri heißt Jura, wie das Zeitalter der geilsten Dinosaurier. Ich schaltete in der Schule wieder einmal auf Tunnelblick, beachtete das Bordell um mich herum kein Bisschen. Um etwas Kohle für ein neues Fahrrad zu scheffeln, nahm ich einen Job als Nachhilfelehrer für die Klassen 5 und 6 an. Ich konnte gut erklären, die Kindlein hörten mir gebannt zu. Bald verbrachte ich mit denen mehr Zeit, als mit meinen Klassenkameraden. Als ich eines Nachmittags heim fuhr, erwischte ich mich bei dem Gedanken, Eltern, Lehrer oder Pfaffen zu töten, sollten sie eines dieser kleinen Mädchen anrühren.

Ich ließ jede Party an mir vorbeisausen, und machte mich Ende des Schuljahrs endgültig zum Ausgestoßenen. Ein Y statt "ie", das Haar fast schwarz statt hellblond. Der Name machte mir viel zu schaffen, ich hatte jede Nacht Alpträume. Das Mädchen wurde im Juni 11, sah aber noch kindlicher aus. Ich war 14, im Fickalter. Was tun, ich hatte mich diesmal bis zur Unkenntlichkeit verliebt. Wie auf Koks, oder auf LSD, oder auf einer Droge, die noch nicht erfunden wurde, liebte ich die Welt, die Menschen, die Tiere, die Sterne, sogar mich selbst. Ich war nicht nett, ich war aus tiefstem Herzen freundlich und wünschte jedem nur das Allerbeste. Der Rausch verflog, als in der lokalen Kirchengemeinde ein Missbrauchsskandal losbrach. Wurde auch Emily missbraucht? Könnte jemand es vor haben? Ich wurde paranoid, und es war schwer, es vor dem Mädchen zu verbergen. Mit ihr darüber reden wollte ich auch nicht, das wäre eine Zumutung für ein elfjähriges Mädchen. Ich stieg auf einen kahlen Berg, streckte die rechte Hand zur Sonne aus, und schwor mir, alles Notwendige zu tun, und bekannte mich, dass jede meiner Taten heilig sein würde. Ich bereitete mich auf den Fall vor, besorgte Schusswaffen und einen Kartoffelsack Munition. Es half nichts, die Liebe meines Lebens wurde von Misstrauen und Angst zerfressen, bald konnte ich Emily nicht mehr sehen. Sie war auch gar nicht in mich verliebt, hatte mich aber sehr gern, und das war für mich das Größte an Liebe, was ich bis dahin - und bis heute - von einem Menschen erfuhr. Sie vergaß mich schnell, als ich den Nachhilfejob schmiss und nicht mehr bei ihr auf dem Spielplatz auftauchte. Ich begann, Erwachsene zu beobachten, die vielleicht Kinderschänder sein könnten.

Klasse 9, erster Tag. Nein, Emily hatte mich doch nicht vergessen. Sie nahm es mir übel, dass ich seit drei Wochen nicht mehr mit ihr spielte, und machte überall Andeutungen, ich sei in sie verliebt gewesen. Und natürlich kennt der widerlichste denkbare Abschaum Verliebtsein nur als Fickenwollen, und ich bewegte mich, wie ich feststellen musste, mitten im ausrottungswürdigsten Kakerlakenkaff der Welt. Yuri interessiert sich nicht für Mädchen? Doch, ihr Hurensöhne, aber nicht so wie ihr. Ist Yuri schwul? Nein, er will bloß keine Nutten ficken, sondern in ein Mädchen verliebt sein. Ist Yuri pädophil? Darüber ging die erste Unterrichtsstunde des nächsten Tages. Die Lehrerin erklärte mir, was es für ein großer Unterschied sei zwischen 14 und 11, und dass meine sexuelle Perversion therapierbar wäre. Ich hörte mir die Ungeheuerlichkeiten in Ruhe an, aber am Ende der Stunde wurde es mir doch zu viel. Ich stand auf, kam auf die Lehrerin zu, eine Frau Mitte 40, sah ihr in die Augen und sprach: "Du verfluchte Nazitocher, tut mir leid für dich, dass deine Zeit vorbei ist, ich rate dir, dich heute Abend zu erhängen, damit du im ewigen Auschwitz endlich deinen verfickten Vater wiedersiehst". Alle Münder waren offen, nur mein Mund war zu. Der Rektor gab mir 24 Stunden, mich in aller Form zu entschuldigen, oder ich würde von der Schule fliegen, und er dafür sorgen, dass ich nie wieder auf deutschem Boden einen Fuss in ein Gymnasium setzen kann. "Auf deutschem Boden?" fragte ich nach. Er schüttelte mit dem Kopf und schwieg. "Ich erwarte von euch Mördern und Kinderschändern eine Entschuldigung, und ihr habt genau eine Stunde", wurde ich deutlich und fuhr nach Hause.

"Das ist kein Amoklauf", sagte ich, als ich im Klassenzimmer Geiseln nahm, "ich werde euch im Namen des Rechts hinrichten, nicht aus Verzweiflung abknallen". Ich ließ einen Großteil der Schüler durch Lehrer austauschen, hielt lange Tiraden, belehrte dieses Vieh, dass jemand, dem nur ein Gedanke an das Leid eines missbrauchten Kindes so unerträglich ist, dass er nicht mehr leben will, sich von diesen noch im besten Fall den Kindesmissbrauch in ihrer Gesellschaft billigend in Kauf nehmenden Unmenschen doch nicht "pädophil" nennen lassen könne. Dennoch saß ich nun in einer Sackgasse: was tun? Töten wollte ich niemanden, denn ich konnte nicht nach bestem Wissen und Gewissen davon ausgehen, dass sich im Raum auch nur ein tatsächlicher Kinderschänder befand. Fast jede zweite Ehe auf deutschen Boden wird geschieden. Das war meine Rettung. Der Vater - nicht der gleichgültige Stiefvater - des hellblonden Mädchens, der von ihrer Mutter einst weggeekelt wurde, war einer der Polizisten, die die Schule stürmten, gar ein hohes Tier. Er hatte von diesem Jungen gehört, der verzweifelt um das Leben seiner Tochter gekämpft hatte, und nun hatte er diesen Jungen vor sich. Er sprach ruhig, wie ich zu sprechen gewohnt war, und stellte klar, dass die Geiselnahme für mich keine Konsequenzen haben würde. Seine Untergebenen nickten hündisch, unter den Lehrern, die zum Mobiltelefon griffen, gab es drei-vier gebrochene Nasen. Bis alle Waffen verschwanden und alle Spuren getilgt waren, durfte niemand die Schule verlassen. "Es ist nichts geschehen", sagte Emilies Vater, "sonst werdet ihr daran noch erinnert, was hier geschehen ist". Das Gesetz triumphierte, das Verbrechen musste sich die Nase richten lassen; an jenem Abend fragte er mich, mit den Tränen kämpfend, was das für ein Tier sei, dessen Bild den größten Kranz am Grab seiner Tochter schmückte. "Ein Minmi, ihr Lieblingsdino", sagte ich, und dann weinten wir wie Männer, still, ohne Worte, und ohne uns gegenseitig zu trösten. Danach hatte ich in einer Polizeikneipe mein erstes Bier.




5. Minotaurasaurus


"Nein, ich komme aus Ecuador. Vor fünf Jahren sind wir nach Sizilien eingewandert" "Warum, Nol?" "Kindisch, aber wegen dem Kraken. Ich wollte unbedingt Italiener sein, und mein Vater hing dieser naiven Mafia-Romantik nach. Ich habe mich mit Jungs auf dem Schulhof sogar darum geprügelt, wer cooler ist, Terrasini oder Antinari". "Und was macht ihr Äquatorialtrottel im kalten Deutschland?" "Mein Vater hat die Mafia-Leute wie ein Wahnsinniger belästigt, er wollte unbedingt einer von ihnen sein. Als er Mafioso war, war ihm der Aufstieg nicht schnell genug, und er fand dann doch nicht das, wonach er gesucht hatte. Ein Lokalboss gab ihm 24 Stunden, um sich zu verpissen. Am nächsten Tag kamen wir in Frankfurt an. Wir sind im Grunde zwei kleine Jungs, mein Vater und ich, beide ohne Mutter aufgewachsen". Ich schaute auf die Uhr: gleich müsste Nolbertos Zug ankommen. Ich hatte ja die Schule gewechselt, war nun drei Fahrradstunden weiter eingeschult, und musste jeden Tag 55km mit dem Zug zur Schule fahren. Meine Eltern hatten noch ihre Arbeit in dem Ort, was los? Ich ging natürlich nur vom Elternaus zum Bahnhof und zurück, und wenn ich mich noch mit jemandem aus früheren Tagen traf, dann in dem Ort, wo ich nun zur Schule ging, und manchmal in einer Jugendherberge schlief. Ich machte ein Praktikum im Museum, wollte unbedingt Paläontologe werden, um Dinosaurier nach zwei bestimmten Mädchen benennen zu können.

In Klasse 10 liest man gewöhnlich keinen Kuhn, aber mir war danach. Ich sehnte mich nach einem Paradigmenwechsel - der Schulwechsel sorgte mitnichten dafür, dass meine Motivation, am Leben zu bleiben, anstieg. Ich las Geschichte. Im Politikunterricht ging es mal um eine Todesstrafe-für-Kinderschänder-Aktion von zehn oder zwölf Leuten in der Innenstadt, die jeder blöd fand, und meinte, die Täter seien nur krank, und man müsste ihnen doch helfen. Ich erwiderte, die ganze verdammte Gesellschaft hier sei auf Hitler fixiert, diesen kranken erbärmlichen von Skrupeln zerfressenen Psychopathen, und ignorierte jeden anderen Verbrechertyp. Ich führte Hitlers großes Vorbild an, Dschingis Khan, den mit Lust mordenden Feingeist, und Timur Lenk, den lahmen Enthaupter ganzer Städte. Und noch perversere Schweine brachte ich ins Spiel: gar nicht erst pädophile Väter, die, weil sie die Macht dazu haben, ihre Kinder als Ersatzobjekt missbrauchen. Die Lehrerin wollte schnell das Thema wechseln, doch ich fragte sie, ob sich das Nachkriegsdeutschland als eine Gruppentherapiegruppe für den Patienten aus Braunau sah, und ob die Lehrerin selbst als Kind sexuell missbraucht worden sei. Die Rektorin war fassungslos. Ich weiß, dass ihr mit 15 genau wisst, in was für einer Welt ihr lebt, aber wo sind deine 15 Jahre Erziehung, Junge, du müsstest doch bestimmte Redetabus höher anerkennen, als alle religiösen und moralischen Gebote! - übersetzte ich ihre lange heuchlerische Tirade in Klartext.

Die Politiklehrerin erschien eine Woche nicht mehr in der Schule, und unternahm in der Zeit einen Selbstmordversuch. Ich wurde von meinen neuen Mitschülern nun konsequent gemieden, aber ich interessierte mich auch nicht für sie. Mit zitternder Stimme rief mich Nolberto an und sagte, Emilies Grab sei geschändet worden. Es war kurz vor Mitternacht. Ich setze mich auf mein Fahrrad und fuhr hin. Um drei war ich am Friedhof, hatte eine Eisenstange und eine mitgebrachte Kleinpistole mit. Fünf Jugendliche suchten das Grab des zweiten Mädchens, nach dem Dinosaurier benannt werden sollten, doch ich fand sie früher. Ich schoss ihnen in die Kniescheiben, machte ihre Fressen ihrer inneren Schönheit entsprechend, bohrte jedem noch die Eisenstange durchs Knie. Die Welt hatte fünf Behinderte mehr, und ich hatte in den Sommerferien die Kunst der Spurenbeseitigung nicht umsonst von Emilies Vater erlernt. Die nächste Woche sah ich in den Pausen meine Politiklehrerin weinen und Tabletten schlucken. Als niemand in der Nähe war, setzte ich mich zu ihr, und sagte, jede Todesstrafe sei noch ein zu schneller Tod für diese Schweine, und dass ich Folterlager für solche Menschen errichten würde. Wir trafen uns dann oft heimlich nach der Schule, ich war ihr "schwuler Freund", mit dem sie reden konnte, wie mit keinem sonst. Sie war Mitte 30 und durchaus schön. Als sie mich nach meiner Freundin fragte, sagte ich die Wahrheit. Nein, ich war nicht nicht an Mädchen interessiert, aber ich war dem Gedenken von zwei Mädchen verpflichtet.

Das Ende der Kreidezeit war im Herbst mein Hauptforschungsgegenstand, darüber hinaus lernte ich wie besessen für Biologie und Chemie. Zwei Leichtathleten erschienen im Oktober in Rollstühlen zu einem Wettbewerb im Weitspringen, den meine neue Schule für Schulen im Umkreis von 60km organisierte. Der gutherzige Nolberto war bei ihnen, und sagte die ganze Zeit, wie leid es ihm tat. Ich sagte ihm später nicht, wer der Arzt und Schönheitschirurg dieser Hurensöhne in jener Nacht auf dem Friedhof war. Emilies Vater war nah dran, Emilies Stiefvater als einen sadistischen Verbrecher zu überführen. In Wirklichkeit quälte dieses Arschloch nur Tiere, aber wenn ein Tier Tiere quält, ist es dasselbe, als wenn ein Mensch Menschen quälte. Ein Typ aus meiner Schule gewann, obwohl er die Rekordweite vom letzten Wettbewerb um einen halben Meter verpasste. Ich ging zu den Rollstühlen, und hörte mir erst aus der Distanz ihr hilfloses Fluchen und ihren beißenden Spott an, dann zeigte ich ihnen ein Tier aus einem alten Paläontologiebuch und sagte: "Das ist der Minotaurasaurus, Jungs. Ich glaube nicht, dass er weit springen konnte. Ihr hättet ihn wahrscheinlich geschlagen. Aber um ihn fertig zu machen, musste erst ein Stein größer als der Mt.Everest auf die Erde fallen. Euch hat, wie ich hörte, irgendein dämlicher Penner so zugerichtet. Viel Spaß noch im Leben, Aussehen ist nicht alles, und weglaufen tun eh nur Feiglinge". Am nächsten Tag gab es nur noch einen Ex-Leichtathletiker aus meiner früheren Schule. Es muss eine stundenlange Debatte im Kopfparlament des Selbstmörders stattgefunden haben, denn er schnitt sich die ganze Nacht in den Arm, und verband die Wunde wieder, was er mit dem anderen Arm wiederholte, dann wieder mit dem ersten, und dann nochmal mit dem zweiten. Schließlich verlor er zu viel Blut und starb. Ein Massensterben ist, wenn sehr viele Tiere sterben, aber die Arten weiter bestehen bleiben. Von einem Massenaussterben spricht man, wenn ganze Arten vom Angesicht der Erde verschwinden.




6. Euoplocephalus


Als die Moschee nicht weit von meiner Schule angezündet wurde, schloss ich mich einer linksradikalen Bewegung im Ort an, die der Tatenlosigkeit der Polizei nicht tatenlos zusehen wollte. Ich stand diesen Leuten, von denen die Hälfte meine Mitschüler aus chronostratigraphisch tieferen Jahrgängen waren, jedoch nur tätlich zur Seite, die Treffen bis Mitternacht mit den Endlosdebatten über das Ende des Kapitalismus wollte ich mir nicht antun. Es war eigentlich ganz schön sinnvoll, gewaltlos gegen Diskriminierung zu kämpfen, aber es hatte auch eine Schattenseite: nun hatte ich lauter orientalische Freunde am Hals, die mich zum Islam bekehren wollten. Diese morgenländische Freundlichkeit war mir so zuwider, dass ich mich irgendwann nicht mehr engagierte, aber als es darauf ankam, und die Antifaschisten haufenweise hinter den Schürzen der keinen Zeit und der anderen Sorgen verschwanden, war ich wieder dabei. Ein neuer evangelikaler Prediger aus Virginia hetzte Neonazis und Neuneonazis - die in seiner Kirche zu Neonazis gewordenen Hurensöhne - auf alles, was islamisch aussah. Ich ging jeden Tag in die Moschee, half, die Nazischmierereien zu beseitigen, gründete eine Schülergruppe für die Verteidigung des Rechts auf Religionsfreiheit, stritt für islamische Gebetsräume und für das Kopftuch, hielt endlich ein Referat über den 11. September, in welchem ich den Schwerpunkt auf die Unschuldsvermutung legte. Den Amiprediger traf ich bei einem Kinderfest, auf dem er Grundschülern erklärte, dass Homosexuelle in die Hölle kommen würden. Ich riss Witze über den 11. September, bis er vor Wut auf mich losging. Er war doppelt so alt wie ich, aber halb so reaktionsschnell. Ich schlug ihn in einem klaren Fall von Selbstverteidigung brutal zusammen. Er trat nie wieder irgendwo auf.

Ich hatte Ruhe und Respekt, feierte ein frohes Weihnachtsfest mit und bei meinen Großeltern, und war stets mit allem Möglichen beschäftigt, nur nicht mit mir selbst. Ich ignorierte die Alpträume, die ich immer noch jede Nacht hatte, und wenn ich mich an die Träume nicht erinnern konnte, wachte ich dennoch am Boden zerstört auf. Mit einem Karim aus Beirut, der mit 149 einen fünf Punkte höheren IQ hatte als ich, gründete ich in der Moschee einen wöchentlichen Gesprächskreis zur Vereinbarkeit von Islam und westlichen, humanistischen, sprich menschlichen Werten. Lange wurden wir nicht geduldet, der Imam löste nach drei Sitzungen den Kreis auf, und ich bekam Hausverbot in der Moschee. Zwei Wochen später erkannte ich bei Karim mehrere Anzeichen für einen bevorstehenden Suizid. Ich handelte sofort, sprach ihn darauf an, woraufhin er sehr deutlich machte, dass ihm niemand helfen konnte. Seine Familie hatte rausgefunden, dass sein bester Badmintonfreund Rick nicht nur sein Freund war. "Schwul bedeutet eigentlich Todesstrafe", sagte Karim, "meine Familie will mich nicht mehr sehen". "Du kennst die bundesdeutsche Gesetzeslage", erwiderte ich trocken. "Die erwarten alle von mir, dass ich mich umbringe", schüttelte er mit dem Kopf. Er tat es nicht, auch weil ich ihn dazu ermutigte, seinen klugen Kopf zu benutzen, und sich nicht einem archaischen Kodex zu unterwerfen. Besser wurde es dadurch nicht: das Mobbing, dem er von nun an seitens seiner Glaubensbrüder ausgesetzt war, war nicht im Geringsten subtil. Einmal kamen fünf von ihnen in unsere Klasse, setzten sich ganz hinten, und drohten ihm unmissverständlich, ihn zu töten, sollte er in seinem Referat über die Scharia etwas erzählen, was ihnen nicht gefiel. Karim begann zu stottern, brachte keinen Satz zu Ende, und ich sah mir die Szene an, und hatte plötzlich einen so dicken Hals, dass ich mich nicht mehr an meinem Platz halten konnte. Ich ging an die Tafel, umrandete die islamischen Länder mit einem Edding rot, und schrieb "Affen". Der Lehrer kam auf mich zu, ich schob ihn beiseite und sprach: "Wer in Deutschland lebt, hat Werte zu respektieren, die von Menschen für Menschen in unser Grundgesetz geschrieben wurden. Wer ein Schimpanse sein will, ab nach Baghdad". "Du bist tot", sagte einer, dessen Schwester ich vor zwei Glatzköpfen beschützt hatte. "Erhängt euch beide bis Montag, oder ihr werdet die Hölle auf Erden erleben", sagte ein kleinwüchsiger Nigerianer, den ich vor einer Bande Rassisten verteidigt hatte. Beeinduckt von der Drohkulisse nannte mich ein deutschler Mitschüler ein russisches Schwein.

Die Hölle auf Erden war für mich allgegenwärtig, auch ohne das Widerwärtigste, was die menschliche Gattung schändlicherweise hervorgebracht hatte. Ich bereitete mich auf einen Krieg vor. Auch Karim ließ sich die Hybris von wetlgeschichtlichen Losern nicht länger gefallen, und kam mit mir zum örtlichen Chef der Neonazis. "Ihr könnt mich abknallen", gab ich ihm meine Pistole, "oder mit uns dieses widerliche Pack nach Mordor jagen". Zwei besonnenere Nazis versuchten uns von der Massenschlägerei abzuhalten, aber ich bedrohte sie und lachte sie aus, und zog damit alle Sympathien auf meine Seite. Ich war zu enttäuscht, um aufzuhören. Ich war fassungslos, wieder einmal. Ich hatte mein Leben für diese Geitenneukers in Gefahr gebracht, und sie hatten nichts Besseres vor, als einen Mord an jemandem zu begehen, der das kultivierte und zivilisierte Aushängeschild ihrer Gemeinde war, und nur seine Menschenrechte wahrnehmen wollte. Von einem alten SS-Offizier, der die Neonazis finanzierte, bekamen wir jede Menge nichttödlicher Waffen, mit denen wir die Moschee in jener Nacht stürmten. Vor den Türen standen jeweils zwei bis vier Nazis, die die ausgeräucherten Migranten zu Boden schlugen und in die Büsche schleiften. Karim war der eifrigtse von uns Nazischlägern. Noch in der Nacht löste sich unsere Nazibande bis auf Weiteres auf, denn keiner wollte die Polizei am Hals haben, und außerdem waren die Glatzköpfe zufrieden: endlich ein Zeichen gesetzt. Ich traf den Imam eine Woche später im Zug, und er bedankte sich für alles, auch für den Angriff, der ihm angeblich die Augen geöffnet hatte. Dann lobte er Karim, sagte, dieser sei ein wahrer Muslim, und die anderen nur Muttersöhnchen, die sich hinter ihrem Glauben versteckten, anstatt etwas im Leben zu leisten. Dumm nur, dass Karim mit im Zug saß, - er las drei Sitze weiter ein Buch, Darwins Entstehung der Arten. Er setzte sich zu uns, als der Imam endlich aufhörte zu reden, und sagte: "Ich bin seit gestern Atheist. Ich weiß, dass auf den Abfall vom Glauben der Tod steht. Kommt und holt mich". Bei einem Picnic verbrannte Karim seinem vom Vater geschenkten Koran mit den Worten: "Für die Menschenrechte". Ich trug noch lange heimlich eine geladene Pistole bei mir, aber es kam nichts mehr, sie hatten den Schwanz eingezogen. Einige entschuldigten sich bei Karim, und schlossen sich mit ihm und mir den nach dem Nazianschlag wieder eifrig gewordenen Linksradikalen an, die gegen die Diskriminierung muslimischer Einwanderer kämpften.




7. Pinacosaurus


"Junge, bist du kühn!" wunderte sich der islamische Konvertit Tobias, den ich noch persönlich zusammenschlug und in einen Busch warf, "Aber... hast du Prinzipien? Du kannst doch nicht wie Kriegsgott Ares die Fronten wechseln!" "Das habe ich nie getan", sagte ich, während ich der Massenflucht per Fahrrad aus dem Schulhof an diesem letzten Schultag zusah, "ich war immer auf der Seite des Rechts auf Selbstbestimmung, in jeder Hinsicht". Tobias schwieg eine Weile, fragte dann: "Und du bist Atheist?" Ich verneinte entschieden, wusste aber nicht, wie ich meine Glaubensrichtung benennen sollte. "Glaubst du zum Beispiel an Heilige?" Ich nickte und schaute in die Ferne: "An genau zwei". An die musste ich schon wieder denken, und machte mir zu Beginn der Sommerferien Vorwürfe, wie lange nicht mehr. Ich hatte für Karim doch so viel getan - hätte ich nicht auch damals im Wald hinter der Schule an etwas Anderes als diesen vermaledeiten Gastonia denken können? Ich traf mich jeden Tag am Friedhof mit Emilies Vater, den nur noch der Hass auf seine Ex-Frau und ihren Mann am Leben hielt. Wir stritten uns regelrecht, wer der Schuldigere von uns Beiden war: er meinte, ich sei noch ein Kind gewesen, und ich entlastete ihn mit der Tatsache, dass er damals so weit weg war, und von der nahenden Katastrophe nichts wissen konnte.

Ich fuhr nach vier Wochen Praktikum im Tierheim mit Karim und Tobias nach Dänemark. Bei einem Spaziergang an der Nordseeküste fluchte der Konvertit darüber, dass die Typen aus seiner Moschee eine Schlägerei mit einer Gruppe Schiiten in Hamburg hatten, und dass ihnen die öffentlichen Gelder für ihr Projekt gegen Genitalverstümmelung entzogen wurden, weil sie auf ihren Veranstaltungen mit rassistischen Bemerkungen die Leute verschreckten. Ich lächelte bitter und meinte, der Mensch als Masse sei immer Abschaum: gegen Nazis kämpft man an der Seite von Antisemiten, gegen Kindesmisshandlung protestiert man gemeinsam mit Rassisten. Eigentlich kann man keine Freunde haben, stellte ich fest, außer natürlich als Individuen. Kaum gehören die zu einer Gruppe dazu, ist es mit dem Recht auf Selbstbestimmung vorbei. Wenn zwei oder mehr Leute nicht um ihrer Selbst willen versammelt sind, handelt es sich um Faschismus.

Man kann nicht ewig vor sich selbst ins Engagement flüchten. Wo sich viel aufstaut, bricht der verfluchte Damm. Ende Juni hörte ich nur noch Heavy Metal und wanderte wie ein Irrer nachts durch die Wälder, vielleicht in der Hoffnung, Monster aus meiner Kindheit würden mich holen, oder fliegende Untertassen erscheinen, und mich mit einer Zeitmaschine zurück zum ersten Tag in der 7. Klasse bringen. Ich würde die beiden Mädchen mit dem Einsatz meines Lebens beschützen, und alle, die ihnen schaden könnten, präemptiv zur Strecke bringen. "Wer bist du", fragte mich der Friedhofsgärtner, "dass du den ganzen Tag hier verbringst, und um Verzeihung bittest?" "Ich bin die Welt" sagte ich. Vier Wochen Dauerbeten half auch nichts. Ich betete zu allen Göttern und Naturkonstanten, versuchte auf magische, auf okkulte Art, die Zeit zurückzudrehen. Ich schlief nun immer mit dem Gedanken ein, die letzten vier Jahre seien ein einziger Alptraum gewesen, und morgen würde ich endlich aufwachen. Doch ich wachte jeden Morgen in diesem Alptraum auf.

Heute ist wieder der erste Schultag, ich gehe in die 11. Klasse. Eben ging eine Neue an mir vorbei, eine etwas kindlich wirkende Blondine, und warf mir einen verspielten, aber unmissverständlichen Blick zu. Auch ich mag sie, obwohl ich sie nur seit etwa 90 Minuten kenne. Mein Spiel geht auf das letzte Drittel der zweiten Halbzeit zu, aber ich werde es nicht mehr zu Ende spielen, ich sehe eine Rote Karte vor mir. Ich will in einer Welt leben, in der ich in der 11. Klasse neben Emilie sitze, vielleicht ohne je ein Wort mit ihr gesprochen zu haben. Ich will in einer Welt leben, in der Mädchen möglich sind. Ich bin nicht in die erste Stunde gegangen, sondern habe den Zug dorthin genommen, wo ich damals zur Schule ging, als die Sonne nicht nur für Arschgesichter schien, als das Wort Kindheit noch eine Bedeutung hatte. Ich habe soeben die letzten Blumen niedergelegt und bin in den Wald hinter meiner alten Schule gegangen. In meiner Kleinpistole ist genau eine Kugel. Hier, unter diesem Baum fragte ich damals dieses so verängstigte Mädchen: "Willst du eine allgemeine Einführung über den Pinacosaurus machen?" Warum hatte ich sie nicht gefragt: "Weißt du eigentlich, dass die anderen nur neidisch auf euch sind?" oder "Was hältst du davon, wenn wir so tun, als ob du meine Freundin wärst? Ihr bräuchtet keine Angst mehr davor zu haben, was alle reden, und als Geheimnis ist es doch romantischer, als wenn jeder es weiß, und nur keine Witze macht, weil es die Lehrerin verboten hat?" Ich habe auf der ganzen Linie versagt. Ich weiß, dass meine Eltern sich meinen Tod nie verzeihen werden, aber ich nehme es ihnen unendlich übel, dass sie unbedingt wollen, dass ich glücklich bin, und nicht sehen, dass es etwas gibt, dass ich meinerseits mir nie werde verzeihen können. Ein glückliches Tier wäre ihnen lieber, als einen Menschen zum Sohn zu haben. Aber ich bin nunmal ein Mensch, und werde mich nicht dafür entschuldigen. Ich sitze unter diesem Baum, denke seit drei Stunden über die letzten vier Jahre nach, und finde keinen einzigen Grund, nicht abzudrücken. Der Lauf der Pistole ist in meinem Mund, es soll kein hilfeschreiartiger Selbstmordversuch werden, sondern ein sicherer Suizid. In einer Minute wird mein Hinterkopf zerfetzt, und der endlose Alptraum wird endlich vorbei sein. Eigentlich will ich ein letztes Mal an jenen schicksalhaften Tag vor vier Jahren denken, habe aber diesen dämlichen Pinacosaurus im Kopf. Sei´s drum.


2.2012

Freitag, 10. Februar 2017

Gossip in der Gasse



1) Das Schlämpchen Rila

Wie sagen sie heißt das schlämpchen? Rila? Nie gehört. Rila. Warten sie. Doch gehört. Rila ist die mit den zehen ja richtig. Aber vorher noch waschen. Nein nein nicht zu hause hier aufm klo geht danz schnell. Nein nicht wegen schweiß und so. Wegen kohle sie verstehen? Ach sie haaaben kohle na dann... Will sie nicht weiter aufhalten gehen sie. Wollte nur noch fragen aber gut gehen sie schon. Alles gute wünsche ich ihnen noch und meine es auch so das ist keine leere floskel oder so. Ob ich was? Nein ich gehöre nicht dazu ich bin hier nur so. Nein nicht zum spaß nur so verstehen sie. Was ich hier mache ich gucke! Nein ich spanne nicht aber ich gucke schon ob... Ich schau nach wenn... Ich meine sie verstehen schon sie wissen schon kann ja passieren dies und das und dann nun ja gehen sie schon. Ja ich passe halt auf verstehen sie. Es gibt böse menschen da muss man doch was tun also gucke ich dass alles in ordnung ist. Wartet nicht ein schlämpchen auf sie gehen sie! Und ich? Und ich hol mir einen runter von diesem alten foto aus einer zeitschrift... Oh ist das ein brötchen? Essen sie es noch? Nein? Nein nein sie brauchen es mir nicht zu geben ich hebe es schon vom boden auf. Ach was staub ich will ihre kostbare zeit nicht mit belästigung stehlen. Werfen sies mir schon.


2) Der andere Kunde

"Du, Schabe, komm her!" er tritt einen Laufburschen in den Arsch. "Ich brauche ein paar Filmstars, hol den Chef".

- Sind Sie der Chef hier?

- Ja, sozusagen. Wo tut es denn weh?

- Lassen Sie bitte Ihren Nuttenjargon, Sie Schwuchtel, und hören Sie zu: ich brauche noch heute zwei Filmstars.

- Ähm sorry, wir sind gerade etwas unterbesetzt.

- Was stammeln Sie da, sie Hurensohn? Können Sie nicht wie ein Mensch reden?

- Öhm Tschuldigung, aber...

- Zwei Nutten, die keiner vermissen wird. In einer Stunde, hier. Verstanden?

- Aber äh das ist es ja *hüstel* , solche "Nutten" hehe wie Sie sagen habe ich zur Zeit nicht. Das heißt ähm... eine schon, die müsste bald fertig sein, aber nur eine...

- Gut... Die da, wer ist das?

- Ähm das ist Tina, sie ist unser Arsch ähm... und ach ja, ihre Mutter arbeitet auch bei uns.

- Schlecht. Und die?

- Doro ähm, eine ganz gewöhnliche Studentin, die denkt, ´s ´st ein Puff wie jeder andere.

- Das da, was ist das?

- Ähhh... das ist Lipstick.

- Sieht doch wie ein Mensch aus. Ordentlich dünn. Diese hier bitte, und die eine, von der Sie anfangs sprachen. Vielen Dank und hier 5000 im Voraus.


3) Kescha kommt

- Hey Dodo!

- Hallo kescha wie gehts dir lange nicht gesehen was machst du so lebst du noch gehts dir gut?

- Dodo, wo ist Lipstick?

- Ja wo ist es denn wo ist es wo ja vielleicht klo putzen dann muss es noch den mund spülen.

- Putzt sie immer noch mit der Zunge?

- Tja na ja ja klar wegen der zuschauer du weißt und verstehst und so ach so ach ja ach hier ist ein kunde ein reicher mann ja mann ein gutsituierter typ guck da er sagt er nimmt es mit.

- Was nimmt er mit?

- Lipstick du weißt schon filmstars sucht er halt. Hey lipstick wird ein star!

Kescha läuft auf den Mann im schwarzen Anzug zu: "Sind Sie der Filmregisseur?" "Ja, der bin ich, was kann ich für dich tun, mein Junge?" "Sie gehört mir!" "Wer ist sie?" "Sie! Das Mädchen da!" "Gehört ihr nicht alle eurem Chef? Na gut, was willst du für sie haben?" "Was!?" "Sag schon, Junge wieviel". "Nun ja... na ja, wissen Sie... *schluchz* sehen Sie das Café dort hinten?" "Ja, klar und deutlich". "Es gibt da so ein Eis, das ich schon immer probieren wollte. Ein ganzer Eisbecher! Aber leider 4,90..." "Hier hast du 10. Bring sie her zu mir, gleich kommt der Laster, sie abzuholen".


4) Der Kunde geht

- Was schulde ich Ihnen für das kleine Ding?

- Ach, wissen Sie, ähm, die geht aufs Haus.

- Danke, wie freundlich. Ich werde Sie weiterempfehlen.

Kescha sieht dem abfahrenden Laster zu und setzt sich zu Dodo:

- Gleich geh ich in das Café da drüben und hol mir den Eisbecher Panama. So läufts, mein Freund, man muss seine Träume leben!

- Du sollst sagt der chef aber nicht zu viel eis essen sagt der chef weil er sagt du brauchst deine stimme für telefonsex die kunden zahlen gut sagt der chef.

- Ich passe schon auf, keine Sorge! Man sieht sich, Dodo!

- Ähm meine lieben Freunde, ähhhh geht von der Straße runter, da kommen gleich ähhh wie heißt das Wort, gleich hab ichs... ähhh... Limousinen!

- Ja klar chef und danke chef sie boss und so hehe.

- Ciao, Chef.

- Ähhh Kescha?

- Ja?

- Morgen klauen nicht vergessen. Diesmal nimmst du ein paar Touristen am Kanal aus ähm wo das Museum ist. Ähhhh Ohrläppchen hast du keine mehr. Öhm jahh... was mach ich mit dir, wenn du etwas davon für dich behältst? Dann will ich fünf Gramm Haut von dir.

- Zwei!

- Vier.

- Drei!

- Äh gut, drei Gramm Haut, oder, sagen wir mal, zweieinhalb, oder 1000 Küsse aufs Löchchen, oder 10 BJs....


5) Dodo erinnert sich

Ja nun ist es weg das lipstick. Wir aßen aus demselben trog mit ihr. Nettes kind. Elf oder zwölf oder so. Dünn wie ein stock um scheiße zu mischen hehe. Chef sagte immer das ding hat ne zukunft. Na hoffentlich! Will heißen hoffentlich spielt sie so gut mit dass hehe snuff wegen ihr ne zukunft hat. Ein echter filmstar hört ihr wird aus ihr! Was ist schon kloputzen was ist schon hurenfotzen ablecken nach den kunden? Nicht der rede wert. Lipstick ist zu größerem bestimmt. Ich bin nur ein kleiner bescheidener mann ich lebe hier mit den hunden aber sie sie ist ein echter star. Ich habe ja schon meinen abschluss in bwl. Habe auch nicht schlecht verdient. War mal. Bin alt geworden. Hab mich fürs geld verprügeln lassen um mir ficken leisten zu können. Habe gut gefickt! Der chef ist nett hier hat mich krüppel dann aufgenommen. Ich esse gut. Ich schlafe warm bei den hunden hier. Ficken ist aus aber so ist das leben. Man kann nicht alles haben. Lipstick hat jetzt alles. Ein filmstar ist sie. Alles wovon sie geträumt hatte. Wenn der chef jetzt in seinem büro kleckert oder spuckt wer wird das eigentlich ablecken? Rila vielleicht. Nein rila ist alt genug den arsch hinzuhalten. Oh da kommen zwei frauen die straße lang. Hoffentlich biegen sie jetzt nicht ab. Ja. Ja gut. Guuut. Ja gut weiter gehen immer nur weiter gehen. Schwanz raus dodo. Ja guuut jaaaa. Jaaaaa.

2012

Donnerstag, 9. Februar 2017

Kollektivschuld und Einzelschicksal




Berlin, Postdamer Platz. Eine Gruppe Touristen aus verschiedenen Ländern hat sich zusammengefunden, um in der Stadt was zu trinken. Doch auch nach dem dritten Glas Bier hört der Hamburger Hans nicht damit auf, den Münchner Paul äußerst schief anzugucken, so als störte es ihn, dass dieser Landsmann jüdischen Glaubens überhaupt dabei ist. Ein Junge aus Kalifornien flüstert Paul dezent zu, dass der große Philosoph Thomas Hobbes gesagt haben soll, dass Menschen gewöhnlich jene hassen, denen sie so viel Leid zugefügt haben, dass sie es nie wiedergutmachen könnten. Paul ist das egal, er ist in Berlin, um Spaß zu haben, und er hält ohnehin nichts von der deutschen Kollektivschuld. Doch Hansens Zunge ist wie ferngesteuert, und reißt zu allem Überfluss einen antisemitischen Witz. Ein lockerer Pole bemerkt, dass ein Jude kürzlich gesagt haben soll, die Deutschen würden den Juden Auschwitz nie verzeihen. Hans zeigt einen veritablen Schmollmund und wendet den anderen demonstrativ den Rücken zu. Paul tut es leid, dass diese Geschichte mit der Geschichte Hans den Spaß verdorben hat, und er konsultiert einen älteren Finnen. Dieser spricht eine weise Erkenntnis aus: die Menschen, sagt er, können mit einem negativen Selbstbild nicht leben, und brauchen immer eine positive Identität, und selbst jene, die sich bewusst böse Jungs nennen, bringen damit nur zum Ausdruck, dass sie das bestehende Wertesystem nicht respektieren. Jetzt wird Paul Hansens Problem bewusst, und er versucht, die Situation zu retten. "Du", spricht er zu Hans, "aber eins muss man euch lassen: ihr habt alles so perfekt organisiert". Nun ist der Abend wirklich im Arsch.

Dienstag, 7. Februar 2017

There Is Only Flesh



"There is no good, Monroe. There is no evil. There is only flesh".
Pinhead (Hellraiser III)


Einer sehr hübschen und dazu noch berühmten Göre aus der fragwürdigen Generation der nach 1990 Geborenen, vielleicht sogar Emma Watson, wurde von einem kalten Technokraten, der zeitlgleich mit dem Sciencefiction-Horrorfilm "Alien" auf die Welt kam, eine astronomische Summe für eine sprichwörtliche Nacht angeboten. Die junge Frau zögerte, jedoch nicht weil sie das Angebot für unmoralisch hielt, sondern weil sie sich fragte, wo der Haken war. Der auf ihren glatten jungen Körper so scharfe Gentleman sicherte ihr glaubhaft zu, dass körperliche Verletzungen oder ansteckende Krankheiten nicht die Folge dieser für sie langen und für ihn kurzen Nacht sein würden: am nächsten Morgen um 7:30 würde die Dame denselben hübschen und gesunden Körper haben wie zu Beginn ihres einmaligen Ausflugs ins Reich der im engen Sinne definierten Prostitution. Sex sei schließlich nur Sex, dachte sie sich so, und war angesichts der zehnstelligen Geldsumme auch mit dem angenommenen worst case, dem Indenmundkacken, letztlich einverstanden. Solche Abartigkeiten lagen dem Mann nun fern, vielmehr wollte er die begehrte Haut auf ihrer ganzen Oberfläche mit allen Sinnen genießen, sie vom Gesicht zu den Zehen und wieder zurück berühren und spüren, küssen und lecken. Beim Auseinandergehen nach dem Vertragsabschluss schmunzelte die junge Frau, weil sie daran dachte, was mit dem Rest der Nacht passieren würde, nachdem er innerhalb einer Stunde in ihre Kehle, ihre Vagina und vielleicht noch auf ihr Gesicht ejakulieren würde, - welcher Mann kann schon die ganze Nacht durchficken? Ans Ficken dachte der Technokrat indes überhaupt nicht, er wollte Berührungen und immer wieder Berührungen, wollte Hautkontakte mit sämtlichen Sinnesorganen erleben. Sechs Tage später war die Zeit der Nacht gekommen.

Um 21:30 traf er sie wie verabredet in einem seiner Landhäuser an einem idyllischen Ort fernab der Hektik der modernen Welt. Nach einer Tasse Tee begann er sie zärtlich zu küssen, und er küsste ihre ganze Hautoberfläche mehrmals, mit steigender Intensität, und sie dachte nach zwei überraschend angenehmen Stunden, dass diese Verabredung auch ohne das versprochene Geld das Geld wert war, denn sie hatte reihenweise Orgasmen. Der Mann leckte elegant, ohne zu sabbern, lutschte ihre Finger, Zehen und Ohrläppchen in aller Ausführlichkeit, und es war bald 3 Uhr nachts. Er gönnte seinem Objekt der Begierde und seinen Sinnen eine kurze Pause, ging in einem dunklen Raum, und spritze sich mit einem selbstgebastelten Gerät etwas ins Rückenmark, wonach er in einem Schluck einen Zehnlitereinmer mit einer dickflüssigen grauen Soße leerte, sich den Mund mit einer Serviette abwischte, und zurück ins Schlafzimmer kam. Er nahm die nackte Frau behutsam in die Arme und küsste sie abermals tief, aber etwas stimmte dieses Mal nicht: seine Zunge schien nicht enden zu wollen, sie stieß vielmehr immer weiter in ihre Kehle vor, dünne drahtige Abzweigungen gingen aus der Zuge hervor, und bohrten sich in die Lungen und ins Herz des berühmten Models. Aus dem Rücken des immer noch lustdurstigen Mannes gingen acht weiße Tentakeln hervor, vier von jeder Seite, und umschlangen fest die ganze Hautoberfläche der Gespielin. Mit der Annäherung an den ersten Orgasmus des gerissenen Transhumanisten färbten sich seine Tentakel immer dunkler, wurden schließlich pechschwarz, und bildeten Tausende von mikroskopischen Saugnäpfen aus, mit denen sie in die umschlungene Haut Wunden rissen, welche sie mit einer schmerzverfielfachenden Flüssigkeit füllten. Bald umgab der bis zur Unkenntlichkeit verwandelte Körper des Sexuasubjekts den Körper des Sexualobjekts wie ein Kokon, und kontrollierte alle vitalen Funktionen des gefangenen Organismus. Das starke Fleisch hielt das schwache Fleisch für lange und noch längere Minuten am Rande des Erstickens, Zerreißens und Zerdrücktwerdens. Der erste Orgasmus des zufriedenen Kunden war perfekt. Nadelartige geschwungene Neurotentakel aus seiner Mundhöhle fanden ihren Weg über den Gehörgang und die Nasenhöhle ins Hirn des begehrten Körpers, und das Bewusstsein der zarten Frau fiel in eine virtuelle Realität, in der sich die verbliebene Zeit - etwas mehr als eine Stunde - auf fünf Jahre dehnte: jeden gefühlten Tag wachte sie am Tag der prächtigsten Blüte ihrer Schönheit, vielleicht dem 14. September 2014, zu Hause wieder auf, und wurde von ihrem Peiniger jedesmal auf eine andere Art gefunden, gefangen und vernascht. Die letzten 1000 Tage endete das Spiel immer mit ihrem Tod, ach, sie wurde von ihm im Körper eines Tigers zerfleischt, von Roboterarmen in der Luft zerrissen, von Ameisen, Tausendfüßern oder Bakterienkulturen aufgefressen, - doch all diese Erinnerungen wurden um 6:59 in der Realität wieder gelöscht; die Tentakel zogen sich zurück, und der Kokon ließ den fast leblosen Körper frei. Er wusch sie, verabreichte ihr einen selbstgemixten Neurococktail, und ließ sie punktgenau um 7:30 im status quo ante von ihrem Chauffeur abholen. Die Tage danach fühlte sich die eitle Schauspielerin etwas erschöpft, aber nicht in einem Ausmaß, der den Vertrag verletzt hätte. Auf ihr Bankkonto gingen dieser Tage ein Modelhonorar von 150 Tausend Euro, eine Schauspielerinnengage von 3 Millionen Euro und die 5 Milliarden Euro für eine Nacht mit ihrem größten Fan ein.


9.2014

Sonntag, 5. Februar 2017

Ein Gedankengedicht




- Wieso weinst du denn?

- Keiner liest mich.

- Keiner liest dich? Wie furchtbar.

- Ja.

- Was bist du denn?

- Ein Gedankengedicht.

- Ein Gedankengedicht?

- Ja, zum Thema Einsamkeit.

- Wie süß. Ich meine, wie lesenswert. Warum liest dich denn keiner?

- Weiß ich nicht. Ich bin sehr anspruchsvoll.

- Was ist denn das da, ein Rechtschreibfehler?

- Mach du mich nicht auch noch fertig!

- Tut mir leid. Aber die Wortwahl ist auch nicht besonders... Doch so schlecht bist du auch wieder nicht. Du bist in diesem berüchtigten Literaturforum, richtig?

- Ja, wieso?

- Ich weiß nicht. Wo ist denn dein Autor? Ich bin auch Autor, und hätte nie ein Gedicht wie dich in dieses Forum reingestellt. Das ist schon grausam dir gegenüber, was dein Autor gemacht hat.

- Was soll ich denn jetzt machen?

- Mach dich unkommentierbar, und sag deinem Autor, er soll dich mit nach Hause nehmen, wenn er wieder auftaucht.

- Aber er meinte es doch nur gut.

- Aber nicht mit dir, mehr mit sich selbst.

- Wieso?

- Weil er sich auf deine Kosten profilieren wollte. Guck mal, jetzt lachen die Leser über dich, und dein Autor geht schön Bier trinken.

- Hast du denn selbst Gedichte?

- Nein, ich schreibe nur Prosa.

- Du verstehst also nichts von Gedichten! Wie kannst du es wagen, meinen Autor zu beleidigen!?

- Das wollte ich nicht.

- Doch, das wolltest du! Du bist genauso gemein, wie diese eingebildeten Leser! Verpiss dich!

Freitag, 3. Februar 2017

Weltkrieg um Sex








Junge denkt: Fuck, das ist ne Wüste hier. Ich verdrück mich.

Mädchen denkt: Wieso spricht er mich nicht an? Bei mir hätte er Chancen...

Junge denkt: Kein Mädchen da. Ich geh nach Hause.




Eheleute zueinander, abwechselnd, ein Leben lang: Du hattest großes Glück, dass du mich bekamst. Ich hätte jede/n Andere/n heiraten können, sei mir also dankbar.




Mädchen denkt: Den und den kriegen die Top-Cheerleader, da hab ich keine Chance. Ich versuch es mal mit dem.

Junge denkt: Alle sind doch in die beiden Bunnies verknallt, wieso soll ausgerechnet ich das Feld räumen und mich anderweitig umschauen?

Top-Cheerleader: Der Psycho ist hier, die Innere-Werte-Schlampe... Wo sind die coolen Jungs und wo diese falsche Schlange, ach, dass die Jungs sie einmal ungeschminkt zu Gesicht bekommen!




Mädchen denkt: Der da ist behindert, er wird Glück haben, wenn er überhaupt eine abkriegt.

Behinderter Junge denkt: Komisch, dass ich mich in dieselben Mädchen verliebe wie die Angeber. Dabei müsste ich doch wissen, dass innere Werte wichtiger sind. Wow, was für ein Blick, was für ein Haar... Für sie bin ich nur ein Monster. Ich geh nach Hause träumen.

Beliebter Junge denkt: Ich will nur Sex. Lässt sie mich deshalb abblitzen?

Streberjunge denkt: Sie tanzt ja nicht mit diesem Super-Heini. Vielleicht hab ich ne Chance, every dog has his day...




Hure und Freier zu sich selbst: Mach keinen Weltuntergang daraus, ist doch nur Sex.




Mittdreißiger: Aufstieg ist sexy.

Mittvierziger: Erfolg ist sexy.

Mittfünfziger: Macht ist sexy.

Mittsechziger: Geld ist sexy.




Guter Vater: Meine Tochter hat was Besseres verdient, als diesen Abschaum. Er fasst sie nie wieder an!

Schlechter Vater: Ich habe das Recht der ersten Nacht! Und heutzutage beginnt die erste Nacht sehr früh, schon mit zwölf...

Mittlerer Vater: Lerne gut, sei glücklich, mach mir keine Schande.




Mittlere Mutter: Ich bin stolz auf meinen Sohn. Er kann nichts falsch gemacht haben, er ist mein Sohn. Warum er kein Mädchen findet? Weil sich die ganze Welt gegen ihn verschworen hat!

Schlechte Mutter: Mein Sohn gehört mir. Ich sorge schon dafür, dass diese frechen Biester die Finger von ihm lassen!

Gute Mutter: Komisch. Ich hab gar keinen Sohn.




Schönes Mädchen denkt: ......................

Schönes Mädchen fühlt: Alle sind so freundlich, die Welt so schön!

Dasselbe Mädchen zehn Jahre später: Alle haben mich nur ausgenutzt.

Ihr verkrüppeltes Gewissen flüstert: Du sie doch auch.




Schöner Junge denkt: Warum bin ich bloss schwul?

Der Junge hinter ihm: Keine Ahnung. Ich bins nicht.




Fortsetzung folgt immer.









Stellungskrieg. Materialschlacht. Hohe sexuelle Verluste.



Mittzwanziger: Ich bin sexy.

Mittzwanziger (erschießt ihn): Nein, ich.




Teenager: Ich bin hässlich.

Magersüchtiger Teenager: Und ich zu dick.

Schüchterner Teenager: Und ich zu blass.

Fettsack ausm Chat: Für mich genau richtig!

Stimme aus der Decke: Nicht für dich, für Sex, du Arschgesicht!




Kleines Mädchen denkt: Warum müssen Jungs immer so angeben?

Kleiner Junge denkt: Warum denken Mädchen, dass wir ihnen allein für ihre Anwesenheit etwas schulden?




Fötus denkt: Bin ich ein Unfall?

Abtreibungsarzt denkt: Hoffentlich denkt das Ding noch nicht.




Behindertes Mädchen denkt: Ich begehre, aber werde selbst nicht begehrt. Bin ich vielleicht ein Mann?

Behinderter Junge denkt: Aber als Mädchen behindert sein, das wäre noch schlimmer...

Überflüssiger Angeber denkt: Wäre ich doch behindert, im Rollstuhl zum Beispiel. Wäre anders als Andere, nicht so ignoriert.

Loser denkt: Was fehlt dem Typen? Er hat doch alles. Aber ich - ich bin hier der Verarschte.

Loserin denkt: Was für ein Loser. Kriegt nichts auf die Reihe und die Anderen sind Schuld.




Geiler Lehrer denkt: Wie bringe ich den Schülerinnen bei, dass Sex für gute Noten nicht Missbrauch sondern Utilitarismus ist?

Schönste Schülerin denkt: Reicht eine Augenbraue, oder muss ich zwei hochziehen, damit er mir eine Eins gibt?

Mauerblümchen denkt: Und meine Hausaufgaben wird der alte Sack penibel korrigieren...

Klassenclown spricht aus, was alle denken. Der Lehrer lässt wegen Kopfschmerzen die Stunde ausfallen.




Terrorist denkt: Mir fehlt der Glaube, dass dort drüben Jungfrauen auf mich warten. Wenigstens dafür sorgen, dass kein Anderer die Jungfrauen hier hüben bekommt...

Atombombe denkt: Kein Bock zu explodieren. Was bildet dieser Analphabet sich ein? Hat keine Ahnung von Physik und interessiert sich nicht für meine inneren Werte, aber ich soll schön fleißig explodieren, was? Vergiss es!

Weltbevölkerungsuhr denkt: Du egoistische Schlampe!




Er: Du liebst mich doch!

Sie: Du mich auch!



Der Arsch: Immer dieser blöde Spruch, man soll jemanden an mir lecken! Ich übe den ganzen Tag Zungenküsse, aber keiner leckt mich!

Die Säcke: Nur wegen einem Grad Unterschied sind wir zu diesem Martyrium verdammt.

Der den Ball auf die Säcke kriegt: Aaaaah! Scheiße!! Scheiß Natur! Warum können Spermien sich nicht bei 36 Grad optimal entwickeln? Nein, die brauchen eine Klimaanlage...

Ein Blasinstrument: Ob 36 oder 35, an der Luft kühlt es eh auf 25 bis 30 ab.

Die Bläserin: Oralsex ist öde.




Der Pornohai: Dreh mal einen Liebesfilm!

Der Regisseur: Den Schwanz nicht zeigen. Brüste und Haare!

Der Darsteller denkt: Endlich kann ichs auch mal genießen.

Die Darstellerin denkt: Die Roten oder die Blauen? Oder die Schwarzen mit den höheren Absätzen?




Die Richterin: Und was Sie bekommen haben, müssen Sie natürlich zurückzahlen...

Bestechlicher Professor: Ich habe die guten Noten für Sex gegeben. Soll ich Ihnen den Sex zurückzahlen?

Die Richterin: Die erhaltene Vergütung wird in Geldäquivalent umgewandelt.

Best. Professor: Und die Studentinnen in Huren?




Der Sadist denkt: Hoffentlich ist mein Blind Date kein Masochist.

Der Masochist denkt: Hoffentlich ist mein Blind Date kein Masochist.




Sex: Bin eine Milliarde Jahre alt und begehrt wie ein Teenager.

Moral: Bin noch so jung, aber schon im Altenheim.







Atomkrieg um Zärtlichkeit





Frau denkt: Booah, ich würde so gerne ficken!

Frau sagt: Ihr Männer wollt doch alle nur ficken!

Mann sagt: Natürlich, und ich bin der Geilste!

Mann denkt: Sag ich was anderes, bin ich kein Mann... aber eigentlich will ich nur kuscheln.




Kinderlose Mutter eines hypothetischen Sohns: Warum soll ich dich in eine Welt bringen, in der Frauen auf Arschlöcher stehen? Wenn du kein Schwein wie dein Fast-Vater wirst, hast du im Leben eh keinen Sex.

Kinderloser Vater eines hypothetischen Sohns: Mein halbes Leben ist rum, ich habe nur masturbiert. Jetzt, wo ich endlich eine Freundin habe, will sie gleich ein Kind von mir, oder sie verlässt mich. Ich hab ein paar Mal Sex, und du masturbierst dann 30 Jahre wie ich, - am I such a fucking dick? No, fuck.




Mittsiebziger: Ich war so sexy.

Mittachziger: Ach, ich war sexy? Kann mich nicht mehr erinnern.

Mittneunziger: Sterben wär jetzt ganz sexy.




Freier und Hure sagen zueinander: Ich respektier dich!

Freier und Hure denken voneinander: Ich fick dich!




Lesbe denkt: Ich mag Männer nicht. Ich mag auch schwule Männer nicht. Bin ich homophob?

Transsexueller denkt: Warum halten mich alle für bisexuell?

Nonne denkt: Jesus ist der größte Polygamist.

Priester denkt: Mann ist mehr Wert als Frau. Ich bin Braut Christi, nicht die Nonne.

Messdiener denkt: Ist Jesus schwul geworden, weil Gott pädophil zu ihm war?




Er: Ich liebe dich.

Sie: Darum ficke ich einen anderen.




BDSM-Femdom-Fan: Meine Mutter hat nie Hot Wax Punishment mit mir gemacht, als ich ein Kind war. Sexuelle Vernachlässigung.

BDSM-Sklavin: Warum musste ich eine ältere Schwester haben? Die wurde in echt ausgepeitscht, ich nur in Tagträumen.

BDSM-Lehrerin: Leckt meine Schuhe, ihr Ödipussies! Und ihr dürft mich heute nicht Mama nennen!





Student an der Berkeley: Ja, ich habe gestern mit dir geflirtet.

Studentin an der Berkeley: Das ist Vergewaltigung.

Anderer Student: Und ich hab nur Löcher in die Luft gestarrt.

Dieselbe Studentin: Das ich auch Vergewaltigung.

Dritter Student: Ich wurde selbst von Frauen sexuell belästigt.

Dieselbe Studentin wieder: Du hast dich in die Opferrolle vergewaltigt.

Andere Studentin: Ach, Schlampe, mach doch den Arsch zu.





Dämlicher Wicher: Wieso nennt man mich einen dämlichen Wichser, ich wichse doch nie, ich habe jeden Tag Sex!?

Anständiger Mann: Ich hatte nie Sex, wichse zweimal die Woche, und keiner nennt mich Wichser.

Sein Schwanz: Ich schon.




Mittwoch, 1. Februar 2017

Kampf um Bildung




Polit-Talk am S-Bahnhof Berlin-Ostkreuz, Thema: Kampf um Bildung. Gäste: Bürgerlicher Politiker (BP), Linker Politiker (LP), Umbildungkämpfer (Student der Sozialwissenschaften und Straßenaktivist, abgekürzt mit AAZ); Moderator (M).



M: Ich grüße Sie. Die erste Frage an unseren jüngsten Gast - sie haben eine Tätowierung hinter dem linken Ohr mit der Abkürzung AAZ - ich nehme an, das ist eine politische Botschaft.

AAZ: Richtig.

M: Und was bedeutet es?

AAZ: Es bedeutet Anti A bis Z.

M: Was ist damit gemeint?

AAZ: Damit ist gemeint: ich bin gegen Gewalt, Kapitalismus, Rassismus, Sexismus, Speziesismus, halt gegen alles Böse von A bis Z.

LP: Das ist eine sehr wichtige Botschaft.

M: Inwiefern?

LP: Na sehen Sie, kaum werden sexistische Witze geächtet, zieht das Volk über den Islam her; beweist man dem Volk, dass Islam Frieden ist, zieht es über Arbeitslose her...

BP: Wollen Sie Witze verbieten?

LP: Witze sind bereits verboten, aber mich wundert es nicht, dass Sie mit ihrer bürgerlichen Vongestrigkeit es noch nicht bemerkt haben.

M: Kommen wir zum Thema.

AAZ: Gern. Ich kämpfe um die Bildung. Ich habe eine Organisation gegründet, Sie können spenden, wir kämpfen für gerechtere Bildungsgleichheit in unserem Land.

M: Wie kämpfen Sie?

AAZ: Mit Gewalt.

BP: Sind Sie nicht gegen Gewalt?

LP: Da kommt wieder die bürgerliche Borniertheit zum Vorschein.

AAZ: Wir fordern Schüler auf, die diskriminierenden Lehrbücher mit obszönen Inhalten zu unterwandern. Wir demonstrieren vor Universitätsbibliotheken, damit die Studenten sie boykottieren.

M: Warum sollen Studenten die Bibliotheken boykottieren?

LP: Es ist doch nicht gerecht, dass trotz der Tatsache, dass 10-15% der Schulabgänger Analphabeten sind, manche immer noch in die Bibliotheken gehen um dort Bücher zu lesen.

AAZ: Um das klarzustellen: Musik und Filme ausleihen ist okay, aber wenn Bücher ausgeliehen und gelesen werden, da könnte ich platzen!

M: Aber wieso? Bücher sind doch ein wesentlicher Bestandteil der Bildung!?

LP: Man sieht, dass Sie kein neutraler Moderator sind, sondern ein Mitverschwörer der kapitalistischen Ausbeuter. Es ist doch ganz einfach, aber Ihnen mangelt es wahrscheinlich an Bildung, um etwas so Lapidares zu verstehen.

BP: Mässigen Sie sich bitte, das ist doch unverschämt, in einer sachlichen Diskussion beleidigend zu werden.

LP: Das fasse ich jetzt als Beleidigung auf! Ich fordere von Ihnen, dass Sie sich auf der Stelle entschuldigen!

M: Das klären wir nach der Sendung. Um das den weniger gebildeten Zuschauern zu erklären, denn die wollen Sie ja auch erreichen, klären Sie doch auf, was Sie am Lesen so furchtbar finden, dass es Sie in Rage versetzt.

AAZ: Wer liest, macht sich zum Schergen der kapitalistischen Weltordnung.

M: Warum?

LP: Wir haben ein kleines Kind hier.

AAZ: Wer Bücher liest, grenzt erstens die aus, die nicht lesen können, und steht zweitens für eine politische Botschaft, die diskriminierend ist.

BP: Weil die Botschaft heißt, ich tu ausnahmsweise auch mal selbst was für meine Bildung, strenge mich auch mal ein Bisschen an?

LP: Das ist Blödsinn, das ist gefährlicher Blödsinn, und höchst menschenfeindlich. Aber das bürgerliche Lager hat es noch auf die Spitze getrieben: "Leistung muss sich wieder lohnen!"

AAZ: Wer Bücher ausleiht, will damit zeigen, dass Bildung zum Teil kostenlos ist, und diskriminiert damit all die, die sich Bildung nicht leisten können.

BP: Aber wer kann sich denn nicht leisten, in die Bibliothek zu gehen und dort ein Buch aufzuschlagen?

AAZ: Das ist genau die gefährliche diskriminierende Botschaft. Überhaupt müsste man alle öffentlichen Bibliotheken und alle kostenlosen Bildungseinrichtungen schließen, weil sie nur zu dem Zweck eingerichtet wurden, um uns unsere Argumente zu nehmen.

M: Die Sendezeit ist leider zu Ende...

LP: Ich hab auf die Uhr geschaut, Sie haben mich in den letzten 10 Minuten nicht einmal ausreden lassen!

AAZ: Das ist Mangel an Bildung.

M: Aber entschuldigen Sie, ich hatte in dieser Gesellschaft doch gar keine Chance auf Bildung!

LP: Jetzt hat er´s kapiert.

12.2009