Dienstag, 21. November 2017

Místàí




1. Sonntags um 12

Ich muss da wieder runter. Nicht wie damals in Hannover: in einem ungesicherten Lift schlechter als Recht zum 99. Stock hochgefahren, dann die Kontaktperson im Café verloren, um mich in einer fremden Wohnung voller Süßigkeiten, Kuscheltieren und all dem Zeug wiederzufinden, in einer Art Trance, wie auf Entzug von Gott weiß welcher Droge.

Der Vierzigste. Runter. Runter. Ins Treppenhaus. Runter. Der Dreißigste. Angst. Das geht mir durch den Kopf. Es gibt kein Gebäude in Hannover mit 99 Stockwerken. Ich darf nicht dran denken. Runter. Der Zwanzigste. Runter. Runter. Da ist eine Absperrung, da komme ich nicht weiter. Eine nette junge Dame. Wonach fragt sie mich? Was will sie? Nein, diese Bescheinigung habe ich nicht. Nein, ich warte nicht hinter der Absperrung. Leihen Sie mir ihren Wagen, diese rotbraune Dreckskarre, damit ich an diesem gottverdammten Sonntag noch hier weg komme? Warum kann ich nicht weg? Natürlich kann ich weg. Ich kann... Bin...


2. Fleischwolf hinten im Puff

Sobald ich dran denke, verflüssigt es sich. Durchs Denken tu ich es verunwirklichen, ich muss weniger denken und mehr handeln. Da ist niemand in der Sporthalle. Die Klasse sitzt im Raum 315, ich finde den nicht. Dicht bepackter Schwimmbad, ich stehe am Rand des Beckens, lehne mich an eine Fensterbank.

Lacht über mich, ich bin nackt, ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht sprechen. Mit aller Kraft drücke ich die Luft aus den Lungen und kriege keine. Leise, fast unhörbar, würge ich aus mir, dass ich doch ein großer Fan von van Persie bin und von Holland überhaupt. Der Typ guckt so verlogen, so herablassend, ich fange an, Holland zu hassen. Aber es ist nur sein Trikot. Ich springe vom Zug. Mit den Füßen sauber die Wand angesprungen und dann runter. In den Laden rein. Da ist ein kleines Schwimmbecken, aber ohne Wasser. In der Sauna da ist es besetzt. Ich gehe wieder. Aber erst nach fünf Stunden.

Die Blackouts peinigen mich. Ich bin machtlos. Verloren. Wenn das Berlin ist, so muss es hier sein, direkt hinter diesem Haus. Ein brachliegendes Gelände im Zentrum der Stadt, ein altes sowjetisches Gebäude, ein russischer Markt. Die Korridore verengen sich. Ich fühle mich wie dort an der Christuskirche, als wir in den Puff gingen, wo im dunkelrotem Licht ein Gehweg ausgelegt war, immer gerade aus. Keine Seitengänge. Der Gehweg wurde immer enger, der grün-rote Teppich bewegte sich selbst, der ganze Boden bewegte sich, wir fuhren nach vorne, am Rand blieben nackte Menschenmassen in Akten verschiedener Art, ganz am Ende dann wurde es so eng, dass wir uns an die nackten verschwitzen Körper quietschten, um zu erfahren, dass der Weg in einem Fleischwolf endete. Wie wir da wieder raus kamen, weiß ich nicht. Blackout.


3. Lichthölle

Es sind immer dieselben Orte. Dieselben Dinge, die auffallen. Die mich wieder an diese Orte versetzen. Es sind die Kurilen. Ein Internat, ein rechteckiges Gehege, alles so sauber, so akkurat. Und eine kleine Eisenbahnstecke auf dem Gelände. Immer werde ich mit einem Kleinbus dahin gebracht. Diese Straße, sie verheißt mehr, doch bringt mich nie weiter als auf dieses Internatsgelände.

"Sind Sie ein naher Verwandter?" "Bin ich. Wie geht es ihr?" "Die Ärzte versuchen, sie zusammenzuflicken". In der Tat. Es ist ein Raum mit weißen blutverschmierten Kacheln, ein Raum voller Menschenfleisch, voller zerrissener Körperteile. Ein Schlachthof. Ärtze sortieren die Körperteile, wir sind gekommen, um bei der Identifikation behilflich zu sein. "Es wird alles gut, wenn wir es rechtzeitig schaffen, ihren Kopf ausfindig zu machen". In der Tat, das tröstet. Doch wo ist ihr Kopf? Die Lehrerin hat ihn. Und sie wartet, bis dieses Stück Fleisch nicht mehr lebt. Eine Sache von wenigen Minuten. Doch was hat all diese Körper so zerfetzt? Ein Unfall angeblich. Frontaler Zusammenstoß mit einem Riesenlaster. Eine Klassenfahrt, die in diesem Schlachthof endet.

Das Licht ist die wahre Dunkelheit. Sage. Schreibe. Protokolliere. Ich schwöre bei allein Göttern, es ist der millionste Stock. Nicht der Tausendste. Und damit bin ich direkt bei Gott und kann nicht runter. Die Ärzte operieren, meine Seele schleicht ins Treppenhaus, doch wird von der überdimensionalen Flurlampe geblendet. Ich krieche runter, es fällt schwerer als hochzusteigen. Der 999999-ste Stock. Das grelle weiße Licht paralysiert mich. Ich krieche weiter die Treppe runter. Es ist die Hölle.


4. Soul Loser

Die Erinnerungsfetzen sind zu widersprüchlich, es ergibt einfach kein Kontinuum. Mein Leben verläuft diskret. Da ist eine Ausstellung, nichts wie hin. Riesige Betonblöcke in Holzfarbe, sie ragen hoch in den Himmel. Ich komme mir zwischen ihnen so verloren vor. Mein Leben. Meine beruflichen Aussichten. Ein so langer Weg bis zum Ziel, ich schaffe es nicht. Der Himmel verdunkelt sich. Es wird nicht regnen. Es wird nur Nacht. Für immer.

Nein, das werden mir meine Sünden niemals verzeihen. Ich setze mich auf den Sockel des Denkmals, in den Nachthimmel ragt eine eherne Philosophengestalt. Es ist nicht Schopenhauer. "Es ist aus" sagt Leo. "Nein, es kann nicht". Aber ich fühle was er sagt. Eine so tiefe Schlucht zwischen mir und der Hoffnung, dass mir das Argumentieren vergeht. Der Professor starrt in den schwarz verhüllten Höllenhimmel. Ich stehe auf. "Kommt" sage ich. Sie folgen mir, sie sind wie ich alle im dritten Semester, aber nur drei haben Philosophie als Hauptfach.

Es ist ein Bankgebäude im Zentrum der Stadt. Wir gehen rein, ich dränge darauf, sofort in den zweiten Stock zu steigen und alle Aufgänge zu verriegeln. Es ist zu spät. Sie sind uns nachgefolgt. Hunderte Geisteskranke werfen mit Steinen nach uns, einige Wahnsinnige schießen mit Gewehren auf uns. Ich werde getroffen. Ich krieche. Ich will nicht aufgeben. Es hat doch gerade erst angefangen. "Wenn du einer von ihnen wirst, kann dich keiner mehr aufhalten" sagt ein Kollege und will mich mit einem Messer erstechen.

Zu unentschlossen, sein Pech, ich erledige ihn und erwürge sogleich seinen Freund. Leo eilt herbei und zieht mich in den Fahrstuhl... Die Wahnsinnigen haben die Herrschaft übernommen. Unsere Stadt wurde von der Hölle eingemeindet und die Höllenbürger strömen aus allen Ecken der Hölle hierher. Ganz oben, ab Stock 60 aufwärts, da besteht eine Chance, sich dauerhaft in Sicherheit zu bringen. Aber dieses Bankgebäude hat nur 18 Stockwerke. Runter. Runter und wieder hoch. Kommt mir irgendwie bekannt vor.


5. Abgeburt

Meine Sünden. Ich lasse meine verfaulenden Organe ständig ersetzen. Ich habe meiner Nichte die Leber aus dem Leib geschnitten, sonst geht es ihr gut. Im Fernsehen lief ein Bericht über einen schweren Unfall auf der A2. Klassenfahrt. Sie ist auf Klassenfahrt. Wo ist es passiert? Zwischen Braunschweig und Helmstedt? Ich guck auf die Uhr. Da müssten sie gerade vorbeigefahren sein...

Ich gehe über eine lange Hängebrücke und das Wasser unter mir will nicht enden. Es wird immer mehr, es steigt immer höher. Die Hängebrücke, sie hängt in der Luft. Sie ist endlos lang. Es ist aussichtslos. Der Ozean wird mich verschlingen.

Mülldeponie. Am Waldrand. Wir wenden. Leo ist ein guter Fahrer. Wir werfen die leeren Bierflaschen weg und verschwinden. Ein gelber Opel Tigra fährt in den Wald. Es müsste gleich in Strömen regnen. Die Dämme werden brechen, sagt Leo.

Wenn dem so ist, müssen wir das Mädchen holen. Ich kenne ihren Namen nicht. Ich nenne sie Kleinika. Nach Regen sieht es nicht aus. Leo? Es ist kein Regen. Egal. Eine Nacht drüber schlafen schadet nicht. Das Monster in der Grube bei der Mülldeponie, es gräbt sich ein in den Waldboden, es ist halb Mensch halb Käfer, es frisst die Gliedmaßen ihres Kindes. Sie schält die Haut vom Schädel ihres Neugeborenen ab und knackt den Schädel wie eine Kokosnuss. Ich kenne sie irgendwoher, dieser Alptraum kommt mir bekannt vor.


6. Die Lichtfresser

Alles ist gut. Die Straße nach Göttingen wird gebaut. Fahrstuhl? Nein, ich nehme die Treppe. Ich renne hoch, so leichtfüßig, als würde ich fliegen. Ich bin nun da, und keiner außer mir. Hallo? Was ist das für ein Gebäude? Warum sieht es hier im siebzigsten Stock so aus wie in meiner alten Schule? Ich renne durch die Korridore, ich renne ins Lehrerzimmer. Die Sonne scheint so hell, doch es ist dunkel. Es ist tiefe Nacht dort draußen, die Schwärze dieser abgrundtiefen Nacht dringt durch die Fenster in den Raum ein, und trotzem scheint die Sonne.

Die Angst ist lähmend. Ich krieche unter den großen Tisch. Tage vergehen. Ich suche Licht. Vergleblich suche ich Licht. Kaum eingeschaltet, erlischen die Lampen. Ich schlafwandle durch alle Zimmer und mache an das Licht, doch das Licht ist so dunkel. Die Lichtfresser sind schon da, sie lauern, die kalte Angst frisst sich durch die Knochen. Was sagst du, Leo? Ein Unglück in der U-Bahn? Ich habe ein Metallrohr in der Birne? Mein Sehzentrum ist beschädigt? Leo? Da lacht der Teufel. Da ist kein Leo. Ich bilde mir den Leo nur ein. Und es nützt nichts, dass ich alles rationalisiere, zu dieser psychologischen Beruhigungspille greife, um nicht zu glauben, dass die Realität wirklich ist. Die Angst und der Zweifel. Es nützt nichts, für alles eine logische Erklärung zu finden. Sie muss auch wahr sein. Die Lichtfresser tragen mich fort in den Abgrund, und alles wird eins, die Gestalten und ihre Schatten.


7. Flasher

Und noch ein Blitz. Fürchte dich nicht, wir schaffen es, Kleinika. Der Himmel variiert von dunkelstahlblau zu pechschwarz. Unser alter Jeep fährt eine Gasse hoch. Vorsicht, da wo die Leitplanke war, da blitzt es wieder. Gesehen? Von Metall zu Metall, quer über die Straße. Das hätte unseren Jeep in Brand gesetzt.

Es ist heiß. Da steigt schwarzer Rauch auf. Dichter schwarzer Rauch, ein Blitz schlug da eben ein. Das Haus steht in Flammen. Ist das unser Haus? Kleinika, deine Großeltern sind tot. Wir müssen durchs Dorf fahren. Überall Menschen in Panik, die engen Straßen verperrt. Und noch ein Blitz. Eine Frau geht in Flammen auf. Kleinika, sieh nicht hin. Es wird noch viel schlimmer. Das Gefühl, dass es zwecklos ist, entkommen zu wollen, lässt selbst in dieser Hitze bis auf die Knochen frieren. Kannst du weiter fahren? Bist du ohnmächtig? Kleinika, er ist tot. Tür auf, Leiche raus. Komm her, setz dich nach vorne. Halt meine Hand. Meine Angst wird dich kühlen. Haben wir noch Benzin? Es riecht nach Benzin. Die Kanister. Unsere Lebensversicherung. Und unser Blitzableiter. Wollen wir es riskieren?

Da, wo wir hinfahren, von da strömen verbrannte Menschenmassen in unser Dorf. Gesichter leerer Hoffnung. Verkohlte Kinderleichen am Straßenrand. Sie. Diejenige, welche. Damals im Skycraper, im 18.Stock. Sie wollte die Polizei holen. Gestern hat sie mich nicht zu dir gelassen. Gestern im Schulgebäude, dort, wo wir einen Film sehen wollten, ich kann mich so bruchstückhaft daran erinnern, als wäre es Jahrzehnte her. Sie hat ihr Kind abgetrieben. In der Grube zwischen der Mülldeponie und dem Waldstück. Heute Vormittag sind Leo und ich dort vorbeigefahren. Der nackte Horror hat uns ergriffen. Ich glaube sogar, ich bin immer noch auf diesem Horrortrip - dieser frische gespaltene Kinderschädel, die Schädelknochen sauber getrennt - das tat sie als das Kind noch lebte -, das Hirn hat sie wahrscheinlich aufgegessen. Da fahren wir nun vorbei. Nichts als verbrannter Wald. Die Menschenmasse lichtet sich. Schöne, pechschwarze, frisch asphaltierte Straße. Vierspurig. Kein Gegenverkehr. Und wahrscheinlich auch keiner mehr hinter uns.

Wach auf, Kleinika, es ist endlich Wüste. Hier kann nichts mehr brennen. Lass uns die Kühltruhe aus dem Kofferraum holen und unser Abendbrot essen, bevor die Blitze hierherkommen und den Boden zerreißen, und Lava hochquillt, der Himmel, der eben noch graublau war, färbt sich wieder stählern und der ganze Horizont ist schon pechschwarz...


8. Invasion der Wesen

Die nächsten vier. Ich kam mit in die Kabine, die in einer Kreisbahn rund um den Schulkomplex nach unten fuhr. Ich stand neben diesem Mädchen, und es wahr vielmehr viel mehr. Die Fahrt war schnell zu Ende, ein Starfotograf verlangte 125 Euro pro Foto. Ich zückte das Portemonnaie, konnte die vielen Fünfziger von den Zehneuroscheinen nicht so recht unterscheiden. Ich gab ihm das Money, er zeigte mir das Foto. Wir standen nicht, wir saßen, und ich rieb mir die Augen auf dem Bild. Ich verlangte mein Geld zurück, der Fotograf protestierte. Ich nannte seine Kunst beschämend, doch schämen tat er sich nicht, denn er war ein Starfotograf.

Etwas später am Abend im Hauptgebäude der Schule: ich wartete, bis alle weg, bis unsere Leute kamen. Ich versteckte mich vor Suchern der Fremdlinge. Im vierten Stock dann, als es draußen dunkel wurde, konnte ich aufrecht gehen, ohne Umwege. - Aber ein Vorfall zu Hause. Ich ging kurz hin, da gruben mittelamerikanische Sicherheitskräfte ein sehr akkurates rechteckiges Loch in die feuchte Erde vor dem Haus. Im Fernsehen liefen immer wieder die Bilder von der Erschießung einer etwa einen Meter hohen, sehr dünnen und fast formlosen Gestalt von einem Soldaten. Dieses schwarze Etwas erinnerte nur vage an einen Menschen, ein Kind war es nicht, wie der Nachrichtensprecher meinte, aber auch kein Alien. Alle Kommentare meiner Verwandten und Bekannten und Unbekannten wies ich schroff ab. Unsinn. Es gibt sie nicht. Ich guckte aus dem Fenster ins akkurate Loch. Es geht um Drogen. Es geht um Waffen. Gestern ist eine Bombe auf dem Polizeirevier explodiert. Eine Jugendbande aus Honduras hatte sich in unserem Quartal breit gemacht. Die Dinge sind manchmal einfacher als sie sind.

In der Toilette oberhalb der Tür in der Ecke hing ein Spinnennetz. Dort bewegte sich ein formloses Etwas, ich hielt es zunächst für eine gewöhnliche Larve. Wie die dahinkam, war egal. Sie war nur ekelhaft und ich wollte einen Gegenstand holen, mit dem ich das Ding dort weg..., doch... es war jetzt größer. Formlos und pink. Eine Seite von dem Ding färbte sich immer wieder rot. Es war nunmehr nicht bloss ekelhaft, sondern noch bedrohlich dazu. Ich suchte nach einem Plastikbehälter mit Deckel, um das Ding da rein zu bekommen, fand aber nichts, und schaute mir das Ding immer wieder an. Es versuchte womöglich, mit mir zu kommunizieren, schneidete sehr primitive Grimmassen. Schließlich fand ich eine andere Lösung. In einen festen Buchumschlag rein, zuklappen, runterspülen. Ich hab zu tun. Die Aliens könnt ihr auf CNN zeigen, nicht bei mir zu Hause. Es war natürlich keins. Die Angst hat nur eine reichere Phantasie als die Vernunft. Da war noch so ein Ding. Schwarz, viel kleiner, hing an der Jalousie. Es nervte, denn ich musste langsam weg.

Alles wird gut, sagte ich. Die kleinen Dinger einfach erschlagen und runterspülen. Nicht warten, bis sie sich auswachsen. Auf dem Weg ins Hauptgebäude dachte ich, es hatte keinen Mund, aber diese Seite, die immer wieder rot wurde - vielleicht verschlang es andere Lebewesen auf zellularer Ebene, durch Kontakt. Es berührt dich, klebt sich an dir fest, und deine Zellen beginnen überzulaufen. Werden ein Teil von ihm, die DNA wird neu programmiert. Jetzt gehts aber hoch. Vor Fahrstühlen hab ich Angst, ich nehme die Treppe. Zwanzig Stockwerke hochrennen, dann sehen wir weiter...


9. Winderinnerung

Aus der Wirklichtraum, der Wecker achtet nullnull mit dem Ziel Kunsthochschulhochhaus. Ich lasse mir Zeit zum Abschlafen und beeile mich dann doch. Halb neun, die hohlen eisernen Skulpturen auf dem Hof. Kurz vor neun geh ich rein. Geträumt habe ich nur dass wir eine Wohnung im zehnten Stock hatten und im Fernsehen eine Orkanwarnung lief, es hiess, in der Stadt, von wo zu uns der Orkan, seien viele Wohnblöcke umgekippt. Aus dem Fenster, und es war zweiundzwanzig Uhr, sah ich, wie der Nachbarblock heftig schaukelte; der Zehnstöcker brach schliesslich zusammen. Die Wände schwankten, alle sassen am Tisch und der Fernseher lief weiter, und wir sagten uns nichts, und noch ein Nachbarblock fiel zur Seite, und der unsere schaukelte nun sehr heftig. Als ich die Worte, das wars nun, sprach, war ich erleichtert. Und aufgewacht.

Wie spät? Neun. Vierunddreissigster Stock. Ein privater Raum. Wo ist die Zeit geblieben? Was habe ich die dreizehn Stunden gemacht? Im Fenster leuchtet die Stadt, ganz unten, ich mache das Licht aus, und dieses Mädchen sitzt und sitzt nicht neben mir; sie ist da, Augen sehen, Ohren hören sie nicht, aber das Gefühl sagt, sie ist da, und ich mache behutsam das Licht aus und gehe aus ihrem Zimmer. Im Korridor bei den Fahrstühlen Wachpersonal mit vielen Schlüsseln und umgehängten Ketten, die Typen tragen interessante orangene Jacken, als wollten sie damit ins Wasser. Das Hochhaus wird evakuiert. Wo meine Fahrräder sind? Warum mehrere? Ich kann keine mehreren Fahrräder fahren. Es ist zehn Uhr am späten Abend, muss Winter sein. Die Fahrstühle funktionieren nicht, das Wachpersonal nahm eine Notleiter nach Unten. Wer noch oben ist, schalte den Fernseher ein.


10. Das letztlich Unvermeidliche

Links vom Haus muss die Querstrasse sein, aber da steht ein Haus und verweigert den Blick. Warum wir wieder dort wohnen, leuchtet mir nicht ein, wir müssten 5000 Kilometer westlicher sein. Im Haus sieht es nach die Eltern haben sich gestritten oder nach Umzug aus; die Nachbarn so verzweifelt, wie ich nie Gesichter gesehen habe, und von der Seite, die ihr Haus zustellt, schwimmen unnatürliche dunkle Wolken herbei. Thermonukleare Hitze ist in der Luft, doch es ist kühl. Hinter den Wolken formt sich jetzt ein Feuerball, bald wird das Feuer hier sein. Der Sohn der Nachbarin, der älteste, er ist 15, weint und heult, so traurig kann man unter 18 eigentlich nicht sein. Die jüngeren Kinder weinen ohne zu wissen warum, und die Oma sieht das Ende der Welt gekommen. Ich werfe meine ganze akademische Autorität in den Ring. Nein, das war keine Atomexplosion. Der Junge irrt. Dankende und ungläubige Blicke, ich scheuche dennoch die Meinen ins Haus, wie ein vorsichtiger Hirte. Geht in euer Haus, rufe ich zu den Nachbarn. Da leuchtet die ganze Seite des Himmels, die das Nachbarhaus verdeckt, hell auf. Das war deutlich näher als vorher. Wir gehen rein, gleich in den Keller. Jetzt war es eine Atomexplosion, sage ich mit ruhiger und fester Stimme.

Alle so apathisch. Wieso? Los, tragt die Matratzen in den Keller. Da sind noch Bonbons, Schokolade. Eine halbe Flasche Macallan habe ich noch irgendwo stehen - trinken wir den jetzt? Lange Gesichter, keiner fasst mit an. Nur ein verirrter Gedanke in mir scheint die Anderen zu verstehen - nicht noch so ein Blitz! Die Matratzen sind alle nass, im Keller ist Wasser. Alle Fenster offen, alle Türen auf, und keiner rührt sich. Auf wen fallen denn die Atombomben, auf euch oder auf mich, möchte man rügen. Ich gehe Kleinika holen, das muss gestern sein. Gestern ist in Richtung Hauptstrasse, der anderen Sonne entgegen.


11. Der Weg ist eine Neugier

Ein Ort zwei Fahrradstunden von Hannover, ein dreistöckiger Wohnblock, ein Keller. Nichts ahnend, gehe ich durch eine Tür, der Gang weist eine Neigung um fünf bis zehn Grad nach Unten auf, es geht noch weiter, viel weiter, ich folge dem Gang. Wie ich wieder zurückfinde, daran denke ich nicht, der Gang wird zum Labyrinth, und endet abrupt. Eine Schwimmhalle ohne Fenster und Türen, tief unter der Erde. Es ist voll. Mühsam erkämpfe ich mir einen Platz an der Wandbank hinten, ehe sich der Becken mit Blut fühlt und überquillt.

Sie war Anfang 20, du solltest mit ihr reden, sagt mir mein Ersatzgewissen, eine ständige Vertretung der Anderen in meinem Kopf. Ich sitze auf der Schaukel und sie etwas abseits, wartend, 15 oder 16. Sie hat sich fast vollständig wiederhergestellt, die helle Blondine. Wenn sie es so ernst meint, sollte ich tatsächlich mit ihr reden. Wir verstehen uns ohne Worte, tauschen Gedanken aus und sind zufrieden. Ich verzeihe ihr die Kollaboration. War nicht ihre Schuld, sie war damals erst 14.

Eine Schule dies, so wundere ich mich. Ein langer Gang einer Lagerhalle, doch ich komme dorthin zurück. Ich habe meine Erinnerung im Hochhaus gelassen, jetzt muss ich schnell den Zug nehmen. Der Zug fährt wohin er will, am Hauptbahnhof fehlt der Gang nach Unten zu den Gleisen, ich muss runterklettern. Den Zug erreiche ich noch, er ist aber voll. Ich zwänge mich durch die Wagen, ehe ich einen Platz finde. Auf der anderen Seite, auf dem Vierer parallel zu mir drei Miezen direkt aus dem Kosmetikstudio, wohl aus demselben. 28, 22 und 15, schätze ich. Sehen sehr verwöhnt aus. Ist das die Endhaltestelle oder wieso drängen alle Passagiere nach Vorn? Ich gehe mit, verliere die Jüngste nie aus den Augen. Der Gang, der eben noch im Zug war, wird zu einem Gang in ebenjener Schule. Ich gehe ruhig hinterher, bis sie sich in einem gemütlichen Klassenzimmer auf den Teppich setzt. Wäre eine Andere so dünn wie sie, wäre sie bestimmt magersüchtig. Und was ist noch weiter, wohin führt der Gang, wenn man ihn zu Ende geht? Nach Österreich, sagt ein Arbeiter, der einen Gabelstapler aus der Lagerhalle fährt. Ich gehe an den stillen Ort, um über die Neugier nachzudenken, die uns finden lässt was wir suchen, um es sogleich wieder zu verlieren.


12. Realität und Invasion

Die Kleinstadt, wo ich früher gewohnt. Der Schulweg. Am Rande der Südstrasse beginnt die Wildnis. Obwohl flache Gegend, bin ich schon mit dem Bus über eine 800 Meter hohe Klippe auf die Stadt gestürzt, oder in die Stadt reingefahren, mit dem Linienbus auf dem Strassenabschnitt mit einer Neigung von neunzig Prozent.

Aber das ist weit in den Osten gegriffen. Direkt südlich vom Schulweg, da ist ein Fluss, ich gehe runter durchs Gebüsch, und ich lege grossen Wert darauf, mich nicht zu versehen, aber versehe mich trotzdem - da sind nun Wände, es erinnert an die Sixtinische Kapelle, nur dunkler und grösser; es ist eine Schwimmhalle, ich gehe auf einer Wand, die zwei Becken trennt, die mit Grün fast zugewachsen sind, unten baden der Leute viele, oben beginnt die aus Erdreich und Pflanzen bestehende Wand zu bröckeln, bricht schliesslich ab, ich falle sanft ins Wasser.

Es geschieht nach demselben Muster - Aufbruch, Blitzstart, Steckenbleiben, Scheitern. Besonders oft, wenn ich eine Stadt, die wir früher einfach die Stadt nannten, mit dem Fahrrad erreichen will. Im Kontext, in dem ich losfahre ist es irrwitzig, mit dem Fahrrad so weit zu fahren, doch wenige Augenblicke vergehen und ich bin fast da, um an Kleinigkeiten zu scheitern; Pedanterie und Harndrang lassen mich nicht weiterfahren, bis ich die Fahrt aufgebe.

Wenn die Angst um sich greift, verstreuen sich die Panikeure in alle Richtungen, und ich bleibe ruhig und besinne mich auf eine Entscheidung. Sie haben die Erde angegriffen, fangen die Menschen und stecken sie in Käfige. Ihre Technologie ist der unseren um Zeitalter überlegen, der Widerstand zwecklos. Also steige ich in den Truck, dessen Räder so hoch wie ein dreistöckiges Haus sind, setze mich ans Steuer und fahre auf die Strasse. Der verängstigte Fahrer bemerkt die von mir plattgemachten Bäume, aber was soll ich tun, wenn der Truck breiter als die Strasse ist. Wen überfahren? Ob und wieviele, den Gedanken daran verdränge ich, und fahre langsam, und sehe aus der Vogelperspektive, wie die Aliens die letzten Flüchtigen jagen, fangen und in Käfige stecken.


13. Schul(d)strafe

Wer im Schlafe einschlief, versteht die Verschachtelung. Es gibt kein Entkommen, kein Aufwachen, der Realtraum verfolgt dich; aber sobald du die Realität fassen willst, entflieht sie, erweist sich als Illusion. Schreib es auf: Die Wahrheit der Realität ist die Illusion. Wenn der Akt des Aufschreibens real war, wird es jemand lesen können, der weder du ist noch von dir geträumt.

Dieses winterlich angezogene Rotkäppchen, das mit dem Betrachter Verstecken spielt, das ist nicht Kleinika. Da bin ich beruhigt. Morgen war Atomkrieg, heute sitze ich in der Schule, muss die letzten zwei Jahre wiederholen. Der Universitätsabschluss ist gültig, keine Frage. Aber ich muss in die Schule. Für zwei Jahre. Was wenn ich nicht hingehe? Welche Konsequenzen drohen? Daran denke ich nicht. Ich denke daran, dass ich einen Monat der Schule ferngeblieben bin und die Noten im Keller sind.

Untergangsstimmung im Mathematikunterricht. Humorlosigkeit bis in die einzelnen Zellen der Lehrkörper. Wo bin ich gelandet? Wie kann ich dich motivieren, fragt der Direktor. Wofür, frage ich? Für diese absurde Gefängnisstrafe? Es ist 14:30, ich treffe mich mit einem dem Wunsch nach Professor, der Wirklichkeit nach noch Doktor. Während er erzählt, sinkt er in die Decke auf seinem Sofa, bis nur noch der Kopf auf einer Schleimlache liegen bleibt und einschläft. In der halben Stunde, in der ich bei ihm war, haben sie im Eingangsbereich seiner Wohnung ein Café errichtet, eine freundliche Dame aus Osteuropa bietet mir Kuchen an. Ich esse keine Kuchen. Ich will den Direktor sprechen. Das Mädchen, das sich jetzt vor mir versteckt, ist zu alt, um Kleinika zu sein. Diese hier ist elf. Sie läuft unter die Treppe, dann in einen Minibus auf dem Schulgelände, springt auf der anderen Seite wieder raus, ich hinterher und fange sie. Wer bist du, dass ich gerade der bin, der ich hier und jetzt bin? Ich lasse sie los. Sie tropft nicht als vier Gramm schwarzen Ihya-Sekrets auf den Boden vor dem Ofen. Sie kehrt als die Fünfzehnjährige zurück, welche damals im Zug. Aber wann und wo, das muss ich erst finden. Hochhäuser können es sein, die Kindheit, die Jahre 1997 und 1998 sehr wahrscheinlich, aber auch die ferne Zukunft.


14. Autobahn

Die Radwege sind immer dieselben, Landschaften von beängstigender Schönheit tun sich auf, um spurlos zu verschwinden. Die vierspurige Autobahnbrücke bei Laatzen, dort von Hannover, wo eigentlich Altwarmbüchen ist. Weiter in den Süden - lange Autobahnen auf Brückenpfeilern, hoch über dem Land, und wo war nochmal Mars, auf oder unter den Bahnen? Auffahrt, und schon hat sich die Landschaft unten verändert - keine Städte, keine Autos, keine Menschen, nichts. Die abgehobenen Bahnen verbinden schwebende Städte, doch als Radfahrer ist es ein mieses Gefühl, weiterzufahren, man schleppt sein Fahrrad zurück, bevor was passiert - und schon erblickt man die gewohnten Landschaften wieder.

Es gibt Geheimwege; nutzt man diese, so präsentieren sich dem Blick herrliche Strassenschilder, die besagen, Stadt A 34 Kilomenter von hier entfernt, Stadt B 48, obwohl die beiden Städte mindestens 200 Kilometer voneinander entfernt sind, - so ein Schild steht auch hier, in der Eingangshalle vom Helmstedter Rathaus. Drinnen ist es Ende März, draussen Januar und viel Schnee. Aber man kann nicht stehen bleiben. So fahre ich zu Rade durch verschneite Strassen, erinnere mich, wie ich in Warschau auf einem LKW nicht bremsen konnte und in den Fluss fuhr, oder wie trist Los Angeles war, einzig die Autobahnen waren schön, aber am Schönsten sind Autobahnen in England - ich weiss nicht mehr welche Stadt, aber da gehst du vom Bahnhof links um die City rum, schon wird der Fussweg zur Hochgeschwindigkeitsautobahn und du beginnst mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit über die Bahn zu gleiten, falls dein Fahrzeug diese aus eigener Kraft nicht erreichen kann. Zurück zum Bahnhof geht es recht schnell, zehn Sekunden, egal wie weit du dich von der Stadt schon entfernt hast; schaut man über die immer glänzenden metallischen Fassaden, sofern man es schafft, bietet sich deinem vielleicht nicht aber umso meinem Auge eine bekannte Landschaft - die Landschaft, die man rechts und links der Strasse sieht, wenn man das westsibirische Dorf, in dem ich als Kleinkind lebte, in Richtung der Kreishauptstadt verlässt.

Einmal bog ich links ab und ging direkt in den Wasserturm, in dem gerade eine Hochzeit stattfand, was mich enttäuschte und betrübte, denn das Mädchen war jung und auch ich fand es schön. Ich ging weiter, ein Privatgrundstück, da fing auf einmal Deutschland an, herrliche Radwege auf dicht bewaldeten Hügeln, und ehe ich mich versah, war ich schon 96 Kilometer weiter gefahren und fand mich auf einer Kreuzung wieder, an der zwei asphaltierte Strassen in zwei Richtungen im 90-Grad-Winkel auseinandergingen; auf einem Rastplatz im Wald stand ein roter Kombi. Drinnen war dicke Luft, der Kofferraum so voll, dass der Deckel einfach mal entfernt wurde, und der ganze Schrott einfach hoch gestapelt. 300 Kilometer noch bis Hannover, so ein Strassenschild. Die andere Strasse lockte mit günstigeren Entfernungen, führte aber von der Hügelkette runter in eine langweilige Steppe.

Die Erinnerung hält mich fest, in ihr kann ich mich vor dem Einbruch der Öde verstecken, doch sie lauert. Schon im nächsten Augenblick könnte ich zum Warten verdammt sein oder akribisch und tagelang eine sinnlose Tätigkeit wiederholen; ich würde von ihr nicht ablassen können, - es könnte das Aufräumen des Zimmers sein, jegliche Arten von Erbsenzählerei, eine Suche nach etwas, was es nicht gibt in unübersichtlichen Archiven einer alten Bibliothek. Solange dieses Etwas, das mich dazu zwingt, sich hinter der von mir geglaubten Abstraktheit seines Wesens verstecken kann, werde ich nicht ausbrechen können.


15. Western Hell Stock Exchange

Mein Freitod war überfällig. Ich habe es nicht getan. Ich musste von da an eine Schmerzrendite von 28% erwirtschaften, um die Zinslast des Schmerzes zu tragen. Bei einem Einbruch brach ich nicht auf dem Boden zusammen, vielmehr mit dem Boden ein, ganz tief. Die Zenobiten gewährten mir einen Kredit mit 39% Zinsen. Ich war ein Wanderer, der dazu verdammt war, einen 75 Grad steilen Weg ohne Hilfsmittel zu gehen. Ein Fehler, und ich wäre tot und noch mehr: ich hätte noch hohe Schulden bei den Zenobiten. Der Tod wäre nicht das Ende gewesen.

Der Junge auf der Brücke sagte der blassen hellblonden Anika, deren langes Haar der Wind streichelte, er könnte nicht mit ansehen, wie sie sich selbst zerstörte - allein durch fortgesetztes Existieren. Er wollte nicht, dass sie aus Mitleid seine Freundin wäre. Er verspürte höllische Schmerzen, wenn er daran dachte, wie sich ihre Gesichtszüge mit der Zeit vergröbern würden. "Ich bin zu schwach. Ich kann die Konsequenzen meines Weiterlebens nicht tragen" sagte er und sprang. Ich hätte einen Kredit mit 11% für ihn ausgehandelt. Ich verstand mich gut mit den Zenobiten.

Ich bin in einer alten französischen Stadt, gehe unauffällig durch die steinernen Gassen, warte auf meine Hinrichtung. So sollte es sein, das Lebensgefühl, immer. Ich zahle meinen Kaffee und lächle das kleine Mädchen auf der Fensterbank an. Sie nimmt meine Hand und sagt, ich sollte keine Angst haben. Sie führt mich zum Schafott. Die Menschen unterhalten sich auf Französisch, amüsieren sich. Das Mädchen zeigt mir, wo ich meinen Kopf hintun soll. Ich verstehe, was sie von mir will, lasse sie aber an mir ziehen und mich zurechtrücken, genieße ihre Zuwendung. Sie küsst mich auf die Schläfe, es kitzelt, mein Herz tanzt. Die Enthauptung kann beginnen. Ein Franzose sagt irgendwas, ich höre nur den Namen heraus: Kleinique...

Ich erinnerte mich, als ich vor zehn Jahren in der Unterwelt aufwachte. Anstatt des Himmels begrenzte Gestein die hohen Räume. Viele Menschen waren versammelt. Sie lachten. Sie warfen mir einen Zettel, auf dem ein Gedicht von mir war. Ich weigerte mich zu lesen. Ein spöttisch dreinblickendes kurzhaariges etwas dickliches Mädchen aus meiner Klasse nahm den Zettel und las. Alle lachten und spotteten, spieen mich an, schlugen mich mit Stöcken, warfen mich auf eine flache eherne Plattform ohne Geländer, die mich runter zur Hölle fuhr.

Fallbeil fällt. Mein Hals wird nicht durchtrennt, es ist Papier oder Pappe. Ein Priester, festlich gekleidet, zieht mich hoch. Wir bekreuzigen uns. Ein ganz in Schwarz gekleideter Mönch überreicht mir ein Maschinengewehr mit unendlich viel Schuss Munition. Ich schieße, bis sie alle tot sind, das dauert. Das sind Millionen. Der Priester und der Mönch lassen Sklaven Leichen aufs Schafott tragen. Wir setzen uns bequem auf die Leichen und unterzeichnen neue Verträge. Der Knebelvertrag mit den Zenobiten ist nicht mehr gültig. Ich bedanke mich bei den Zenobiten. Ich war erst 15, als die Plattform mich in die Hölle fuhr. Seitdem habe ich mich fünfmal verlieben dürfen.


16. Lebend ist tot genug

"Du schriebst jedesmal eine Eins, nun eine Drei minus. Woran liegt das?" fragt der Biologielehrer. "Ich interessiere mich nicht mehr für das Sein, mehr für das Nichts" sage ich und gehe in den Mai. "I´m blue, what I did, I will die" erklingt es den ganzen Sommer.

Mich fasziniert die Straße. Der Weg an sich. Ich gehe, also bin ich. Fahrräder gehen kaputt. Autos funktionieren nicht. Zu Fuss geht es zu langsam voran. Hätte ein Sichzutodelangweilen den Tod unmittelbar  zur Folge, hätte kein Freddy Krueger der Welt so viele Träumer umbringen können, wie in mir gestorben wären.

Ich hatte Träume, die mehrere Wochen lang waren. Nach neun Stunden Schlaf war ich erschöpft wie nach drei Jahren Schwerstarbeit. Womit nicht gesagt ist, dass das Aufwachen mich in die Realität beamt. So einfach ist das nicht.

Die Gedanken tragen mich fort. Ohne meine Gedanken wäre ich verloren. Einer von ihnen heißt Kleinique und ist acht Jahre alt. Langes kastanienbraunes Haar, das Gesicht niedlich, als wäre sie halb so alt. Mit Kleinika lag ich gar nicht mal so daneben. Sie heißt tatsächlich Kleinika, nur eben auf Französisch.

Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Orten ist keine Linie, sondern ein Geheimweg. So geschah es mir oft, dass ich zwischen zwei Dörfern, die eigentlich 300 Kilometer voneinander entfernt waren, mit viertelstündigen Fussmärschen hin und her wanderte. Oft war es bloss eine Tür in der Wand, und ich war woanders.

Hinter dem Wald ist ein See, und der Strand sieht vom Wald aus flach aus. Kommt man näher, erkennt man die kilometerhohen Klippen. Viele Leute, darunter Verwandte, baden im See. Der Strand ist flach, da ich ihn vom Wald aus anschaue. Und sie können unbeschwert baden. Meine Tante ruft mich in den See, ich bin fünf oder sechs, aber mannhaft entschlossen, im Wald zu bleiben. Komme ich näher, stürzen sie alle die Klippen runter und sterben.

Eine Wiese, ich liege. Kleinique sitzt wie ein kleiner Buddha hinter meinem Kopf und tippt mit ihren kleinen Fingern auf meine geschlossenen Augen und meine Nasenspitze. Ich öffne die Augen, sie macht sie mir wieder zu. Ich hebe den Kopf und sehe über den Rand der Wiese - die Wiese schwimmt auf einer fliegenden Insel hoch in den Wolken. Kleinique ist weg. Ich wache in einem Industriegebiet auf. Schwarzer Rauch steigt über einer Eisenbahnbrücke, hinter ihr müsste etwas Stinkendes brennen. Ich klettere auf die Brücke und sehe runter: ein Scheiterhaufen, befeuert mit Plastik und Watte. Auf dem stählernen Pfahl in der Mitte sind viele Häken. Auf ihnen hängen Herzen. Ja, Menschen kommen vorbei und schmeißen irgendwelche Herzen auf den Scheiterhaufen. Meist bleiben diese Herzen auf irgendeinem Haken hängen und rauchen schwarz bis sie verglühen. Ein Penner fängt mit dem Blick ein Herz, das den Pfahl verfehlt, nimmt es, legt es sich an die Brust und zieht den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hoch. In Eile verdrückt er sich, unbemerkt von den Anderen.


17. Pfirsichschnee

Die Schwermut drückt mich mit mehreren Tonnen nieder, als ich die Haustreppe hochgehe und mein altes Zimmer betrete. Es ist ein zugemülltes Kinderbett dort, das Zimmer völlig zugestellt mit unnützem Zeug, irgendwo der Computer. Und die Zeit - ich fahre zu Rad Kreise in einem Internatsgelände, von dem eine interne Eisenbahn direkt nach Leipzig führt, aber auch in einen Vergnügungspark, und ist das nicht ein hohes Krankenhausgebäude, das fünf Jahre lang meine Schule war, nur ohne die oberen 20 Stockwerke? Es hat keine 23, sondern nur drei, es ist ein Altenheim, ich wohne auf dem Dachboden in einem kleinen Zimmer. Ich gehe rein, es hat keine Tür. Die Grenze zwischen Pfleger und Gepflegtem scheint zu verschwinden, und so verschwinde ich noch schneller, nehme eine Abkürzung, sie führt in geheime Heizräume des Krankenhochhauses, in denen nichts Geheimes ist, außer dass ich heimlich wieder hinausgegangen bin - in einen Park, in dem ich in das Tagebuch der Schwermut unter Zwang von Innen sinnlose Sätze eintrage, und die Zeit vom Ende Juli bis Ende August in quälender Melancholie in wenigen Stunden vergeht.

Ich gehe nach Hause, direkt aus meinem Zimmer gelange ich auf einen Balkon ohne Absperrung und wundere mich, warum noch niemand runtergefallen ist. Ich bemerke, dass zwischen meinem Zimmer und der Nachbarwohnung nur eine symbolische Absperrung aufgestellt ist, die Neugier zwingt mich hinein, die alte Frau ist weg oder tot, die Sachen in ihrer Wohnung gehören mir. Ich sehe mir alles an, kann aber nur Vergangenheit in den Sachen entdecken. Mich lockt der Balkon, von dem ich fast runterfalle, aber da ist schon dieses trockene Flussbett, das in Sekundenschnelle geflutet wird. Am Ufer dieses Hotel, unten ein Durchgang. Ein Eis? Ein guter Vorwand, um hochzuklettern. Ich wandere über den Platz, die Sicherheitskräfte rauchen, ich falle nicht auf, gehe in die Promenade unter dem Hotel, dann über eine Absperrung und die Treppen hoch. Da beginnt die Zukunft, ungefähr ab dem fünften oder achten Stock. Sehe ich nun durch die Fenster, offenbart sich mir eine tote Stadt. Ich muss noch höher steigen, auch wenn Angst und Gewissen mich runterziehen.

Höher gehts nicht. Es sieht aus wie in meiner alten Schule. Die Bibliothek ist überfüllt mit unbekannten interessanten Büchern, ich greife gierig zu, besinne mich aber und gehe in die andere Richtung. Dort wird es den Korridor entlang immer heller. Das Licht ist gutartig, statt Angst verspüre ich immer mehr Freiheit, wovon auch immer. Die letzte Tür links? Nein. Die Tür ganz am Ende des Weges, bei dem metallenen Stern. Der Raum gehört gar nicht in dieses Gebäude. Das ist ein Penthaus. Ich schließe die Tür, hinter der es sofort dunkel wird. Und draußen ebenso. Nun erkunde ich das Panorama, setze mich in einen Luxussessel, mache mir einen Tee. Es duftet nach Pfirsichen. Ich bin nicht allein.


18. Die Kristei

Ich hörte Pfirsichschnee, so war ihr Name. Nein, Persephone. Sie war der personifizierte Luxus und ist es immer noch. Es ist kein Klartraum mehr, es ist wieder Gegenwart. Und sie ist angezogen, als wäre heute der Winterball. Was für ein Ball? Dort wo sie herkommt ist der Winterball die wichtigste kulturelle Veranstaltung überhaupt. Auf mich hat sie nicht gewartet, oder etwa? Der Blick in den Spiegel lässt mich an meiner Unerwünschtheit erheblich zweifeln. Ich bin 15, makellos schön, so frisch wie drei, so zart wie ungeboren. Ich werde mich transformieren müssen, falls ich hinaus will. Und das muss ich wollen, der Wille lässt mir keine Wahl. Stillstand ist Tod. Ich muss weitergehen. Persephone ist 12, etwas dunkelhaariger als hellblond, das Haar gerade und sehr lang. Wir tanzen, sie schmiegt sich an mich, immer wieder, sagt mir, ich soll nur ihr und der Vernunft vertrauen, nicht den Sinnen, nicht den Gefühlen. Der Ausgang führt mich auf ein riesiges Flachdach, hoch über der Stadt. Ich bin wieder der Alte, roh und zäh. Nun beginnt die Jagd.

Ein verlassenes Schloss - es hat von einigen Freaks den Namen Kristei bekommen. Auf keinen Fall hinein gehen, denn man kommt nie wieder raus. Ich klettere die lange Feuerwehrleiter hinunter, passiere gedankenverloren die Mauern des Schlosses. Ein Foyer. Dort drei Schulmädchen, sie wurden hierher entführt. Ich schlage vor, hinauszugehen, dort vorn ist doch gleich die Eingangstür. Die Mädchen gehen zur Tür, bleiben da stehen, sie ist gar offen, aber die Mädchen klopfen verzweifelt auf das Nichts und gehen wieder zurück ins Foyer. Da bekomme ich Angst, die Mädchen bemerken dies und verhalten sich nun wie Quanten. In verschränken Zuständen verteilen sie sich über die Kristei. Neunzig Meter ist der Korridor lang. Ich habe zweihundert Schritte gezählt - ein Ende ist nicht in Sicht. Ich gehe weiter, immer weiter, werde müde und setze mich hin. Das ist ein Ort ohne Widerkehr. Und wer im Traum hierher gelangt, wird an diesem Ort aufwachen.

Ich gehe eine Seitentreppe hoch, finde ein Zimmer, in dem eine menschenänhliche Gestalt mit Tentakeln anstelle von Armen und Beinen auf einer Blutlache tanzt. Das Monster ist blau. Es schaut mich an, aber nicht wie ein gieriges Monster, vielmehr wie ein beim Onanieren gestörter Freak. Ich gehe woanders hin. Draußen steht ein Schulbus. Ich springe aus dem zweien Stock, lande weich auf einem Beet, gehe zum Busfahrer. Er weiß nichts von Schulmädchen. Er will Kokain abholen. Ich sage, er soll die Mädchen mitnehmen. Er nimmt wortlos die mit Kokain gefüllten Reissäcke und fährt los. Ich gehe wieder ins Foyer. Die drei Mädchen sitzen auf einem breiten Divan und sehen fern. Wurden sie überhaupt entführt? Die Zweifel werden immer begründeter. Ich gehe hinaus, die Straßen entlang, es beginnt zu regnen.

Meine Haut ist eine braungebackene Kruste. Ich sitze in der grünen Garage und mir ist heiß, ich will mir die Haut abziehen. Tu ich das, wird sich die Unterhaut entzünden und ich sterbe hier im Dreck. Ich habe hier ein Gerät, das mir zeigt, dass bei dieser Radioaktivität ich keine mehreren Tage mehr zu leben habe, vielleicht nur den Heutigen zu Ende. Du hast hohes Fieber, flüstert mir die Stimme der Vernunft, und lässt mich in der Baumkrone eines Eukalyptus aufwachen. Es ist angenehm frisch. Wo ich bin - keine Ahnung, aber es gehört zur Aufmerksamkeitsökonomie, es auch nicht wissen zu wollen.


19. Shady State

Wiederhole ich mich, wenn ich erzähle, wie ich einmal nach Hause ging, von zwei Geheimpolizisten angehalten wurde, Formulare ausfüllen musste, dann zufriedengelassen ins Wohnhaus ging, in den elften Stock? Jedenfalls gab es im selben Wohnsilo einen Radiosender, der regierungskritisch war. Genau unter mir, im siebenten oder neunten Stock. Nun sah ich mit Freunden fern - sie waren im selben Wohnsilo, nur in ihren eigenen Wohnungen - wir kommunizierten telefonisch und kommentierten die Radiosendung, die gerade im Fernsehen lief. Ein Standbild und eine ketzerische Stimme. Als Hubschrauber über den Wohnsilos ihre Kreise drehten, scherzten wir fröhlich. Aber dann blieben sie genau gegenüber unserem Wohnsilo in der Luft stehen und feuerten Raketen ab. Die Radiosendung war damit beendet, dichter Rauch quoll zu meinem Fenster hoch. Sie schossen wieder. Es waren die Wohnungen der beiden Freunde, die getroffen wurden, und nun standen die Hubschrauber direkt vor meinem Fenster und schossen auf mich.

Etwas später passiere Ähnliches: ich war in einem ähnlichen Wohnsilo, als ein kleines Flugzeug in die Wohnung drei Stockwerke rechts und etwas oben hineinflog und explodierte. Ich sah im Fernsehen gerade den Bericht, da flog schon ein Flugzeug direkt auf mich zu. Ich rannte zur Ausgangstür meiner Wohnung und sah noch den abgefackelten Piloten. Glücklicherweise war ein Krankenhaus direkt im Wohnsilo, so dass der Pilot noch vom Rettungsdienst geborgen werden konnte. Mich aber beschäftigte die Frage, wie zwei so ähnliche und so ähnlich unwahrscheinliche Begebenheiten innerhalb kürzester Zeit mir und wieder mir passierten.

Der Lehrer, der von der Shady-State-Hypothese sprach, war kein Astronom. Ich kannte mich mit Urknällen definitiv besser aus als er. In einem Haus, in dem viele Menschen auf den Treppen versammelt waren, fand ich mich wieder, als Bomben auf die Stadt fielen. Bewaffnete türkische Paramilitärs stürzten hinein und verlangten Ausweise. "Du studierst Philosophie? Respekt!" Warum finden Leute es so ungewöhnlich, dass jemand nichts Beliebiges, sondern etwas Konkretes von der Welt wissen will? Wissenschaft schafft Wissen. Was mit Arbeit ist? Keine Sorge, ich finde eine Arbeit, und wenn es auch die sein wird, dich in deinem Wohnsilo aus einem Hubschrauber abzuknallen.


20. 12.02.2009

An jenem Donnerstag kommt der Film "The Priest" in die Kinos. Für einen Místàí wird der Wiedererkennungswert so hoch sein, wie wenn ein Jugendlicher mit Asperger-Syndrom "Ben X" im Kino guckt. "Ist Lynch ein Místàí?" fragt mich ein Tierschutzaktivist. "Aber nein, bloss ein phantasiebegabter Regisseur". Wir sind viele in diesem Gebäude für kulturelle Veranstaltungen, in einem der Räume mit Piano und Bar ist es eng, alle feiern, ein Neonazi soll angeblich ins Gebäude eingedrungen sein, die Polizisten sind los. Im Nebenraum wird geschossen. Erst spekulieren alle, der Neonazi wäre von den Polizisten überwältigt worden. Weit gefehlt. Es sind mehrere Schüsse zu hören, immer näher scheint der Schütze zu sein. Panik bricht aus. Alle rennen. Ich laufe einen Korridor entlang in ein Foyer, eine labile Treppe führt mich auf eine sensible Plattform über dem Foyer; die Plastiktür lehnte ich nur an, der Schütze wird es leicht haben, einzudringen. Einige schaffen es zu mir auf die Plattform. Es ist ein Amokläufer. Er ballert auf die, die er treffen kann. Bald unten keiner da. Es wird eng auf der Plattorm, die Konstruktion ist sehr labil, die Leute sehr nervös. Ich schaffe es zum Notausgang und bin auf einer verregneten Strasse, ganz anderswo in der Stadt.

Er ist in einem Supermarkt, als plötzlich Panik ausbricht. Die Menschen werden gefangen und in Plastiktüten verpackt, vorher noch gerupft und etwas gegrillt. Alles sekundenschnell und mit höchster Professionalität. Als er eine Plastiktüte anschaut, in der nun eine halbtote Frau eingepackt ist, da schreit ein Häuptling aus einer anderen Plastiktüte: "Das alles sind meine Frauen!!" Die anderen Plastiktüten erbeben in Furcht vor seiner Stimme. Nur wird er nichts mehr ausrichten können, er wird wie alle Eingepackten in ein Labor wandern.
Der Beobachter, ganz in Schwarz gekleidet, spürt hauptberuflich für die Inquisition Terroristen auf, die genau das tun, was er eben in seinem Traum - dem Vorspann zum Film - erlebte. Er ist ein Místài, ein Seher, der in die Gedanken der Leute sieht und noch tiefer. Er wird sich über die bestialischen Verhörmethoden seiner Kollegen beklagen, die Diktatur der Inquisition im Land bemängeln. Doch er wird wissen, dass der Terror, der damit verhindert wird, noch mehr Unfreiheit bedeuten würde. Totale Bewusstseinskontrolle. Terroristische Sekten, die im Begriff sind, einen künstlichen Místàí, einen sogenannten Minder, zu erfinden.

Ich werde mir den Film ansehen. So realitätsfern ist es ja nicht. Und die Realität ist keine lineare Abfolge von Ereignissen, sie ist ein inkonsistenter Zeitschaum. Die Stadt ist sowohl zerbombt als auch nicht zerbombt, ich gehe ja durch die Strassen, es regnet, alles ist noch trist, grau und da. Und dennoch juckt die Haut, wenn sie sich an sich selbst als braungebrannte Kruste erinnert. Auf dem Messegelände finde ich diese hohen dünnen Stelen, diese Betonblöcke, sie ragen schwarz in den gleichfarbigen Himmel. Im höchsten Gebäude der Stadt werden die Überlebenden versammelt sein, und zwar die, die sowohl überlebt haben als auch überlebt hätten.


21. Whitein

Der Blackout hat sich als ein Schutzmechanismus erwiesen: wenn der Verstand die Inkonsistenz der Realität nicht verkraften kann, setzt er kurz aus und fängt woanders neu an. Diese Sprünge sind nicht mehr nötig, ich weiß dass es Leo sowohl gibt als auch nicht gibt. Leo reißt eine Kiosktür auf, wir kaufen Ginger Beer. Das Wetter ändert sich von kühl auf spätsommerheiß. "Eine totalitäre Gesellschaft" sagt Leo, "in der in der Arbeit die einzige Lebensberechtigung überhaupt besteht. Der Zustand der Hände ist der beste Arbeitsnachweis, wer Handschuhe trägt, gilt als dekadent. Da kommt dieses Mädchen. Kein Erwachsener darf ihre Hände sehen, sie versteckt sie. Sie sehen aus wie die deiner mysteriösen Freundin". "Und was ist aus ihr geworden?" "Du hast sie von dort entführt und strenger Prüfung unterzogen, ob sie jemals Dreck oder ähnliches berührte". "Das war diese steinerne Stadt, nicht wahr?" "Ja. Und da ist schon unser Wolkenkratzer"...

Ein Kratzer, und es wäre vorbei gewesen. Aber ich konnte keinen finden, wahrscheinlich weil keiner da war. Ich traf mich mit ihr auf einer Burg, die steinerne Stadt war voller solcher Burgen. Als ich bemerkte, wie zart ihre Haut war, fasste sie es zunächst als Drohung auf. Ich packte sie am Arm; hätte sie mir die Hand gegeben, mir, einem damals noch Unbekannten, hätte ich sie dort gelassen. Ich muss sehr jung gewesen sein, und da war noch ein neunjähriger Junge. Er musste viel leiden, war zerbrechlich, hatte feminine Züge. Ich trug ihn nachts auf meinen Schultern aus dieser Stadt der Arbeitsbarbaren, versteckte ihn in einem Bunker und zündete die Bombe fern. Und die Stadt ward mit einem Schlage vernichtet. Wer nahm das Mädchen damals mit? Die Antwort wird im Wolkenkratzer zu finden sein.

Diese kleinen braunen Punke auf der Haut, die immer mehr werden, bemängelte ich, als ich die Kehlen der Wachen durchschnitt. Und dass die Haare überall wachsen, selbst auf den Handrücken, fluchte ich, als ich einer Geheimpolizistin ins Ohr schoss. Wir stiegen die Treppen hoch, bis hierher. Nun sind wir hier im neunundvierzigsten Stock und die Tür ist versperrt. Massiver Stahl. Man muss einen Code eingeben. Aber welchen? Ich gehe runter, reinige meinen Körper von all dem Blut und Staub des Tages, komme im Bademantel zurück. Wir sitzen auf der Treppe und trinken Ginger Beer, mal sehen, vielleicht will ja einer raus.


22. Caigh

"Die Firma geht pleite, und die Beiden verkaufen ihr Haus samt Kinder heimlich an Banditen, kassieren eine Million in Bar und verlassen das Land. Mann und Frau Mitte 40, die Tochter 16, sehr hübsch, Kükenfrisur, der Sohn 9, ein sensibles Jüngelchen", erinnert sich Leo an den Film. "Die Kinder werden vergewaltigt und misshandelt, wehren sich, erschießen die Banditen, sterben zusammen an ihren Verletzungen". "Was wurde aus den Eltern?" "Nichts. Nach dem Deal wurde nicht mehr thematisiert, wie es den Eltern ergangen ist. Das war ja das Nihilistische an dem Film". Die Tür geht auf. Ich nehme einen alten bärtigen Mann als Geisel. "Wer seid ihr?" fragt Leo. "Wir haben überlebt. Was wollt ihr?" Wir gehen durch die Korridore, steigen die Treppen hoch, sind schon im vierundsiebzigsten Stock, als der Mann sagt, es gäbe keinen außer ihm im Gebäude. Wir bringen ihn in eine Kantine, fesseln unter einem Tisch, geben ihm einen Sixpack Mineralwasser und Haferflocken, Brot, eine Stange Wurst sogar - wer weiß, wie lange er da sitzen muss. "Das war der Hunderste" sagt Leo. "Und?" "Du siehst doch. Nichts". "Lass uns eine Kantine finden. Ich habe großen Durst". Leo folgt mir, ich rieche Trinkbares, wenn ich Durst habe. "Der andere Film, in dem ein Fünfzehnjähriger unglücklich auf den Rücken fällt und sich die Wirbelsäule bricht. Da schafft er, bevor die Bombe neben ihm hochgeht, mit Willenskraft, dass sich die Wirbel wieder zurechtrücken... Warum erinnern wir uns an Filme, die wir nie gesehen haben, aber so, als ob wir sie im Kino gesehen hätten?" "Du bist immer noch im tertium non datur verhaftet" sage ich und merke, dass Leo verschwunden ist.

Ich gehe allein hoch, es muss inzwischen der hundertachzigste Stock sein, da taucht Leo wieder auf. Es ist so eklig warm; ich erinnere mich, als ich in meinem Zimmer aufwachte und überall diese Nacktschnecken waren, so groß wie ein Feuerzeug, überall, auf mir, sogar unter dem Pyjama. Ich riss sie von meinem Körper, ging in die Küche, da waren andere Nachtschnecken, bügeleisengroß, und auch viele kleinere; im Wohnzimmer krochen Viecher so groß wie ein Hund, und zu guter Letzt sah ich die beiden Superstars hinter dem Divan, jeweils zwei Meter lang. Als ich dann nackt das Haus verließ, kamen mir die bügeleisengroßen Nacktviecher sogar niedlich vor. "Ich muss duschen" sage ich und schreite vom Treppenhaus in den langen Korridor. Es kommt noch besser: wir finden eine Schwimmhalle. Aus einem Becken schwimmen wir in ein anderes, das an der frischen Luft ist - es ist auf einer Dachterasse zweihundert Stockwerke über dem Boden. Und es beginnt zu regnen.


23. Mordverhalten

Fünfhundert, sagt Leo. So hoch ist kein Gebäude. Wenn wir auf dem fünfhundertersten Stockwerk sind, dann ist das Gebäude fast zwei Kilometer hoch. Das ist unmöglich. Aber unmöglicher als das mit der Bande, die Falschgeld über die Grenze beförderte, sich als Polizeibeamte verkleidete und diesen Lastwagen voller albanischer Flüchtlinge aufhielt, aus dem eine sehr alte Frau aus ihrem zahnlosen Mund mit hässlicher Stimme sang: Amerika, Amerika? Wir taten alles richtig, kamen am Treffpunkt an und warteten. Keiner war uns gefolgt. Nun aber sah ich, wie jemand aus dem Hinterhalt meine Partner einen nach dem Anderen abschoss, und mich letztlich auch in den Rücken traf. Ich lag auf dem Kartoffelfeld, als ein kleines Mädchen mit Schulranzen ihr Fahrrad auf dem Feldweg schob. Ich fragte, ob es im Dorf, wo sie gerade her, ein Krankenhaus gäbe. Sie bejahte und fuhr weiter. Ich ging in die Hütte, legte einen noch lebenden Mafioso auf eine Liege, da schoss jemand seine Frau ab. Ich legte die Frau auf eine Liege, deckte sie zu, und spürte auf einmal, dass hinter mir jemand war. Im Schrank. Ich riss dir Tür auf und rammte ein großes Messer in die alte Frau vom Lastwagen, die aber nicht blutete. Aus der Hütte war eine Villa geworden und die alte Frau mit durchgeschnittener Kehle kam auf mich zu und wollte mich erwürgen. Ich nahm einen massiven Stock und schlug mehrmals gegen ihren unkaputtbaren Kopf. Sie war tot, ein Bankier begrüsste mich, gratulierte mich zu getaner Arbeit; draußen vor der Villa war ein herrlicher Pool, ein ganzer See aus Wasser und Marmor. Die Untote löschte die ganze Bande aus, ich blieb leicht verletzt, der Mafioso und seine Frau starben und wurden neben der Villa beigesetzt. Ich ging mehrmals zum Pool, schaute mir die vielen Menschen an, sie waren ausnahmsweise interessant. Nur hatte ich keine Zeit für Konversationen, es gab einen neuen Mordauftrag für mich.

Sechshundert, sagt Leo. Das ist hoch. Wenn wir aus dem Fenster springen, fallen wir auf die Wolken. Aber es geht noch höher, und so gehen wir. 648. Hier hört die Treppe auf, aber etwas ist immer noch über uns. Wir finden einen Raum, in dem eine ausfahrbare Leiter in der Decke befestigt ist. Wir steigen hoch, ein Korridor wie alle Korridore vor ihm. Nur sind hier auf einmal viele Menschen, Kinder, es ist eine Schule. Die Mädchen sind alle schön. Die anderen, redundanteren menschlichen Wesen sehen ebenfalls angenehm aus. Wir gehen in die Bibliothek und warten, sind müde. Ob sich auf diesem Stockwerk ein Pool finden lässt?

Die Hölle - die eine Hölle, in der sich erstmal alle treffen - ist Halbwüste bis Wüste, Sand, verbranntes Gestein, Langeweile und verdammt viel Zeit. Ein ewiges Sterben ohne Tod. Keiner bleibt da länger als eine Woche. Jeder lässt sich einen Vertrag aufschwatzen, muss Aufträge in verschiedenen Welten ausführen, verpfändet sein Schmerzvermögen. Milliarden wurden allein zur Sicherung dieses Hochhauses angeheuert, welches unsichtbar in den Wolken wurzelt. Wir sind durch ein Loch in der krummgefalteten Raumzeit hineingekommen, töteten keine zehn Wachen. Entweder spielt die Realität uns etwas vor, oder es wird sich gleich eine Luke öffnen und wir fallen fürs Erste 1000 Stockwerke tief. Dass nichts dergleichen geschieht, macht mich nervös; Leo löst sich immer wieder in der Luft auf, die Titel der Bücher in den Regalen der Bibliothek wechseln sich mit jedem Blick und mein Verstand versucht aufzuwachen, als ob das alles ein Traum wäre.


24. Entropie

Fünf dürre Gestalten, in Schwarz verhüllt, führen mich in ein Büro. Dort empfängt mich ein Mädchen Ende 15, zunächst erinnert sie mich an das Mädchen damals im Zug - die Jüngste der drei -, aber etwas ist anders. Die dürren Gestalten gehen und schließen die Tür von Außen ab. Das Mädchen setzt sich auf den Tisch und starrt mir in die Augen, ich sinke in den Chefsessel hinein. "Man sieht es mir wirklich nicht an?" fragt er und lacht, "ich bin ein Zenobit, alles was du siehst, ist künstlich. Ginge es nach dem Gesetz der Verwesung, wäre ich 202. Ich sehe aber aus, als wäre ich noch keine 16... Wie hast du es hierher geschafft?" "Wir.." "Nicht wir. Du bist allein gekommen. Wissen die anderen Zenobiten, dass ich hier bin? Weiß irgendjemand irgendwas? Ich meine, jemand muss etwas wissen, ich bin so paranoid, das zu glauben. Und schließlich bist du ja hier, also hat irgendjemand irgendwas wissen müssen". "Ich bin nicht im Auftrag irgendeines Teufels hier" sage ich und gehe zum Fenster. "Bist du auf der Flucht wie ich?" zwitschert der Zenobit mit der zarten Stimme. "Auf der Flucht? Vielleicht. Aber nicht vor etwas. Nach etwas. Ist die Suche auch eine Flucht?" Der Zenobit, ungeduldig, kommt zum Geschäftlichen: "Persephone ist im 880. Stock. Du kannst dich im 714. Stock transformieren, dich bis auf 16 verjüngen, selbstverständlich makellos schön. Ich nehme an, du willst ein Junge bleiben". "13" erwidere ich kalt. "Die Schmerzgrenze liegt bei 15. Ich muss dann auf einen Schlag fast ein Jahr älter werden". "Einverstanden. Eins möchte ich noch wissen. Wofür werde ich nun bestochen?" "Kein Wort zu niemandem. Keine Andeutung. Keiner darf wissen, dass ich hier bin. Kein Kontakt zu Geheimpolizei oder Zenobiten". "Und wenn sie mich fangen?" "Dazu darf es nicht kommen. Du bist immerhin hier drin, und das ist schon unmöglich genug. Geh zu Persephone, sie wird sich freuen".

Dann hoch gehts. In den 714. Stock. Bin gespannt. Im Aufzug kleine Mädchen, die gibt es hier überall. Es gibt hier nichts Anderes. Wie viele sind künstlich verjüngt? War das der einzige Zenobit oder glaubt er das nur? Vielleicht redet er sich das ein, immer wieder, weiß aber, dass alle hier genauso unecht sind wie sie... er... Ist das ein geheimer Zufluchtsort der Entropiemilliardäre, die auf Kosten der Zersetzung Anderer jung und schön werden? Wo ist der Energieumwandler? Ich komme an, da ist ein Pool mit schäumendem Wasser. Ein Gerät für den Endverbraucher. Ich springe also hinein und komme als frischer Fünfzehnjähriger auf der anderen Seite wieder raus. Und wenn nicht? Und wenn das Ding mich einfach tötet? Ich habe noch nie so ein Ding benutzt.

Ich warte am Pool, kann mich nicht entscheiden. Ich werde zum Komplizen der schwerstmöglichen Verbrecher, wenn ich das hier durchziehe. Und Persephone? Ist sie echt? Oder ein umgewandelter alter Physiklehrer? Wer weiß das schon? Das Ganze hier erinnert mich an ein Gerät, das sich mit dem Hirn in Verbindung setzt und eine künstliche Kopfwelt erschafft, nach den Wünschen des Kunden. Was, wenn ein bösartiger Programmierer auf einmal die Kontrolle übernimmt und den bezahlten Himmel in die Hölle verwandelt? Und ich würde auf seinem Seziertisch liegen und mich nicht wehren können. Springen werde ich, aber nicht in den Pool, sondern aus dem Fenster.


25. Fliegende Kühe

Ich wache neben einer Leiche auf. Das war meine eingeschlafene Hand, die mir auf die Fresse gefallen ist. Ein Monster, eine Bestie erwartet zarten Besuch. Ein menschenähnliches Wesen, das nachts durch Städte spaziert und Passanten ausweidet. Ich bin nachts auf einer menschenleeren Straße und es kommt auf mich zu. Wohin soll ich laufen? Es ist schneller, stärker, wahrscheinlich auch klüger. Aber kaum versehe ich mich, merke ich, dass ich dieses Wesen bin. Fröhlich töte ich Menschen und weide sie aus.

Es flog ein Bettlaken über dem Park, es war sehr windig. Ich hielt das Bettlaken fest, es hob mich in die Luft. Kaum sah ich nach Unten, schon war ich mindestens 50 Meter in der Luft. Ich konnte das Ding nicht loslassen, ich wäre sofort wie ein Stein zu Boden gefallen. Oder etwa nicht? Als es mir irgendwann zu hoch wurde, ließ ich los. Sanft glitt ich runter, fiel aber nicht, und lernte beim Gleiten, wie ich durch sprungähnliche Bewegungen wieder an Höhe gewinnen konnte. Ich habe also fliegen gelernt. Seitdem fliege ich oft. Auch diesmal werde ich fliegen, wenn ich aus dem Fenster springe. Wie doch ein einziger Gedanke ein ganzes ewiges Glück vergiftet. Das schönste Mädchen im Universum ist nicht mit dem schönstmöglichen Körper gleichzusetzen. Glück bedeutet nicht, sich mit Schönheit wie mit H zuzudröhnen. Das ist der Grund, warum ich hinter dem mysteriösen Mädchen aus dem Zug her bin, obschon ich weiß, dass sie nicht perfekt ist. Ich fliege über einen See hinweg, über Wälder, Häuser, lande sanft auf einer Wiese. Ich gehe einen schmalen Weg entlang in ein Dorf, das ich früher einmal im Jahr besuchte, immer im Sommer.

Angekommen, sehe ich ein Loch im Boden, als ob die Raumzeit an diesem Ort am Verfaulen wäre. Das Loch wird immer größer, das Dorf versinkt im Nichts. Das Fliegen ist mir vergangen. Aus letzter Kraft rette ich mich vor dem Loch, um mich auf einer Klippe über einem Flussbett wiederzufinden. Ein Mädchen, im November 1998 war es 14, stößt mich die Klippe runter, das Flussbett füllt sich mit Wasser. Ich rolle zum Wasser, Oben und Unten geraten durcheinander. Nun beginne ich zu ertrinken. Überall ist Wasser. Ich schwimme an die Oberfläche, sehe aber nur Wasser, und eine hohe Welle rast auf mich zu.

Ich bin höchstens fünf, sehe einen Schwarm fliegender Kühe am Himmel und gehe ins Haus. Ich schließe alle Fenster, endlich die Tür, aber da rammt sich schon ein Kuhkopf durch die Tür ins Haus, eine andere fliegende Kuh zwingt ihren Kopf durch ein kleines Fenster hinein. Fliegende Kühe fressen kleine Kinder... Schade, dass ich damals nicht fliegen konnte.


26. Wahrheit und Kontrolle

Ich muss immer pissen, wenn mich Rotkäppchen besucht. Es dauert immer so lange, bis Rotkäppchen nicht mehr da ist. Es ist unmöglich, Rotkäppchen einzufangen. Allein unmöglich. Ein siebenjähriges Mädchen fing es für mich, ich sah Rotkäppchen in die Augen, und seitdem belästigt es mich nicht mehr. Ich bin nicht 30 oder 31 oder wie alt ich auf dem Weg, einen Einsiedler namens Jacques zu töten, nun bin. Ich bin auch der der ich vor zehn Jahren war, auch der verzweifelte Teenager, auch der kleine Junge, und auch der ganz kleine Junge, der nicht in den Kindergarten gehen wollte. Für all diese Mädchen bin ich daher immer ein Gleichaltriger, egal ob ich im Sand spiele oder im schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte unterwegs bin, jemanden zu ermorden.

Das Haus über einem trockenen Flussbett erwartet meinen Besuch; der befestigte Weg, den ich oft zu Fuss oder zu Rad benutzte, ist gesperrt. Ich gehe direkt über das zugemüllte Flussbett in dieses Haus mit zerbrochenen Wanduhren; das Haus scheint zunächst nur eine Fassade zu sein, aber hinter den Außenwänden, die man zunächst sieht, steht ein anderes Haus. Ich gehe da rein, es ist angenehm sauber und viel Platz. Wohnt Jacques hier allein? Ich gehe in den zweiten Stock, dort steht ein Schreibtisch direkt unter einem offenen Fenster; die Äste eines Apfelbaums reichen ins Haus, hängen über dem Schreibtisch. Es ist so frühherbstlich schön; am Schreibtisch sitzt ein sehr feiner fünfzehnjähriger Junge und schreibt.

Wir sitzen im Gästezimmer und trinken Tee. Er will wissen, ob ich weiß, was ein Selbstzweck ist. Abstrakt weiß ich es, doch seine Frage ist konkret. Ich bin es, sagt der Junge. Der ganze lebende Luxus der Welt ist für mich da. Ohne mich verliert es seinen Sinn und wird dekadent, die Körper spucken ihre Seelen aus und sind Zweck für Anderes, konkret Puppen, in die jeder hineinschlüpfen kann, der die entsprechende Technologie besitzt. Ich frage ihn, ob er Jacques ist. Er sagt, es sei meine Entscheidung, ob er Jacques ist. "Meine Geliebte hast du ja schon kennengelernt. War es schön, ich zu sein?" "Wir haben nur getanzt" versichterte ich. "Aber ich weiß doch. Du hast nur das mitgetan, was ich getan habe. Ich hatte die Kontrolle, du ihre Illusion. Aber solange man nicht weiß, dass man es nicht selbst ist, glaubt man, sein eigenes Leben zu leben. Doch du lebstest für kurze Zeit meins". "Habe ich jetzt die Kontrolle? Ist es meine Entscheidung, ob ich dich töte oder am Leben lasse?" "Du fällst wieder einmal hinter Erkanntes zurück. Ein entweder-oder gibt es nur in deinem Kopf".

Als ich gehe, verschwindet das Haus hinter der Fassade. Da ist nur Asche. Habe ich Jacques getötet? Wahrheitsfaktor 0,22. Keine Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis, das in Wahrheit entweder eintrifft oder ausbleibt, 0,22 ist die Wahrheit. Ein Umzug in der Stadt, ich setze mich in eine fahrende Yacht. Es ist eng und voll, Klassenkameraden aus vielen Schulen sind da, feiern, trinken. Die Yacht wird an einer Kreuzung angehalten, ist zu hoch für den Stadtverkehr. Vorbei die Party. Ich will in dieses alte Dorf zurück, in dem die fliegenden Kühe mich verfolgten. Angekommen, finde ich das alte Haus leer vor. Es ist fast ganz zugeschneit, im Kühlschrank viele unbekannte Süßigkeiten, die Namen der Eise und Schokoladen noch nirgendwo gesehen. Ich mache mir einen Tee und warte. Eine vergiftete Melancholie greift um sich. Ich will dringendst nicht gestört werden, aber spüre sozialen Atem im Nacken. Und bin im nächsten Augenblick woanders, an einem Bahnhof 300 Kilometer östlicher, steige in einen Zug. Der Vater rügt mich, ich hätte in das Haus des Großvaters nicht hineingehen sollen. Ich fahre absichtlich mit dem falschen Zug zurück. Das alte Haus ist nun abgerissen, ich versuche, irgendwo im Dorf unterzukommen, keiner kennt mich. Der Weg zwischen dem Einkaufszentrum und der alten Sporthalle ist neu asphaltiert, eine Einkaufsstraße wird errichtet, mitten in diesem westsibirischen Dorf. Um die Baustelle herum ist Mai, während im Dorf selbst später Januar wütet.


27. Und des Heiligen Geistes

Im Linienbus ganz hinten sitzt sie auf einem bis zur Luxuriösität bequemen Sitz. Im Laufe der Fahrt wird der Linienbus zum Reisebus, sie erkennt mich von Anfang an, langsam mache ich mich auf den Weg zu ihr durch die ganze Länge des Busses. Sie ist 18, ein zartes Schneeflöckchen auf dem kalten Hauch der Zeit. Ihr Lächeln, ganz leicht angedeutet, vielleicht nur mit den Augen, ist mein Navigationssystem. Der hintere Sitz des nunmehr Reisebusses wird zu einem Sessel im Fahrstuhl, als ich mich neben ihr hinsetze. Sie nimmt
meine Hand und ich spüre Stromschläge am ganzen Körper, ein verjüngendes Kaltbrennen, als verlöre ich mehr Masse als meine nukleare Zusammensetzung an Energie bereitstellen könnte. In ihrem Penthouse hoch über den Wolken liegen gestapelte Chloroplasten, der Balkon führt zu riesigen Stoffpilzen, die oberen Oberflächen sind perfekte Wolkenbetten. Ich springe und fliege umher bis ich in einer überdimensionalen Blüte Kleinique begegne. Ich fange ihr feinperliges Lachen, sie streicht durch mein Haar. Es passieren kitschige Dinge, aber es ist kein Literaturkritiker weit und breit zu sehen. Zartes Luxusglück bleibt von Neid und Häme unbefleckt. Aber zurück zur unmittelbaren Existenz.

Der Sund, der Graben schließt sich, und es ist kein Geringerer als Tano Cariddi, der meine dunklen Jahrunderte beendet. Ich staple Dokumente und Disketten, prüfe Bilanzen, als er klingelt und ins Haus hineinspaziert. Gott ist ein Zyniker, sein Zynismus muss zynisch verstanden werden; dem Spiegel, der das Nirwana darstellt, muss ein Spiegel direkt gegenübergestellt werden, damit das Andere des Nichts seine Bühne bekommt. "Unterschreib die Vertragsauflösung" sagt der Besucher und zieht eine lange Pistole. "Was machst du wenn ich unterschreibe" sage ich und halte mein Lächeln mit aller Kraft zurück. "Ich nehme das Dokument und fahre sofort zu den Zenobiten". "Schwörst du es?" frage ich und werfe einen letzten Blick auf die unzähligen Grafiken, Tabellen, Charts, Ranglisten. "Ich schwöre". Ich unterschreibe. Er nimmt das Papier und schießt: "Ein Gruss vom Vater... einer vom Sohn... und einer vom Heiligen Geist". Ich falle und sterbe.
Ich liebe diese Szene seit meiner Kindheit. Danke, dass ich so sterben durfte.

2008 - 2010

Montag, 20. November 2017

Redered





LILY


1. Das Mädchen: 13, dunkelblond, zierlich, langes Haar, ängstliche Schritte. Setz dich, Mädchen. Ich warne dich, diese Dummheit kannst du nur einmal begehen. Julika verwöhnt dich, nicht wahr? Warum willst du hier weg? Nur bei Julika sind die Bedingungen deiner Zartheit gerecht. Du versündigst dich an deiner Zartheit, wenn du zu deiner Grossmutter ziehst. Warum willst du dich selbst zerstören? Nur weil deine Mutter an deinem vierten Geburtstag Selbstmord beging und dein Vater dich immer loswerden wollte? Ist doch gutgegangen. Schau dich an. Schau Julika an - eine Prinzessin. So wie du.

2. Nein, sie ist nicht so wie du, mein Kind. Sie ist eine verwöhnte arrogante Göre, die mit 18 dieses verdammte Schloss geerbt hat, sei sie auf ewig verflucht! - Gottzumteufel, fluchen Sie doch nicht im Beisein ihrer Enkelin! - Lily, das ist Robert. Er passt hier auf die Tiere auf.

3. Lily und die Tiere. Dark wird sich freuen. Der Junge schreibt etwas in sein Tagebuch, er hat eine schöne Schrift. Ein hübscher zarter Junge, bewegt manchmal seine Hand zum Haar wie ein Mädchen. Lily hat sich verliebt. Sie weiss es noch nicht. Es wird zu spät sein.

4. Dark sitzt bei Julika auf der Veranda. Eine Kapuzze über dem Kopf, sein Gesicht ist verhüllt. Julika will, dass er die schwarze Maske runternimmt. Da ist aber nichts unter der Maske. Dark hat kein Gesicht. Er wartet auf Lily. Er hatte sie ja gewarnt.

5. Zwei Mädchen in Lilys Alter, ihre neuen Freundinnen. Sie sagen los, fass da rein, es fühlt sich zwar widerlich an, aber fass unter den Tisch, sei kein Feigling. Es beisst nicht, es ist kein Tier. Und jetzt rate, was das ist. Festflüssig, staubig-feucht, formlos, wahrscheinlich gelb oder grau. Der Junge hat alles gesehen.

6. Lily spielt Ball. Der Junge sitzt auf einem grossen flachen Stein und schreibt. Eine Katze setzt sich auf seinen Schoss. Er streichelt sie zärtlich. Zärtlich sein zu können ist Luxus. Geht nur, wenn man selber zart ist. Das weiss die Katze, und sie geniesst es.

7. Jeden Abend, merkt Lily, geht der Junge zum Friedhof. Er war der Liebling des Verstorbenen, der mit 15 an Liebeskummer verstarb. Lily kennt die Geschichte nicht. Dark schon.

8. Das ist das Tagebuch des Verstorbenen. Der Junge schreibt einfach weiter. Er kämpft mit den Tränen, doch er unterliegt jeden Abend. Er lässt sich nicht dazu herab stark zu sein, er bleibt schwach, ein Anblick voller Würde und edler Trauer. Der Junge ist 13 wie Lily. Vier Jahre sind seit dem Tod vergangen.

9. Julika trauert um verlorene Schmerzen. Sie verwöhnt Mädchen, um sie zu quälen, ein ewiger Kreislauf der reinen unbefleckten Liebe. Sie kann die Mädchen nicht der Sünde überlassen, sie überlässt sie dem Schmerz. Der Schmerz macht sie jedesmal schöner. Sie werden empfindlicher, je mehr sie leiden. Lustschmerz. Extremer Schmerz. Die dritte Art von Schmerzen, den dumpfen, den unästhetischen Schmerz würde Julika niemals zufügen.

10. Lily, sagt Dark zum Grabstein, wollte sich von Julika quälen lassen, doch Julika wartete viel zu lange. Sie ist fast an Julikas Liebe erstickt, sie wollte so sehr den Schmerz. Der Junge setzt sich dazu. Ich habe keine Angst vor dir, sagt seine ruhige sanfte Stimme. Ich weiss, sagt Dark und geht in die Nacht.

11. Robert ist geistig sehr arm. Er spielt Lily Streiche, Lily zwingt sich selbst zum Lachen, sie will den armen Kerl nicht beleidigen. Der Junge sieht alles. Julika setzt sich auf dem Friedhof zu dem Jungen. Kleiner, komm mit mir. Vergiss sie. Zu spät, sagt der Junge. Sie ist mein Mädchen geworden.

12. John will das Wort hundertmal sprechen. Für Julika. Sie ist unfassbar schön, 19, unberührt. Willst du es wirklich tun? Seine Freunde warnen ihn, er lässt davon ab. Aber er will es tun. Emily tat es, da war sie neun. Und wurde nie wieder gesehen. Ausser von Dark vielleicht. Ich bin doch kein Feigling, denkt sich John. Doch es funktioniert nicht.

13. Was liest du da? Fragt Lily den Jungen. Der Junge antwortet nicht. Lily geht. Es ist egal, ob du es 200 oder 1000 mal aussprichst, liest der Junge im Tagebuch. Hast du es hundertmal am Stück ausgesprochen, ist es so weit. Hundertmal ohne Unterbrechung. Zu viel gibt es nicht. Viele fragen sich, warum passiert nichts? Weil sich ständig ein anderes Wort reinschmuggelt, unbewusst vielleicht, denn bei 80 fangen sie an zu zittern, bei 90 sprechen sie das Wort so undeutlich aus, dass es einem Abbruch gleichkommt. Es kann nicht zurückgenommen werden, wenn es hundertmal ausgesprochen worden ist, das ist das Problem.

14. Er hätte Prinzessinen haben können, denkt Julika. Warum wollte er Lily? Dark weiss es und schweigt. So wie der Grabstein schweigt. Lily weint auf der Terrasse.Was ist los, fragt die Grossmutter. Lily sagt nichts. Sie ist nie geliebt worden. Es ist ein Luxus, lieben zu können.

15. Hast du es getan? Hast du es wegen mir getan? Der Junge weint, es regnet. Der Friedhof erfriert in der Kälte edler Tränen. John klingelt an Julikas Tür, sie lässt ihn endlich rein. Zum ersten Mal. Aber John freut sich nicht. Jemand hat es getan, weiss John. Wen hat Julika dazu angestiftet?

16. Lily tut sich immer mehr weh. Bald wird die Grossmutter merken, dass sie es mit Absicht tut. John ist betrunken, er läuft vor ein Auto, welches rechtzeitig bremst, und John ist bei Emilys Eltern. Er durchsucht Emilys Zimmer, anstatt zu schlafen. Er nimmt Emilys Foto mit. Ein kleines, sehr zierliches Mädchen mit langem dunklen Haar. So ängstlich, dass sie eins mit der Angst war, und keine Angst mehr hatte.

17. John hört immer zu früh auf. Er ist 19, er hat ein Leben zu verlieren. Bei 75 fangen seine Knie an zu zittern. Bei 85 fängt er plötzlich an zu schreien. Er weiss, dass es kein Spiel ist. Er hätte so gern Emily gerettet. Er redet sich ein, dass es nicht so schlimm gewesen sein muss. Emily lebte schon immer in einer Traumwelt. Wahrscheinlich hatte sie das Kommen der dunklen Eindringlinge gar nicht bemerkt. Sie waren für Emily schon immer da, sagt sich John. Die Wahrheit ist: Emilys Vater wollte ihn überfahren.

18. Nein, John soll leiden. Er soll sich solange die Schuld geben, bis er es tut. Er hat keinen schnellen Tod verdient. Weisst du, was das Schlimmste für mich wäre, sagt der Grabstein zum Jungen. Wenn der Engel den ich liebe sich selbst etwas antut oder antun lässt oder verletzt wird oder... Der Regen unterbricht den Redefluss aus dem Jenseits. John steht an der Tür, Emilys Vater lässt ihn rein, gibt ihm etwas starkes zu trinken. Er ist von Johns Schuld besessen. John ist das Lamm Gottes, dass hinwegnimmt die Sünde der Welt, John möge sich erbarmen und die Schuld an Emilys Verschwinden auf sich nehmen. Was wollte er damals von einem so jungen Mädchen? Nein, John wird sich nicht erbarmen. Er erzählt es, und Emilys Vater schiesst sich eine Kugel in den Kopf.

19. Darks Stimme ertönt in Emilys Zimmer. Es ist Zeit, ruft er nach John. Als Kind sah John dieselben graudunkelschwarzen Wesen. Er wollte ihnen Emily wegnehmen. Das haben sie ihm nicht verziehen. Auf dunklen Pfaden der grausamen Kausalität aus Freiheit lockten Sie Emily in ihre Falle. Sie war ein Kind und hielt es für ein Spiel. Es war kein Spiel.

20. Der Doktor ist sehr besorgt, Lily sieht nicht gut aus. Sie liegt im Bett und fragt nach dem Jungen. Der Doktor geht in den Wald, er findet den Jungen auf einem grossen flachen Stein sitzen, er will, dass der Junge mitkommt. Der Junge will nicht. Sie hat Dreck berührt. Sie hat sich etwas antun lassen, was ihr nicht gefiel. Aber sie liebt dich und wird ohne dich sterben, erwidert der Doktor. Was verstehen Sie schon von Liebe, sagt der Junge und verschwindet in die Nacht.

21. Etwas krabbelt unter Lilys Bett. Es riecht so grau bis dunkelschwarz, Lily hat daran nie geglaubt. Julika sagte, ich kann es nicht zulassen, dass ein Engel wie du in den Dreck zieht. Solange du ein Engel bleibst, bleibst du im Reinen. Ich will kein Engel sein, sagt Lily. Gut, sagt Julika. Sie schreibt ein Wort auf. Sag es hundertmal ohne Unterbrechung durch ein anderes Wort und du kannst gehen wohin du willst.

22. Sie öffneten das leere Grab. Der Junge weint. Sein Freund hat es getan, denkt der Junge. Wo ist er? Dark kann nicht weinen. Er hat kein Gesicht. Der Grabstein ist ein Spiegel deiner Seele. Lilys Eltern brennen in der Hölle, weil sie sie zeugten und nicht liebten. Lily hat hohes Fieber. Die Hölle ist nicht real. Die Hölle ist eine und dieselbe Person. Lily ist 22. Lily ist 13. Nach John Tagen bist du für immer verschwunden. Keiner wird Emily finden. Der Junge rennt. Der Regen schlägt Dellen in sein feines Gesicht. Er hat kein Gesicht. In dieser Welt braucht man kein Gesicht. Robert ist eine Kuhschlange. Er starrt den Jungen vom Dach an und kost die Türpfosten mit seinen dunkleschwarzen Tentakeln. Eine alte Frau verwest im Schaukelstuhl, sie ist seit drei Wochen tot. Lily ist bei einer Leiche eingezogen. Der Junge will rein, doch John hält den Jungen zurück. Du kannst nichts dafür, es war ihre Entscheidung. Zwang ist eine Ausrede der Feiglinge. Alles geschieht freiwillig, Kleiner. Schuld ist Opium des Gewissens. Wir sind nie am Schicksal der Anderen Schuld. Aber wir wollen es sein. Wir ertragen den Gedanken nicht, dass die die wir lieben sich freiwillig dreckig machen. Nein, nicht um uns zu verletzen. Sie empfinden gar nichts für uns, wir sind ihnen egal. Weder Liebe noch Hass, Kleiner. Keiner hat dich je geliebt. Liebenkönnen ist Luxus. Dein Freund war kein Luxuswesen. Er wollte dich lieben, aber er konnte nicht. Darum heisst er jetzt Dark und kämpft im Auftrag der Hölle für das Gute. 
 
Der Junge schweigt und versteht. Geh zu Julika, sie wartet auf dich, sagt John. Der Junge kann lieben, John kann nur verliebt sein. Er opfert seine Selbstsucht und lässt seine Geliebte im Herzen los. Er spricht das Wort aus und beginnt zu zählen.

Wenn sie schon da sind, dauert es keine 22 Tage. Es dauert maximal 22 Tage, in der Regel kommen sie viel früher. Sie sind aus einer anderen Welt, aber sie sind genauso neugierig wie wir. Sie können es kaum erwarten. John sagt das Wort zum hundertsten Mal und geht ins Haus. Die Blutspur führt ihn ins Badezimmer. Ein Wesen, ein Monster, sehr gross, grau bis hellschwarz wickelt John in sich ein. Jetzt ändert John seine Meinung, aber es ist zu spät. Er hätte Emily vergessen können. Der Preis wäre nicht hoch gewesen. Nur ein alkoholverseuchtes Unleben und ein elender Tod. Es ist zu spät.

Keine Angst, Lily, sagt Dark. Willkommen auf der anderen Seite. Dein langes Haar brauchst du nicht mehr. Und wozu die Haut. Sieh, wie dem grauen Ding da dein Gesicht schmeckt. Sie lassen dir Herz und Hirn, das wird ein schmerzreicher Prozess. Das dauert gefühlte vier Jahre, geht vorbei wie im Flug. Ich will aufwachen, denkt Lily, doch das ist kein Alptraum. Nein, denkt Lily, natürlich ist es ein Alptraum. Das alles gibt es nicht. Das alles ist nicht real. Warum nicht? Warum soll es weniger real sein, als der schleimige Geburtskanal, als die groben Hände der Erwachsenen, als die Unterwerfung unter Zartheit missbrauchenden Willen? Das ist nur die logische Fortsetzung deines Falls, Engel. Hättest du deinen natürlichen Tod abgewartet, wärest du trotzdem hier. 
 
Ein dunkelgraues Etwas bückt sich über einem Fotoalbum. Ein hellschwarzes Etwas trinkt die Milch auf. Ein dunkelschwarzes Etwas liest das Tagebuch zu Ende. Kindheit vergeht.




22


1. Lagerfeuer, tiefste Nacht. Albert und Thomas, die beiden Magier aus Johns Klasse. Sie sagen das Wort hundertmal am Stück und sind enttäuscht. Nichts ist passiert. Nichts. Sie gehen in ihr Zelt. John geht in den Wald. Am Ende der Nacht erlebte John mehr Schrecken, als die beiden, die den Schrecken heraufbeschworen. John fürchtet sich vor der Dunkelheit. Er betrinkt sich und geht in den Wald. Er schreit, kommt und holt mich, ihr Bastarde!

2. Der Junge schläft. Er ist neun, doch im Traum ist er 15. So alt wie sein kürzlich verstorbener Freund. Er liegt auf Kunstrasen in einer Halle. Es ist Winter. Er geht raus. Es ist Sommer. Die Sonne ist so kuschelig, es ist Abend. Er legt sich auf die Wiese. Das ist ein Basketballplatz mit weichem Kunstbelag. Ein grosser und breiter Mann, etwas dick, ruft nach dem Jungen. Es ist zehn Uhr morgens und alle sollen sich auf dem Platz in der Mitte vom Internatsgelände versammeln. Es fängt an zu regnen, ganz leise. Es ist Trauer, die da regnet. Es sind Tränen, die vom Himmel fallen. Alle versammeln sich. Hubschrauber kommen, schiessen mit grosskalibrigen automatischen Waffen in die Menge. Der Junge wacht schweissgebadet auf.

3. Es war Selbstmord. Sein Freund wird begraben. Der Junge weint nicht, es ist ihm egal. Es ist eine Erinnerung, die er nicht mehr los wird. Erst später erkennt er, was ihm dieser Freund wirklich bedeutet hat. Er findet in den Notizbüchern des Verstorbenen eine Addresse. Er verlässt sein Zuhause und zieht bei einem Fremden ein. Der Mann ist 79 und topfit. Er ist Marathonläufer. Er hat eine Enkelin.

4. Das unnahbarste und arroganteste Mädchen der Schule heisst Julika. Sie ist so schön, dass jeder Junge nachts von iht träumt. Sie ist 15, stolziert auf hohen Absätzen durch die Schule, ist stets glamourös angezogen. So edel. Eher eine Prinzessin als ein Luder. Sie ist mehr als bloss Jungfrau. Keiner hat sie je geküsst. Narziss war gestern.

5. Sie weint leiser als ein Herz stirbt. Sie zeigt es nicht, doch sie weiss, dass John weiss, wie sehr sie leidet. Sie geniesst es, sich nicht trösten zu lassen. Sie bricht Johns Herz nicht, sie reisst es in Stücke. Albert kann John mit albernen Spässen aufheitern, aber Nachts bleibt John allein. Eine Hölle sind diese Nächte. Albert plant etwas Grosses diese Nacht. Er will die Schule in Brand stecken. John würde die ganze Welt in Brand stecken, aber er hat zu viel Angst, dass er Julika nie wieder sieht. Er redet es Albert aus.

6. Thomas ist schwer erkrankt. Die Ärzte können nichts feststellen, sie sagen, mit dem Burschen sei alles in Ordnung. Albert und John besuchen ihn im Krankenhaus. Thomas redet wirres Zeug. Wisst ihr noch, dieser Typ, der sich umgebracht hat, er hatte doch dieses Ding dabei? Was für ein Ding? Na dieses Ding aus dem Wald. Eine Audiokassette oder eine CD oder ein Kalender, ich weiss nicht was es war. Da stand jedenfalls die Anleitung drin. Ich will es haben. Albert beginnt zu scherzen, Thomas beginnt ihn zu würgen. Hol mir dieses Ding, es war deine Schuld! Was, denkt John, was war Alberts Schuld?

7. Ich glaube er glaubt, in dem Buch oder Heft oder was er meint würde eine Formel stehen, die das Wort neutralisiert. Was für ein Wort? Das Wort. Albert, du glaubst doch nicht diesen Schwachsinn! Aber dieser verdammte Feigling glaubt plötzlich daran. Er hatte drei Nächte in Folge miese Träume. Er führt es auf dieses Wort zurück. Wie bescheuert.

8. Du suchst im Keller, ich gehe zu dem kleinen Jungen. Nein, ich gehe zu dem Jungen, sagt John. Er hat Angst vor dem Keller. Albert findet nichts, der Junge hat nur dieses Tagebuch. John nimmt es nach Hause und liest es durch. Das Wort wird mit keinem Wort erwähnt. Enttäuscht gibt er das Tagebuch dem Jungen zurück. Der Junge beginnt zu weinen. Er ist nicht tot, tröstet ihn John. Schreib in sein Tagebuch, und er wird bei dir sein. Warum war ich so gemein zu ihm, fragt der Junge. Manchmal können wir Liebe nicht ertragen, sagt John. Julika weiss, wovon er spricht.

9. Albert ist nicht in der Schule erschienen. John weiss, wo er den Klassenclown findet. Er geht in der Mitte der Englischstunde ins Reich der Pissoire und kehrt nicht zurück. Im Krankenhaus versucht Albert, den schreienden Thomas zu beruhigen. Wovor hat dieser Angeber plötzlich solche Angst? Wie ihr habt nichts gefunden? Ist euch überhaupt klar, worum es hier geht? Mein Nachbar ist letzte Nacht verschwunden. Er lag dort hinten auf dem Bett mit gebrochenen Beinen. Er wollte sich das Leben nehmen, weil er die Alpträume nicht mehr ertragen konnte. Ich versprach ihm hoch und heilig, dieses verdammte Ding zu finden. Ich habe gesehen, wie sie ihn geholt haben! Komm, Albert, rufen wir den Arzt und verschwinden wir, sagt John. Er ist nicht herzlos. Er will nur Albert retten. Er kennt sich mit dem Virus Angst bestens aus.

10. Der Arzt wiegelt ab, ach was, der Kerl ist doch nicht verschwunden, er wurde in eine Reha-Klinik verlegt. In welche, fragt John. Seid ihr mit ihm verwandt, fragt der Arzt. Er ist mein Cousin, lügt Albert. Der Arzt weiss, dass Albert lügt. Ich will ehrlich zu dir sein. Ich weiss nicht was dein Freund hat. Wir haben ihn mehrfach untersucht. Mit ihm ist alles in Ordnung. Er bildet sich nur etwas ein.

11. Ich hatte als Kind grosse Angst vor ihnen. Sie kommen aus der Dunkelheit. Du verriegelst dein Zimmer, gehst sicher, dass da keiner ist, und sie sind trotzdem da. Sie kommen aus dem Nichts. Nein, aus der Dunkelheit, korrigiert ihn das Mädchen. Die Dunkelheit ist nicht nichts.

12. Ich werde heute Nacht auf Emily aufpassen, sagt John. Emilys Vater freut sich. Er fährt seine vor drei Jahren bei einem Zugunglück verunglückte Frau betrügen. John, flüstert Emily, komm in mein Bett. Sie sind still, beide in dicken Nachtanzügen, es ist etwas kalt in Emilys Zimmer. John, siehst du, unter dem Schreibtisch. Ich sehe nichts. Sieh genau hin. Emily, das ist nicht real. Aber ich sehe sie! Siehst du sie denn nicht!?

13. John hat die ganze Nacht hindurch kein Auge zugemacht, er hatte Angst, sie würden Emily holen. Er sieht sie nicht mehr, er hat sie auch in dieser Nacht nicht gesehen. Aber wenn sie Emily holen, sind logische Annahmen nichts als faule Ausreden. Der Arzt untersucht Emily. Mit deiner Schwester ist alles in Ordnung, sagt der Arzt. Ist sie nicht. John wünscht, sie wäre es.

14. Emily, kennst du diesen Jungen? Nein, aber ich habe sein Tagebuch gefunden. Und was dann? Dann habe ich es ihm zurückgegeben. Emily lacht. Warum lachst du, fragt John. Das hier habe ich behalten. Ein gefaltetes Blatt Papier. John entfaltet es. Er lacht. Emilys Vater ist wieder da. John geht zum Krankenhaus, ein langer Spaziergang, er denkt die ganze Zeit an Julika. Er will sie endlich behühren. Ihre Hand halten, nur für eine Sekunde. Er träumt vor sich hin. Albert sieht nicht gut aus. Er muss ständig seinen Magen oral entleeren. Er ist blass wie eine Leiche. Thomas ist verschwunden!

15. Wir übernachten in der Bibliothek. Bist du dir sicher, John? John ist sich überhaupt nicht sicher. Als er sie zum ersten Mal sah, da war er in einer Bibliothek. Die anderen Kinder hörten wie die Erzieherin ein Märchen vorlas, John irrte zwischen den Bücherschränken umher. In einer dunklen Ecke sah er etwas krabbeln, so gross wie ein Hund vielleicht. Aber es sah nicht aus wie ein Tier. Es sah nach nichts aus, es war nur grau. Am selben Abend sah er noch so ein Ding, und von da an sah er sie jeden Tag. Auf einmal waren sie nicht mehr da. John war neun, als er endlich die Nächte durchschlafen konnte.
Albert, hast du von diesem Offizier gehört, der seine kleine Tochter verkaufen wollte? Ja, es stand in der Zeitung. Eine Sekte wollte ihm 300 Riesen für sie geben.
Albert, wie war nochmal ihr Name? Laura oder so. Nein, kürzer. Aber etwas mit L.

16. Das tut gut. Ich hätte es bei mir im Zimmer nicht ausgehalten. Sie kriechen dort förmlich aus den Wänden! Steh auf, Albert. Los. Sport fängt gleich an. Sag mal, dann haben wir die ersten 6 Stunden verschlafen? Wird wohl so sein.
John gewann das Wettrennen, weil Julika da war. Gewonnen! Nein, nicht das sinnlose Wettrennen, ein Lächeln von Julika. Das Mädchen mit den weissen seidenen Handschuhen. Ich wäre sofort runtergerannt, denkt John. Schiller verstand aber auch gar nichts von Romantik. Sie hat ihm doch eine perfekte Chance gegeben, seine Liebe zu beweisen! John wünscht, Julika hätte so etwas mit ihm getan.
Spät am Abend ruft Albert an. Sie haben Blut gefunden, jede Menge Blut, aber keine Leiche. Das ganze Badezimmer war voller Blut. Aber die Wohnung war doch verriegelt. Das Schloss wurde ausgewechselt. Wie konnte er sich dort die Plusadern aufschneiden, wenn er gar nicht dort war? Seine Mutter denkt, wir hätten etwas damit zu tun.

17. Der Zettel, beinahe vergessen. Wer hat dieses wirre Zeug da hingekritzelt? Ist Albert überhaupt noch da, oder haben sie ihn bereits geholt? John ist erleichtert. Er will glauben, dass Thomas sich irgendwo versteckt, aber er glaubt Albert. Wer auch immer diesen Zettel geschrieben hat, er wollte jemanden damit warnen. Dass es nämlich kein Spiel ist. Aber es steht ja drauf, wie man es rückgängig macht. Komm, ich hab einen Tipp bekommen.

18. Wer ist da? Der alte Mann zieht eine lange Flinte und gibt einen Warnschuss ab. Sind sie Mr.Nay? Ja, ich bin Mr.Nay. Was wollt ihr kleinen Diebe? Wir sind nicht hier, um Sie zu bestehlen, Sir. Aber vielleicht wissen Sie, wer das hier geschrieben hat. Albert überreicht ihm den Zettel. Woher habt ihr das!? Gefunden, Sir. Lügt mich nicht an, ihr kleinen Diebe! Kann man es rückgängig machen, Sir? Der Alte lacht. Rückgängig machen? Was glaubt ihr was das hier ist? Ein Spiel!? Wir glauben, ehrlich gesagt, dass das ein böser Scherz ist, lügt John. Ein Scherz? Der Alte lacht. Wie lange ist es her? Wie lange ist was... her.

19. Der Alte hat gesagt, nach 22 Tagen. Nein, der Alte hat gesagt, spätestens nach 22 Tagen. Welcher Tag ist heute? Heute ist Dienstag. Dienstag. Wenn wir den Freitag überleben, wissen wir, dass es ein Scherz war. Wenn ich den Freitag überlebe, John. Du hast nicht mitgemacht.
Du zitterst. Mir geht es gut. Albert, es geht dir nicht gut. Wie spät ist es? Es ist acht. 24, nochmal 24, nochmal... 76 Stunden. Dann ist es vorbei. Meinst du ich schaffe es, so lange wach zu bleiben?

20. Sie dachte, Julika wäre in ihn verliebt. Sie wusste, dass Julika ihr weit überlegen war. Eine Mundwinkelbewegung und er hätte ihr gehört. Sie verführte ihn. Sie war 14, wie Julika. Sie dachte, Julika wollte den Jungen. Nein. Julika wollte sie. Julika war in sie verliebt. Seit der fünften Klasse. Mit ihrer Unschuld starb auch Julikas Herz.
Ich glaube, Julika weint. John, du glaubst, Julika weint, ja? Und!? Wie und? Was wie und!? Wie stellst fu es dir denn vor? Einfach mal hingehen und fragen, Julika, warum weinst du? Keiner traut sich sie anzusprechen. Nicht einmal Bob. Bob, die anabole Kraftmaschine aus der 12. Noch geht es ihm gut. Noch will er Mister Universum werden. Bald wird er mit einem Hirnschaden Schafe hüten.

21. Ich wünschte, ich hätte sie gestern angesprochen. Du mieses eifersüchtiges Arschloch. John, du hättest kein Wort rausgekriegt. Das wäre ganz schön dämlich. Anstatt sie zu trösten, hättest du nur ihr Mitleid erregt. Das Peinlichste, was überhaupt passieren kann. Warum hat sie denn geweint? Vor ziemlich genau einem Jahr war so ein Schulfest. Da ist viel passiert. Vielleicht ist etwas davon, was damals passiert ist, mit Julika passiert. Denkst du, jemand hat sie.. waltigt? Nein. Unmöglich. Nicht Julika.
Es ist einfach so, dass man diesem Mädchen nichts antun kann. Man wird schwach in ihrem Beisein. Sanft und zahm. Das passiert jedem.
Ich hab dem Mädchen, das vor einer Stunde angerufen hat, gesagt, dass du schläfst. Welches Mädchen? Ein sehr junges Mädchen. Johns Grossmutter konnte es nicht ahnen. War nicht ihre Schuld, wird man sagen. Und über Emilys Verschwinden wird man in eine ganz andere Richtung ermitteln.

22. Neun Stunden! Albert sieht erschöpft aus. Er schläft immer wieder ein. Ich bleibe bei dir, sagt John. Nein. Tut er nicht. Emilys Vater hat angerufen. Emily ist verschwunden. Ob John sie gesehen hat? John rennt hin. Alles steht Kopf. Die Polizei macht sich wichtig. Da sie nichts tun kann, verhaftet sie John. Das Verhör ist gegen Mitternacht vorbei. John geht zu Fuss. Er will noch bei Albert vorbeischauen. Hunde nagen im Garten an einem Bein. John rennt ins offene Haus - Alberts Eltern sind bei den Nachbarn, sie grillen Fleisch und trinken Bier. Albert? Albert!? Albert!!?

...Und seidem habe ich Albert nie wieder gesehen. Und Thomas? Auch Thomas nicht. Und das kleine Mädchen? Sie hiess Emily. Eine leise Träne fällt ins Bierglas. John schüttelt mit dem Kopf. Kopf hoch, Junge, ermutigt ihn Ian. Kennst du diese Mieze da? Aber ja! Das ist Julika! Das Schulfest war ohne Zwischenfälle zu Ende gegangen. Die, die Julika das Herz brach, starb an einer Überdosis. Wovon auch immer. Emily wäre in einer Woche 12 geworden. Im Radio hörte John von der Verhaftung eines Offiziers. Er soll in Kinderhandel verwickelt worden sein. Er hinterlässt eine elfjährige Tochter.




IAN


1. Krankenhaus, Schule, Internat, Parkhaus, wissenschaftliches Labor, Kaufhaus, Wartezimmer, Sporthalle, wieder Krankenhaus, oder doch ein Labor? John schleppt sich nur quälend voran, dabei will er doch rennen. Er fragt alle nach Emily, keiner kennt sie. Endlich ist der endlose enge Gang vorbei und John riecht wieder frische Abendluft. Da stehen Mädchen und rauchen, John geht hin. Kennt ihr Emily, fragt John. Er schaut runter und sieht die Beine der Mädchen, verkohlte Knochen. Ein kleines Mädchen ist auch dabei, ihr fehlen zwar die Haare auf dem Kopf, ihr Gesicht ist eine hässliche Fratze, ansonsten ist es Emily.

2. John ist bei Ian eingezogen, er wohnt auf dem Dachboden. Er kann nicht zurück nach Hause, er würde seine Grossmutter töten. Hätte dieser Köter doch an dem Tag gesagt, was Emily wollte. Ja, er hätte es nicht verhindern können. Aber er hätte sie bis zuletzt in seinen Armen festgehalten. Gut, sie hätten ihn vielleicht mitgenommen. So ist es viel schlimmer. Das, was wirklich passiert, ist immer das Schlimmste. Du musst nur die Kunst beherrschen, es sofort als das Schlimmste zu erkennen. Nicht um es zu verhindern. Um es nicht erst im Nachhinein feststellen zu müssen.

3. John sieht seine Grossmutter in den Träumen oft als Köter. Ein alter Hund, der ständig an einem halbverwesten Bein nagt. Er geht zu ihr hin und sagt, tut mir leid, dass ich dich gern getötet hätte, aber ich hätte dich gern getötet. So gern.
Ian, mach nicht auf. Es ist spät. David, das ist Johns Grossmutter. John kommt runter. Seine Grossmutter bricht in Tränen aus. Ich wollte dir nur sagen, dass das Mädchen damals sagte, ich soll dir sagen, dass sie dich lieb hat.

4. Wie lange war ich weg? Es ist zwölf Uhr Mittags. Wie geht es.. Deiner Grossmutter geht es gut. Schön es zu hören, sagt John und schweigt. Er will seine Grossmutter nicht mehr töten. Nur sich selbst.

5. David zieht für die Dauer des Experiments bei mir ein, sagt Ian. Was für ein Experiment, fragt John. Ein Selbstversuch. Es geht um Parapsychologie...

6. Tut mir Leid, John. Aber du warst dabei, als sie verschwunden sind. Darum haben wir dir nichts davon erzählt. Wisst ihr denn überhaupt, was euch erwartet, weist John David zurecht. Wir wissen es ganz genau, triumphiert Ian. Und wir werden beweisen, dass die ganze Sache ein übler Scherz gewesen ist. Hast du gut geschlafen, David? Ja. Der Traum war sehr feucht. Ian lacht. Und was mich angeht, ich schlafe wie ein Toter. Bald bist du ein Toter, denkt John.

7. Sie haben sich seit der Grundschule mit Magie beschäftigt. Irgendwann sind sie einfach durchgedreht. Und sich selbst umgebracht, unterbricht John. Ich nehme an, die Frage war rhetorisch, so Ian. Merkst du nicht, wie du dir die Realität zurecht machst? Hast du schon etwas vom Konstruktivismus gehört? Wir tun es ununterbrochen, John. Wir glauben, was wir glauben wollen. Ich will diesen Mist hier nicht glauben, und, den wievielten haben wir... in 15 Tagen werden wir hier sitzen und darüber lachen.

8. Es ist Zeit für eine Beerdigung, sagt Ian. Richtig, kichert David. Kommst du mit, John? Von mir aus. Ian und David gehen jeden Monat an einem vorher gewürfelten Tag zur Beerdigung. Jeden Tag wird jemand beerdigt. Heute ein Mädchen, das die drei flüchtig aus der Schule kannten. Ein unscheinbares Mädchen. An einer Überdosis gestorben. Wovon auch immer. Guck, da mit dem verhüllten Gesicht, meinst du, das ist Julika? Nein... nein, das ist nicht Julika. Das ist sogar ein Typ. Hey, warte! John rennt dem im Nebel Verschwindenden hinterher. Und!? Sieht aus, als ob da keiner war. Willst du sagen, wir hätten uns alle drei denselben Typen am selben Ort zur selben Zeit eingebildet? Unmöglich. Dann war er halt da.

9. Ian schläft nicht. Es ist etwas Anderes. John setzt sich zu ihm an den Kamin. Ich glaube, er wollte uns warnen. Weisst du, was du da redest!? Warnen? Wir haben es bereits getan! Entschuldige. War nur ein Scherz, Mann! Glaubst du etwa, ich glaube jetzt an diesen Hokuspokus bloss weil ich einen mysteriösen Typen gesehen habe?

10. David, hast du gut geschlafen? Nein. Ich auch nicht. Lag wohl am Wetter oder so. John kann sich das Lachen nicht verkneifen. Ist das noch eure Überzeugung, oder war das eine Durchhalteparole? Ian lacht. Beides. Was mich angeht, ich habe an ein Mädchen gedacht. Julika? Du Hellseher! Du Zyniker.

11. Pass auf: Ich gehe zu Julika und sage... Nein, Ian. Du bleibst mit offenem Mund stehen, weiss John. Zwei Stunden später auf dem Schulhof. Und? Du bist wirklich ein Hellseher.

12. Zwölfter Tag. Die Stimmung ist gut. Das Experiment geht in die Endphase, diktiert Ian. Endphase? Schon jetzt? Dann diktier du. Meinst du wir werden verschwinden wie all die Anderen? David, sei kein Idiot. Niemand wird verschwinden. Ich will nur ein Andenken haben. Für später, zum Lachen. 
 
13. Prinzessin, es gehört dir! Ein hochmodernes Schloss. Nur für Julika. Der Alte vermacht ihr alles was er hat. Sie wird nächstes Jahr 18. Er wird nächstes Jahr sterben. Er hat Krebs. Julika hat das Schloss. Sie wird lange damit nichts anfangen können, bis ein sehr junges Mädchen sich in sie verliebt.

14. Ian sitzt am Kamin. Er ist nachdenklich geworden. Ich glaube, David hat was. Was hat er, fragt John. Ich glaube, er hat nichts. Aber er bildet sich etwas ein. Weisst du, wovor ich Angst habe? Dass wir durchdrehen. Dass wir in einer Woche daran glauben und durchdrehen. Dabei weiss ich ganz genau, dass da nichts ist. Alles nur Einbildung. Die Muster auf dem Teppich fangen an mich zu gruseln. Das Bild dort an der Wand, siehst du? Es ist eine Landschaft, aber ich glaube, es starrt mich die ganze Zeit an.

15. Durch wilde Schreie wird Ian aus dem Schlaf gerissen. David!? David kämpft mit etwas Unsichtbarem auf dem Bett, er versucht, es wegzustossen. Ian schüttelt ihn. David! Wach auf!! Doch David sagt dieses Wort, nur es klingt jetzt anders. Es sprcht es andersrum aus. Seine Augen starren in eine fremde Welt hinein. Er sieht wahrschenlich grauenvolle Dinge.
John, wo warst du in der Nacht? Bin spazierengegangen. Das Schloss dort oben. Einmal darfst du raten, wem es jetzt gehört. Julika? Du Hellseher. Ian müsste jetzt lachen, doch ihm ist das Lachen vergangen. Erzähl mir von Emily, flüstert er.

16. Was machst du, David? Dieses Bild bleibt da hängen. Immer wenn ich vor dem Computer sitze, habe ich das Gefühl, dass hinter meinem Rücken jemand ist, der mich die ganze Zeit anstarrt. Aber keine menschliche Person. Ich weiss, ich bilde es mir nur ein, aber, David, diktier du weiter.
John wandert auf dem Friedhof hin und her, er sucht den Grabstein. Als er ihn findet, sitzt dort der Junge, er ist etwas grösser geworden, aber immer noch so zierlich. Ein zerbrechlicher Junge. Und eine dunkle Gestalt, die neben ihm sitzt, John sieht und schnell verschwindet.

17. Ich habe keine Angst, dass sie mich holen. Ich habe nur Angst, durchzudrehen. Sie existieren nicht. Und wenn doch? David! Zum Teufel, hast du mich erschreckt. Wir sind nicht in der Phase des Experiments, in der solche Scherze angebracht wären. Hör auf, dich gepflegt auszudrücken, Ian. Es ist sowieso vorbei. David zieht sein Hemd aus. Sein Rücken ist mit grauem Ausschlag bedeckt. In der Nacht, da spüre ich, wie die verdammten Monster sich in meinen Körper hinein fressen.

18. Wir können das Experiment nicht abbrechen! Das war euch von Anfang an klar. Die Eulen fliegen schon wieder nach Athen, nicht wahr, John? Hilf mir, David zu beruhigen, anstatt Moral zu predigen! John hilft Ian, David festzuhalten. Hier, trink. Was ist los? David, was ist los? Sie fressen meine Organe, das ist los.

19. Ruf den Krankenwagen.

20. Wo warst du, John? Ich hab mir das Schloss von Aussen angesehen. Ich wünschte, ich könnte drin wohnen. Mit Julika. Ian lächelt. Hat er lange nicht mehr getan. Der Arzt hat angerufen. David geht es gut. Es war alles nur Einbildng. Aber ich frage mich, wie es hat nur Einbildung sein können, wenn wir beide es gesehen haben? Du hast beim Experiment nicht mitgemacht, aber du hast es auch gesehen!

21. Ein Foto segelt vom verstaubten Regal durch die Lüfte. John fängt es auf. Ian, wer ist dieses Mädchen? Dieses Mädchen... warum fragst du? Weil es dasselbe Mädchen ist, das vor zwei Wochen beigesetzt wurde. Bei-gesetzt. Was ist das denn für ein Wort, ziert sich Ian. Was hast du mit diesem Mädchen zu tun? Nichts, ich schwöre dir! Ich hab mit ihr nur geschlafen.
Wieso fahren wir zu David? Der Arzt sagt, er ist verschwunden. Er hatte mich noch gefragt, ob er vielleicht hier angekommen ist. Was zitterst du so, Ian? Er ist wahrscheinlich durchgedreht und hat sich unter irgendeinem Bett versteckt.
Er ist nicht da. Was machen wir? Beruhige dich, Ian. Wir gehen zurück und sehen nach. Das Mädchen, über das wir vorhin gesprochen haben, wie lange hast du sie gekannt? Hast du mit Julika darüber gesprochen!? War das Julikas Mädchen!!? Lass uns später darüber reden. Übermorgen, ja?

22. Jetzt sitzt du da, Ian, und es wird genau das passieren, wovor du Angst hattest. John? Verdammt, du hast mich angekettet! Schöne Landschaft, findest du nicht? Komm, nimm dieses Bild von der Wand. Ich tu was du willst, aber nimm es von der Wand! So, du tust was ich will!? Ja, verdammt! Ich will... Sag schon, was willst du! Was!!? Ich will... Ich will, dass du dieses Mädchen nicht fickst!!! Komm schon. Du weisst genau, dass das unmöglich ist. Passiert ist passiert. Ihr habe ihr den Kopf verdreht. Gut, ich hab etwas mit Drogen nachgeholfen. Ich hab ihr Halluzinogene in den Drink gemischt und sie dann vor Aliens gerettet. Wohin gehst du? John? John!? Du lässt mich hier doch nicht allein!? John!!?

Ihre Leichen wurden nie gefunden. Lily zog bei Julika ein.




DARK


1. Ein Skelett, aufgehägt an einem überlaufenden Fass mit zerebralen Exkrementen. Hier tauchen die graudunkelschwarzen Wesen in eure Gedanken ein. Der Junge ist bei Julika, nehme ich an? Gut. Du kannst ja nicht mehr sprechen, hab ich vergessen. Viel Spass bei deinen Qualen, John. Julika scheint es tatsächlich wert zu sein. Warte, sagt John mit Lilys Stimme. Du lernst schneller, als die Anderen, stellt Dark fest. Das Gesicht ist schon weg, jetzt beginnen sie an ihrem Hals zu nagen. Du hast nicht viel Zeit. Warum du nicht, fragt John. Warum ich nicht einer von ihnen bin, so wie du bald einer sein wirst? Ja. Als sie mich holen wollten, hatte ich keine Angst. Ich zerriss Tausende von ihnen mit blossen Händen. Mein Zorn war grenzenlos. Ich liebte, war aber kein zur Liebe bestimmtes Wesen. Nein, ich hatte keine Angst. Nur Zorn. Als sie mich endlich hatten, war keiner da, der mich fressen konnte. Ich habe die ganze Kolonie vernichtet. Die anderen kamen, es waren Zehntausende. Sie schmiegten sich an meine Füsse, sie murrten, und sie taten mir nichts. Ihre Welt ist klein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie klein sie ist. Stell dir vor, du müsstest auf Ians Dachboden mit 1000 Menschen wohnen. Nackt und dicht aneinander gepresst. Ihr müsst eure Atemzeit koordinieren um nicht zu ersticken. Atmen 500 ein, atmen 500 aus. Hustet einer, gibt es Chaos, viele kriegen keine Luft. Als Mensch würde man ersticken. Das Problem dieser Wesen ist, dass sie nicht ersticken können. Sie sind extrem leidensfähig, halten alles aus. Ausser sie kommen in unsere Welt und ein liebeszorniger Bastard reisst sie in der Luft auseinander. Tun nicht viele. Ich war der erste. Lilys Stimme ist schwach, ihr Mund artikuliert nicht mehr, die Luftzufuhr ist fast unterbrochen. Warum hast du dann kein Gesicht? Das sind John letzte Worte. Kein frischer menschlicher Körper wird mehr eingeliefert, Johns Gedanken verstummen. Dark macht sich auf den Weg.

2. Das Gesicht habe ich mir selbst abgeschnitten, sagt Dark. Ich habe mir die Haut abgezogen und sie seinem kalten Herz geopfert. Dann sprach ich das Wort hundertmal aus und richtete ein fuchtbares Massaker unter diesen Mäuschen an. Ja, ich nenne sie Mäuschen. Sie sind physisch betrachtet furchtbar schwach und biegsam. Aber niemand ist so nihilistisch, sie physisch zu betrachten. Julika unterbricht ihn. Wie geht es John? Er ist noch nicht so weit. Aber er hat es für dich getan. Julika lacht. Und er hat es sogleich bereut, als es so weit war. Dark nickt. Aber er zieht es durch. Dein Mitleid ist rührend. Dark steht auf, Julika hält ihn am Ärmel fest. Was hast du in diesem Jungen gesehen? Das, was du in dein Mädchen hineinprojiziert hast, sagt Dark. Ist er das? Ja. Der Junge ist absolut rein. Ich glaube nicht daran, sagt Julika. Warum hat er dir all das angetan? Es war nicht er. Es war die Dummheit eines selbstsüchtigen pubertierenden Bengels. Ich war nicht gut genug für ihn, aber ich hielt mich für gut genug. Ich bewundere dich, sagt Julika. Vergib ihr, und es wird dir vergeben. Ich werde es versuchen. Und was ist mit Ian? Julika wird noch blasser als sie ohnehin schon ist. Ian hat es nie bereut. Es hat ihm nie Leid getan. LEID, verstehst du? Ich kann keinem vergeben, der sich seiner Schuld nicht bewusst ist. Sie war es, und sie starb an ihrer Schuld. Ich konnte ihr nicht vergeben. Julika weint. Dark verschwindet. Der Junge nimmt Julika an der Hand und führt sie zurück ins Schloss.

3. Also, in der Hölle ist sie nicht, sagt Mr.Nay, ein Seher. Das ist gut. Ich werde es Julika sagen. Wie heisst du, Kleiner? Mein Name gehört Dark. Der Junge kommt zurück, sie kuscheln die ganze Nacht. Julikas Herz ist jetzt frei, und ein neues Mädchen zieht morgen bei ihr ein. Celine.

4. Eine Uhr höre ich ticken. Jemand tat es wieder. Dark erwidert dem vorwurfsvollen Blick des Sehers. Ich habe nichts damit zu zun, sagt er. Warum tust du es? Warum hast du es all die Zeit getan? Wieso stiftest du Kinder zu diesem Spiel an? Mr.Nay, Sie müssen sich in die Lage dieser Wesen hineinversetzen. Sie leben in einer Welt, die so klein ist, dass wir Menschen uns das nicht vorstellen können. Sie haben ein grosses Haus im weiten Feld, Sie sehen jeden Tag den Horizont. Diese Wesen haben nie einen Horizont gesehen. Sie sind aneinander oder an die Wände ihrer Welt gedrängt. Gestern, da haben Sie im Krankenhaus im Aufzug keine Luft gekriegt, Mr.Nay. Zehn Leute waren im Aufzug! Das mache ich nie wieder mit, das sage ich dir! Nie wieder Aufzug fahren! Zehn. Nicht hundert. Verstehen Sie jetzt, was ich meine?

5. Du bist so schön, Julika. Aber du empfindest nichts für mich. Dark lächelt. Sein Gesicht ist verhüllt, aber Julika fühlt sein Lächeln. Was ist mit all den Menschen, die nicht schön sind? Warum ist die Welt so ungerecht? Julika, diese Menschen haben Glück. Sie sehen den Horizont.

6. Und wir, wir müssen nach Innen flüchten. In gefangene Herzen. Wir ziehen uns um ein Herz zusammen und nagen daran, bis es aufhört zu schlagen. Das Gehrin hält die Existenz der Person aufrecht, so dass die Seele im Herzen bleibt, versteht jetzt John. Er hasst sich dafür, dass er an Lilys Herz nagt. Er weiss, warum er dieses Privileg bekam. Bald beginnt seine Mission.

7. Zwei gefühlte Jahre dauerte es, bis Johns Herz aufgebraucht war und er einer von ihnen wurde. Als Erstes ass er zur Feier des Tages seine eigenen Überreste, Herz und Hirn. Nichts ist mehr menschlich an John. Er ist ein dunkelschwarz glänzendes Wesen, all die anderen Wesen sind matt. Glänzend bedeutet, er kann Tentakeln bilden und wieder zurückbilden. Und er kann bis ins Unermessliche wachsen.

8. Finde Ian, sagt ihm immer wieder eine Stimme. Finde Ian. Aber wie kann John in eine andere Kolonie gelangen? Jemand muss hundertmal am Stück dieses Wort aussprechen, dann kann John seine Kolonie verlassen.

9. Etwas läuft falsch, ahnt Julika. Dark versteht, was sie ahnt. Sieben Jahre sind in Johns Welt vergangen. Einige Wochen seit Johns und Lilys verschwinden. Das Andenken an Lily wird beigesetzt, nur noch Julika wird wissen, dass Lily jemals existiert hat. John wird verzweifelt gesucht. Aber so, wie er jetzt ist, wird ihn keiner wiedersehen wollen.

10. Wie sie haben Ian nicht geholt? Das ist völlig unmöglich, sagt der Seher. Ich habe viel über diese Wesen gelernt, widerspricht ihm Dark. Ein leeres Herz rühren sie nicht an. Ein menschlicher Körper nimmt zu viel Platz ein. Sie würden keinen Körper für ein Herz mitnehmen, an dem sie höchstens eine Woche lang nagen können. Und.. wo ist Ian dann? Das muss wohl ich herausfinden, sagt Dark und denkt an John. Eine unvollkommene Liebe opfert sich umsonst. John hat Julika nicht anders geliebt als seine Freunde: nur weil sie so schön war. Er hat Julika nie gesehen. Nur ihren Körper.

11. Wir lassen das, sagt Kristian. Edwin protestiert. Wir müssen es unbedingt erforschen! Das ist ein Tor zu einer anderen Welt! Eigentlich, senkt Gunnar den Kopf, haben wir es bereits getan. Kristian lacht. Das meint ihr doch nicht ernst!? Doch, enttäuscht Edwin seinen besten Freund. Wir sind keine hosenscheissenden Schüler mehr, argumentiert Edwin. Wir studieren Medizin. Wir sind rational denkende Menschen. Keiner von uns glaubt an den Quatsch, keiner von uns hat Angst. Wann? Edwin lächelt nur. Wann!? Hör zu, Kristian, wenn du gehen willst, dann geh jetzt. Wann!!? Heute ist der letzte Tag.

Vier Stunden später kehrt Kristian zurück. Tut mir Leid, Jungs. Kristian lässt seine Freunde einsperren. Dann kommt der Doktor. Tut mir Leid, aber ich kann nur einen hier behalten. Die Beiden sind völlig gesund, was soll das überhaupt? Lassen Sie Edwin hier. Und sorgen Sie dafür, dass jemand immer bei ihm im Zimmer ist. Mindestens drei. Der Doktor hustet. Bis 1 Uhr Nachts, dann können Sie ihn gehen lassen. Meinetwegen, sagt der Doktor.
Bist du verrückt geworden!? Gunnar, du hast zwei Stunden. Gunnar lacht. Maximal zwei Stunden. Gunnar versucht da nicht hinzusehen. Wir müssen an einen Ort gehen, an dem viele Menschen sind, weiss Kristian. Wenn es sie gibt - und wir wissen, was mit all den Anderen geschehen ist - dann können sie mich leicht austricksen. Hundert Menschen sind nicht so leicht manipulierbat wie einer. Als ob Kristian es nicht besser wüsste.

Wir sind jetzt in einer Diskothek, schreit Gunnar ins Telefon. Sag Kristian, sie sollen mich endlich hier raus lassen, tobt Edwin. Wir sind nicht zum Spass hier, nimmt Kristian den Hörer. Dass ich nicht lache! Hörst du mich etwa Lachen? Ich habe den Spassvogel an mich angekettet. Und weisst du, was wir die ganze Zeit machen? Wir sitzen an der Bar und warten bis dieser verdammte Tag zu Ende geht. Gunnar, du trinkst jetzt kein Bier. Kristian kippt das Glas um. Entschuldigung, sagt er zum Barkeeper. Sind Sie ein Cop? Tun Sie so, als wäre nichts gewesen. Der Barkeeper lehnt sich über die Theke. Kristian legt die Hand über die nicht vorhandene Waffe. Er sieht auf die Armbanduhr des Barkeepers - es ist zwölf. Geht diese Uhr richtig? Ich muss pissen, unterbricht ihn Gunnar. Nein, wir gehen da nicht hin. 
 
Es klingelt. Für Sie, sagt der Barkeeper. Sie hatten Recht! Wer sind Sie? Der Doktor steht unter Schock. Drei Wachmänner waren mit ihm im Zimmer. Die Polizei ist schon hier, sie werden befragt. Ist es ein Geheimnis, dass Sie kennen und ich nicht? Wie konnte Ihr Freund sich im Nichts auflösen? Hallo? 
 
Sie tanzen. Sie sind in Trance. Kristian schreit sie an, sie reagieren nicht. Handschellen, Fussschellen, nichts hilft. Gunnar ist weg. Kristian schreit den Barkeeper an. Ich bin nicht taub! Haben Sie meinen Freund gesehen? Welchen Freund? Ich war mit meinem Freund die ganze Zeit hier an der Bar. Er wollte ein Bier trinken, ich habe das Glas umgekippt. Wollen Sie mich verarschen? Sie sassen die ganze Zeit allein an der Bar. Sind Sie ein Cop?




KRISTIAN


12. Leid lässt sie entstehen. Leid, nicht Schmerz. Julika hat damit nichts zu tun. Celine mag den Jungen nicht, der Junge merkt es nicht. Woran denn, wenn Celine mit ihm spielt, ihn berührt. Ihre Hände sind immer so kühl, wenn sie unabsichtlich den Jungen täuscht. Berührungen. Ihr Fehlen verursacht pro Sekunde mehr Leid als als alle anderen Übel auf der Welt, die nebenbei noch geschehen.

13. Die Fassade beginnt zu bröckeln. Dark will sein Gesicht zurück. Gunnar sitzt in der Diskothek und wartet. Kristian ist pissen gegangen, er uriniert schon seit einer Stunde. Stromausfall. Alle kreischen, knutschen, Gunnar wird abgeschleppt. Er kommt gegen hunderte von ihnen nicht an, die Angst lähmt ihn. Eingewickelt in dunkelgrau, während Kristian denkt, er würde an der Bar neben ihm sitzen.
Warum geht ihr? Warum verlasst ihr mich? Edwin versteht nicht, was vor sich geht. Sie sollten doch auf ihn aufpassen. Doch sie gehen. Nicht ein Einziger bleibt zurück. Nach zehn Minuten ist es getan, sie kehren zurück. Edwin ist nicht mehr da, sie rufen Kristian an. Sie beteuern, die ganze Zeit bei Edwin gewesen zu sein, als sie verhört werden.
Subjektive Weltwahrnehmungen unterscheiden sich voneinander drastisch. Der Junge gab seinem Freund hunderte Zeichen, dass er kein Interesse an dessen reiner, unschuliger, selbstaufopfernder Zuneigung hatte. Von ebendieser geblendet, konnte dieser die Zeichen nicht lesen.
Julika steht auf einem Balkon und lässt den Handschuh fallen. John rennt runter zu den hungrigen wilden Tieren, verwandelt sich in ein dunkelschwarz glänzendes Monster und reisst die Tiere. Julika wendet sich von ihm ab. Ihr tun die Tiere leid.

14. So, jetzt nur noch den Rachen, sagt ein in Schwarz gekleideter Halbschatten mit verhülltem Gesicht. Still halten. Gut so. Deine ganze Haut ist jetzt verbrannt. Deine Sinnesorgane und Genitalien werden nichts mehr empfinden. Ian, du bist frei.
Ian geht durch einen engen Gang. Die graudunkelschwarzen Wesen folgen ihm, springen ihn an, jede Berührung tut weh. Er hat sich mit Benzin übergossen und angezündet, meint der Gerichtsmediziner. Ians Leiche liegt auf dem Tisch.

15. John wacht auf, er hat keine Tentakeln. Er ist einfach nur John. Er liegt auf einer Parkbank, neben ihm sitzt ein Alkoholiker und wirft leere Bierflaschen nach einem spielenden Mädchen. John rennt zu ihr, will sie in die Arme schliessen, Emily ist weg.
Das passiert nicht noch einmal. Das passiert eine Million mal. John ist in einer Zeitschleife gefangen, aus der ihn Kristian schliesslich befreit. Wiederbelebt, fragt John, was passiert ist. Du warst im Koma, sagt Kristian. Erzähl mir von deinen verschwundenen Freunden. John will wissen, wo er ist. Das entscheidest du. Wenn du kooperierst, ist es eine Reha-Klinik, wenn nicht, ein Folterkeller. Du musst sehr einfallsreich bei der Folter sein, lacht John. Kristian zeigt ihm ein Foto von Ian. Kennst du ihn? Du bist auf der Wiese vor seinem Haus ins Koma gefallen. Und was ist mit ihm passiert? Er hat sich selbst angezündet und ist verbrannt.

16. John sieht Ians verbrannte Leiche da liegen. Er will kooperieren. Ich bin dem Ursprung der Sache nachgegangen. Es scheint, als hätte es vor 180000 Jahren eine weit fortgeschrittene Zivilisation auf der Erde gegeben. So weit fortgeschritten, dass sie den universellen Informationsverschlüsselungscode knackte. Und hier beginnt die folgenreiche Überschneidung von Allmacht und magischem Denken. Ein Kleinkind glaubt, den Weltlauf durch seine Wünsche beeinflussen zu können. Diese Halbgötter konnten es tatsächlich. Besser gesagt, die fingen gerade damit an, und dann war es schon wieder vorbei. Aus verschmähter Liebe missbrauchte einer von ihnen den Code und öffnete das Tor zum Urgrund. Was ist der Urgrund, fragt John? Das reine Böse, nehme ich an. Das Nichts, aus dem die Welt einst entstanden ist.

17. Ian ist nicht tot. Er wird unter die Erde gebracht. Keine Lebenszeichen. Aber er lebt. Er geht enge Gänge, die graudunkelschwarzen Wesen springen ihn an, jede Bewegung tut weh. Wir müssen ihn töten, sagt Kristian, wenn es wahr ist, was du sagst. John ahnt, was Ian gerade erlebt. Er will ihn aber nicht töten, bevor Julika ihm vergeben hat. Kann man mit ihm Kontakt aufnehmen, fragt John. Theoretisch wäre es möglich, wenn Träume mehr als blosse Spinnereien des nachts unterforderten Hirns sind, sondern die Verbindung zu anderen, ich sag jetzt mal Dimensionen, um es nicht durch Fachbegriffe zu verkomplizieren. Ich gehe dann schlafen, sagt John. Wenn ich ins Koma falle, belebst du mich wieder.
Ein dunkelschwarz glänzendes Monster versperrt Ian den Gang. Es umfängt seinen verbrannten Körper mit Tentakeln. Furchtbare Schreie, doch Ians Körper liegt bewegungslos im Grab. Das Monster häutet Ian, die Nervenenden liegen jetzt blank. Ian versteht, dass das Monster John ist. Er befreit sich, rennt eine Tür ein - seine Haustür, übergiesst sich in seinem Haus mit Benzin und zündet sich an. John wacht auf.

18. Julika hat Ian vergeben. Wird Emily ihr vergeben? Sie hatte zwischendurch gehustet und war vor Angst ohnmächtig geworden. Sie haben sie nicht geholt. Julika betritt den luxuriös ausgestatteten und hermetisch von der Aussenwelt abgeriegelten oberen Bereich ihres Schlosses. Emily ist nach vier Jahren genauso klein wie sie damals war. Julikas Berührungen entschädigen das Mädchen für die Einsamkeit. Sie lässt Emily die ganze Nacht nicht los. So lange ist sie in den vier Jahren noch nie bei Emily gewesen.
Julika wacht auf und verschwindet, lässt Emily schlafen. Ihr Mädchen altert nicht. Das ist Julikas Geheimnis. Emilys Bereich des Schlosses befindet sich in einer Überschneidung zweier Welten, in der die Zeit nicht vergeht. Doch was passiert, wenn Emily nach Draussen gelangt? Celine soll ihr die Antwort geben. Julika bringt sie zu Emily. Wo ist Celine, fragt der Junge. Sie hat hundertmal das Wort gesagt und ist verschwunden, scherzt Julika. Der Junge weint. Was hast du mit Lily gemacht, fragt ihn Julika. Nichts, lügt der Junge. Er traf sich zwei Wochen lang heimlich mit Lily in einem Baumhaus auf dem Schlossgelände, das Julika nicht kannte. Lily verliebte sich in ihn. Der Junge liess sie leiden. Sag hundertmal das Wort, dann bist du meine Freundin, sagte er zu Lily.

19. Dark ist enttäuscht. Er bekommt ein Gesicht. Er weckt Lily aus dem Koma. Sie gehen zum Schloss. Frische Fische. Hundertmal am Stück, ist jedes Wort ein Zungenbrecher. Dark entführte Lily und versetzte sie in ein künstliches Koma. Er wollte sie dafür leiden lassen, was sie dem Jungen angetan hatte, aber er bekam Zweifel an der Unschuld des Jungen. Die Unschuld ist ein schöner Schein, an den wir uns mit aller Realität klammern, sagt Julika. Ich werde Celine nicht opfern. Ich habe eine andere Idee. Julika zieht zu ihren Mädchen ein, Dark übernimmt das Schloss. Geh, sagt er zu dem Jungen. Der Junge geht. Er hat kein Zuhause. Er geht dorthin, wo er Dark einst kennenlernte, als Dark noch selbst ein Junge war. Die Gebäude stehen leer. Kein Hubschrauber kommt. Keine Schüsse fallen. Der Junge klettert durch ein Fenster in das Gebäude hinein, in jenes mit der Sporthalle, dem Pool, den langen Korridoren. Es ist Fürchtenszeit. Der Junge übernachtet in der Sporthalle, er zittert sich in den Morgen.

20. Fünf bleiben vermisst, bleibt Kristian nüchtern. Wir müssen etwas unternehmen. John nickt. Aber ich mache das nicht, versichert er sogleich. Geh und töte Ian. Ich überleg mir was.

21. Ian ist längst tot, als John seiner Leiche einen Sicherheitscutthroat verpasst. Er buddelt die Leiche wieder ein, es beginnt zu regnen. Für einen kurzen Augenblick meint John, Emily zu sehen, und rennt auf die Wiese. Er fällt in ein Erdloch. Stunden vergehen. John schreit vor Angst, versucht aufzuwachen, doch er liegt nicht im Koma. Das Erdloch füllt sich mit Wasser. John ertrinkt.

22. Einer hat sich angezündet. Einer ist ertrunken. Fünf sind vermisst gemeldet. Und die Mädchen, fragt Kristian. Wir nehmen an, das Verschwinden der Mädchen steht in einem anderen Zusammenhang. Ist das alles, was die Polizei... Hören Sie, es gibt nichts Übernatürliches. Vielleicht ist ein Serienmörder unterwegs, der dieses Spiel als Köder benutzt. Vielleicht eine Sekte. Rituelle Morde. Rituelle Selbstmorde. Die, die gefunden wurden, sind auf keine übernatürliche Art gestorben.
Kristian geht. Ein Mann, der die ganze Zeit still im Raum sass und Tee trank, holt Kristian ein. Ich bin nicht von der Polizei, ich glaube an mehr, als die Dinge, die man sieht. Schön für Sie, sagt Kristian. Ich habe etwas für Sie! Eine CD? Eine Aufzeichnung von Ihnen. Wer hat es Ihnen zugespielt? Niemand. Ich habe Sie nur abgehört. Das ist mein Job. Kristian geht, der Mann ruft ihm hinterher. Ich würde mir gut überlegen, ob ich mir das an ihrer Stelle vor Mitternacht anhöre!

Drei Stunden bis zur Mitternacht. Kristian installiert eine Kamera an der Wand. Er ahnt, was er zu hören bekommt. Er wurde vor 22 Tagen hypnotisiert, das Wort hundertmal gesagt und alles wieder vergessen. Oder ist das ein übler Scherz? Hört er sich die CD an, weiss er, was er zu erwarten hat. Allerdings könnte er dann vor Angst durchdrehen und so enden wie Ian. Hört er sich die CD nicht an, weiss er nicht, ob er damals das Wort hundertmal sprach, und muss womöglich mit einer Überraschung rechnen. Er hat Angst. Kommen sie? Wird er erkennen, wann es soweit ist, oder ins Koma fallen, und glauben, sie hätten ihn geholt? Er startet den Computer, legt die CD ein. Es ist seine Stimme. Er sagt das Wort. Hundertmal am Stück. Und jetzt wirst du meinen Namen vergessen, sagt der Hypnotiseur. Du wirst aufwachen und nicht mehr wissen, wer ich bin. Ich zähle jetzt bis fünf. 
 
Kristian steigt in seinen Wagen und fährt los. Er fährt durch die Stadt, es ist kurz vor Mitternacht. Er beschleunigt. Noch eine Minute. Er rast durch die Allee, vor ihm eine rote Ampel. Kristian gibt Gas. Noch zwanzig Sekunden. Es wird schon grün. Noch fünfzehn Sekunden. Ja, es wird grün. Noch zehn Sekunden. Obwohl es grün war, kracht sein von einem Lastwagen erfasster BMW gegen eine Wand. Kristian stirbt sofort. Zwei Sekunden vor Mitternacht.




JULIKA


1. Wie eine Katze krallt sie sich in das Kissen hinein. Es ist ein Alptraum aus dem sie aufwacht, um aus dem Aufwachen aufzuwachen. Ihre Haut schneeweiß, und es schneit durch die Decke hindurch, sie wird eins mit dem Schnee. Mädchen, diese Schneeflocken. Wärme macht sie kaputt. Julika ist völlig kalt. Celine ist die dreitausendste Schneeflocke, die sie küsst. Ohne Sünde.

2. Doch wenn sich der Schnee als gehacktes Papier erweist, ist es Zeit zu springen. Julika springt aus dem Fenster des zweitausendzweihundertzweiundzwanzigsten Stocks, um aus der Welt, in die sie hinein aufwachte, aufzuwachen. Der Fall nimmt kein Ende. Der Urgrund wartet.

3. Was ist hinter dieser Tür fragt Emily. Hier fängt meine Traumwelt an erklärt Julika. Geh da niemals rein. Sie geht. Julika kann sie noch abfangen und auf die unsichtbare Weltenkante setzen, um welche herum sie Emilys Zimmer einrichtet. Hier wird Emily niemals altern. Aber sie wird auch nie wieder zurückkehren. Sie ist in ihrer Kindheit gefangen.

4. Kannten Sie Ian? Julika schweigt. Der gute Cop legt eine achtspurige Autobahn an Komplimenten, der böse Cop bleibt immerhin drei Minuten böse. Dann verknallt er sich in Julika. Julika ist weißer als der Stolz. Sein Herz wird vereisen und brechen. Nicht nur passiv.

5. Der Amokläufer war ein einundvierzigjähriger Polizist. Der Grund für die furchtbare Tat war, wie sein langjähriger Partner versichert, unerwiderte Liebe. Emily schläft in Julikas Träumen. Julika spaziert durch den Garten. Ein weißer Engel trifft einen schwarzen Gott. Es ist Dark. Was ist hinter der Maske? Was verbergen die schwarzen Handschuhe? Verbrannte Knochen? Junge? Was für ein Junge? Dark kennt keinen Jungen. Aber ein Mädchen kennt er, nicht wahr, Kitiane?

6. Dieses zarte Mäuschen. Es fürchtet sich vor gar nichts. Gar nichts ist eine furchtbare Umgebung. Der Boden verschwindet unter den Füßen. Keine Wände, kein Horizont. Pures Nichts. Ist das der Urgrund? Wer diesen Ort erreicht, kann eigene Welten bauen.

7. Langes, seidiges, hellbraunes Haar, große Augen, ein süßer Mund. Sie geht nicht aus. Sie will nicht, dass jemand wegen ihr Amok läuft. Aber was sie sieht, gefällt ihr nicht. Sie verlässt ihr Penthouse und geht auf die Straße. Was machst du da, fragt sie einen neunjährigen Jungen, der vor einem auf dem Dach liegenden Auto steht und Streichhölzer anzündet. Wann explodiert es endlich!? Kitiane pustet das Streichholz aus und neigt ihren Blick. Mit ihrem Blick zieht sie den schwer verletzten jungen Mann aus dem verunglückten Wagen.

8. Was hast du geträumt, junger Mann? Vor dem Krankenbett sitzt ein ausgewiesener Experte für Alpträume. Hast du sie gesehen, fragt Mr. Nay. Wie heißt du? Dark.

9. Er hat seinen Namen vergessen, sagt der Arzt. Er nennt sich Duck oder ähnlich. Was ist da passiert? Sein Wagen hat sich überschlagen, erklärt der Cop. Wer saß am Steuer? Wissen wir nicht. Wahrscheinlich niemand. Ein Bleigewicht haben wir auf dem Gaspedal gefunden. Wie praktisch. Nein, schüttelt der Cop mit dem Kopf. Praktisch ist, was in der Theorie funktioniert. Angesichts der Wichtigkeit ihrer Taten sind alle Menschen irgendwo Philosophen.

10. Das Leben ist wie ein gelber Sack, murmelt der Müllmann. Der Junge fragt ihn nach einer Zigarette. Wie alt bist du, Bengel? Dreizehn, lügt der Junge. Hier, nimm.
Wenn Denkfiguren Realität annehmen, streiken die Streichhölzer. Intersubjektiv ist nicht echt. Ein echter Junge hätte ihn verbrennen können. Warum lebe ich, fragt er jetzt. War es ein Selbstmordversuch, fragt der Psychotherapeut. Wer hat mich gerettet? Sie sind selbst aus dem Wrack gekrochen.

11. Lily, mit wem spielst du? Lily lacht. Ich denke mir jemanden zum Spielen aus! Wen? Einen Jungen. Einen Jungen!? Kein Phantasiegeschöpf, kein Einhorn, kein exotisches Tier? Ein Junge ist im Grunde ein Einhorn, lacht Lily. Diesen Witz hat Julika im Traum nochmal gehört. Es war ihr, als hätte Lily gesündigt und wäre zur Hölle gefahren. Als hätte Lily ihre weißen Handschuhe ausgezogen und einem streunenden Jungen ihre Hand gegeben. Lily schmiegt sich an Julika. Julikas Fall endet. Der Boden ist weich, es sind kolossale Blüten. In einer roten Rose endet ihr Fall. Lily liegt neben ihr und lacht. Sie meinte nichts Unanständiges mit dem Einhorn. Das Kirsch ihrer Lippen zieht Julika in den Bann, als Lily ihr etwas erzählt. Die Antwort ist kurz und endet mitten im Satz, als sich die Lippen berühren.

12. Julika, was bedeutet Realität, fragt Lily. Realität ist, wenn du keinen Einfluss darauf hast, wie die Dinge sich verhalten. Und wer ist Celine? Celine habe ich mir zum Spielen ausgedacht, lacht Julika. Lass sie mit meinem Jungen spielen, kichert Lily. Ein Kichern, auf das es nur eine Antwort geben kann. Eine kirsche Antwort.

13. Die schwarzen Stöckelschuhe stehen am Eingang der Halle. Drei junge Frauen streiten sich, wem die Schuhe gehören. Da sie aus Hartlakritze sind, kann jede von ihnen bis zu neunhundertzwanzig Mal daran lecken. Seht her, sagt der Organisator. Diese Damen sind siebzehn, doch sie sind junge Frauen. Diese Dame hier ist neunzehn, aber ein Mädchen. Was ist der Grund? Kitiane tanzt nicht, sie fliegt. Sie scheint leichter als Luft zu sein, doch es sind die anderen Tänzerinnen, die ihren Körper durch die Vorstellung tanzen. Ballett. Der Organisator verschwindet hinter der Bühne, das Publikum wird eingeblendet. Wer ist diese Prinzessin, fragt ein junger Mann seine Begleiterin. Diese zuckt mit den Schultern, bis eine ältere Dame ihr von Hinten auf dieselben klopft. Neid zerstört alles. Sieh mich an. Es ist Neid, der uns altern lässt. Ohne Neid wären wir alle Kinder.

14. Es ist nicht bekannt, wie sich eine Säge im Koffer des Polizisten einfand, aber es wird auf allen Kanälen mit äußerster Akribie berichtet, welche Körperteile in ihr ihren Meister fanden. Der Amokläufer schoss nicht einfach in die Menge, er legte denen, bei denen es ihm gefiel, Handschellen an, kettete sie an Eisenrohre und sägte sie frei. Ein Amoklauf mit symbolischer Wirkung. Julika, lass mein Herz los! Ich habe es nie besessen, sagt Julika, und das Aussprechen dieses Satzes ist das Brechen diesen Herzens.

15. Das Wort, das selbst Musik ist, braucht keine musikalische Unterstützung. Stell dir vor, die ganze Halle spricht es laut, schreit es in die Luft, die Menge beginnt rhythmisch zu schaukeln, die Blicke fixieren nur das Wort, nur das Wort. Und wenn es zum hundertsten Mal ausgesprochen ist, dann fliehet aus der Stadt, denn ein weites Tor wird für lange Zeit offen sein. Der Club der Verehrer Julikas traf sich zuerst anonym, in Chatrooms. Die Mitglieder benannten sich nach besonderen Schönheitsmerkmalen Julikas oder aber mit Namen wie Julikaforever oder Ichliebejulika. Einmal war es raus, auf einer Party am Freitagabend. Die Mehrheit der Anwesenden war in Julika verknallt, sie tanzten und sangen Lovesongs, doch es schien nicht genug zu sein. Etwas fehlte. Etwas, das sicherstellen würde, dass Julika es hört, egal wo sie sich befindet, dass Julika es hört, wie ihre Herzen beim Brechen knacken, etwas, das die Realität transzendierte - denn was ist Realität nach Julikas Definition? John lachte. Er warf das Bierglas an die Wand und sprang auf die Bühne. Er stieß den DJ weg und begann das Wort zu sprechen. Jeder verstand beim ersten Erklingen des Wortes, dass es dieses Wort war, welches war, bevor es bei Gott war und bevor es Gott war.

16. In sechs Tagen wird diese Stadt Geschichte sein, predigt Mr. Nay. Evakuiert euch! Die Behörden mahnen zur Ruhe, aber Angst liegt in der Luft. Die Menschen verlassen massenweise die Stadt.

17. Im Krankenhaus ist Hochbetrieb. Bei der allgemeinen Panik passierten in besonderen Fällen einzelne Unfälle. Und der, der sich Dark nennt, weil er sich an seinen Namen nicht mehr erinnern kann, liegt noch im Krankenhaus.
Dachten wir an denselben Jungen? Warum trägst du diese Maske? Es ist keine Maske, mein Gesicht ist nur verhüllt. Wieso? Weil ich kein Gesicht habe. Natürlich hast du ein Gesicht, lacht Lily und entfernt die gesichtslose Hülle. Du bist die Kindheit selbst, urteilt Dark. Ich werde dich duplizieren, um die Mäuschen zu verwirren.

18. Dark denkt denselben Jungen, den Lily sich zum Spielen denkt, damit der gemeinsam gedachte Junge Lily denkt. Die vom ausgedachten Jungen ausgedachte Lily spricht das Wort hundert Mal, da der Junge sie als in ihn verknallt ausdachte. Viele Kreise werden geschlossen, sobald der Strom der Realität anfängt zu fließen.

19. Julika, mir ist kalt. Das bin nur ich, lacht Julika. Sie hat furchtbar kalte Hände, wenn die Bedeutung von furchtbar sich nur aus der Ironie befreit, wenn ein Anderer dieses kalte Fürchten lernt. Wir sind eifersüchtige Wesen, anthropologisiert Julika. Lily legt ein Kissen unter Julikas Kopf und wärmt sich am kalten Weiß ihrer Haut.
Dark steht vor dem Spiegel. Die Wunden sind verheilt. Die Erinnerung verloren. Als der Cop einem alten Lehrer den Kopf absägte, da schrie er ein Gebet, aber nicht zu einem der üblichen Götter. Holt mich, ihr Graue, holt mich, schrie er, bis ihn ein anderer Cop erschoss. Sein Partner. Denn er wollte allein beide Cops spielen, musste sich aber mit der Rolle des guten Cops zufriedengeben. Und überhaupt, er atmete ja die Luft, die Julika auch atmete. Und er wollte sie, der Bastard. Ich aber, ich wollte nichts von ihr. Ich wollte sie nur heiraten. Hör auf zu träumen du Bastard und fass endlich an! Ja, Sir. Du, Schwachkopf, was ist mit dem alten Lehrer? Die Ärzte konnten ihn retten. Als Organspender.

20. Eine dunkle Nacht bricht an, die dunkelste, die in dieser Stadt je eralpträumt wurde. Dark genießt den Gang durch die leeren Straßen. Als er am Unfallort vorbeigeht, erinnert er sich an einen Engel. Die Aufzüge sind ausgefallen, der Wolkenkratzer wurde evakuiert. Nur im Penthouse brennt noch Licht. Das muss dieser Engel sein, urteilt Dark. Ein verwirrter alter Mann fragt nach dem Weg: Wo geht es hier zur Hölle? Oben, so Dark. Der alte Mann springt hoch. Und wieder. Und nochmal. Und wieder, und nochmal, und fällt auf den Boden, und bricht sich beide Beine, und Hunde, die vormals auf Sofas erlesenes Hundefutter aßen, essen nun Wolfsfutter. Dark ist längst im Gebäude, er muss den Engel retten.

21. Was ist mit denen, die die Stadt nicht verlassen können? Können, wird der Bürgermeister zynisch. Was ist mit Durchgeknallten, die die Stadt nicht verlassen wollen? Was ist da los, ein Virus? Warum diese Massenpanik? Misch dich nicht ein, du verstehst nichts von Gruppendynamik, unterbricht der Bürgermeister den stellvertretenden Bürgermeister. Beide trinken Tee. Als der Bürgermeister nochmal hinguckt, um den stellvertretenden Bürgermeister mit strengem Blick zu fixieren, ist dieser weg. Eine Blutspur schleicht vom bequemen Sessel in eine öffentliche Toilette. Was? Was ist passiert!? Wie von selbst pressen sich die Körperteile dessen, was vor fünf Sekunden der stellvertretende Bürgermeister war, in die Pissoirs. Die Kanalisation bekommt langsam Hunger, und die Münder reichen über die Stadt hinaus in einige Vorstädte. Das Ding, das auf uns zurollt, ist kolossal, bekennt der Bürgermeister. Wir fahren weiter, hier sind wir auch nicht mehr sicher. Evakuieren!

22. Zu Tausenden laufen sie zurück in die Stadt. Glück bevölkert ihre Gesichter. Dem Sog des Geruchs aus der Kanalisation haben sie nicht widerstanden. Nicht den Stimmen in ihren Köpfen, die nur dieses eine Wort wiederholten und sich mit ihm zu vereinigen suchten. Ein grauer Fluss überflutet die Straßen, klettert die Häuser hoch. Dark klingelt an der Tür. Keiner macht auf. Dark hört sie kommen. Sie sind schnell, sie sausen die Treppe hoch. Die Tür öffnet sich, Dark fällt hinein, die Tür schließt sich wieder. 
 
Das Licht, das aus den großen Fenstern auf die Böden fiel, wird grau. Sie sind draußen, sie versuchen hineinzukommen. Kein Loch ist ihnen zu klein. Dark rennt durch die Zimmer und sucht das Mädchen. Im Badezimmer war das Fenster einen Spalt offen. Sie strömen hinein, kriechen die Wände hoch, verteilen sich im dreidimensionalen Raum. Der Wolkenkratzer beginnt zu sinken. Der Boden verschluckt die Stadt.

Es schneit in Julikas Garten. Julika schließt die Augen und tanzt im Schnee. Kühl an kühl berühren sich die Hände der Prinzessinen. Der Raum war schon zu, Kitiane ist durch die Zeit gereist, um den grauen Wesen zu entkommen. Etwas muss sich in der Zeit verändert haben. Jemand muss tot sein. Jemand muss noch leben. Die Stadt, als hätte sie niemals existiert. Auf keiner Karte zu finden. Julika fühlt Kitiane in ihr Schlafzimmer. Lily kuschelt mit Geistern auf Julikas Bett. Die Prinzessinen fangen das Mädchen und kitzeln es aus. Die Lichter der Stadt brennen wieder. Beim Zeitweg hat Kitiane die große Party gestreift, die vor 22 Tagen in freudiger Verzweiflung gefeiert wurde. Auf der John das Wort übernahm. Kitiane lief in John Sekunde über die Bühne. John blieb das Staunen im Mund stecken und er verzichtete auf die Verkündung des Wortes.

Ein Egel ein Engel, der alle rettet, aber einen opfert. Nein, Junge, sie hat mir vertraut. Sie wusste, dass ich keine Angst vor ihnen habe. Und jetzt sei still. Ich kenne deinen Namen, lächelt den Junge ihn an. Behalte ihn für dich. Ich heiße jetzt Dark.




KITIANE


1. Was, wenn? Nur Genies und Idioten stellen diese Frage. Sich. Der Welt. Gott. Was, wenn Julika. Und zwar nicht das Mädchen, welches, sondern Kitiane? Wenn sie die Schule gewechselt hätte, wäre all das nicht passiert. Nicht mit John. Nicht mit Ian.

2. Niemand weiß, wer es wem erzählte, doch als die ersten es wussten, wollten sie es ausprobieren. Sie gingen nachts in den Wald. Sie sagten das Wort. Als die Hundert nahte, überkam sie eine Angst, die sie noch nie kannte, sie wollten laufen, rennen, wünschten, sie wären zu Hause in ihren Betten, standen aber da. Im dunklen Wald. Er war dreizehn, sie war neun. Er hatte einen älteren Bruder, der das Mädchen mochte. Der vor Eifersucht verzweifelte, während sie im Wald zu sterben begannen.
Und es lief so ab: nach der neunzigsten Wiederholung konnten sie rhythmisch schaukelnd den Wald verlassen, sie waren auf dem direkten Weg nach Hause, noch dreihundert Meter, dann kam das Wohngebiet. Fünfundneunzig. Noch zweihundert Meter. Siebenundneunzig. Bald da. Neunundneunzig. Es wird alles gut. Hundert. Sie kehrten um und gingen rhythmisch schaukelnd zurück in den Wald.

3. Ein alter Fahrrad an eine Bank angelehnt. Er sitzt und schweigt. Sein Bruder kam gestern nicht nach Hause, auch das Nachbarmädchen wird vermisst. Er setzt sich auf das Rad und fährt durch die Landschaft. Als er am Wald vorbei fährt, auf der anderen Seite, da sieht er am Strommast zwei ausgeweidete Leichen hängen. Das sind sie. Am Abend sind sind sie nicht mehr da. Er trinkt Tee. Der Tee schmeckt sehr gut. Er packt die Sachen seines Bruders in den Keller. 
 
4. Schule. Er fühlt sich befreit. Er genießt den Tag. Die Eifersucht, die sein Herz zerfrass, ist weg. Er ist glücklich. Sein Bruder tot. Er genießt die Tränen der Mutter des Nachbarmädchen. Er gibt philosophische Antworten über das Verschwinden ihrer Tochter. Die Polizei befragt ihn. Ein Genuss mit Beck´s. Der gute Cop gewährt ihm ein Bier. Der böse Cop droht - doch was soll ein vierzehnjähriger schon getan haben?

5. Nein, er frisst die Eifersucht in sich hinein und fängt an, Mädchen zu hassen. Er verknallt sich in einen neunjährigen Jungen. Er träumt von der Hölle, für die er bestimmt zu sein scheint. Er geht in den Duschraum und schneidet sich die Pulsadern auf. Er stirbt.
Oder er geht in den Wald und bereut es, seinem Bruder das Wort gesagt, ihn neugierig gemacht zu haben. Er kann machen was er will. Sie werden ihn holen. Nicht nur bei hundert. Auch bei neunzig. Auch bei null.

6. Victor, machen wir es oder nicht? Du hast die Hosen voll gekriegt, als Dan es erzählt hat. Lach nicht, Victor. Da ist was dran an der Geschichte. Für meine Begriffe hat der Typ das Mädchen ermordet und im Wald vergraben. Und seinen Bruder? Und sein Bruder versteckt sich irgendwo in Kanada und lacht sich den Arsch ab. Sie waren nie eine glückliche Familie. Der Jüngere wollte schon immer nach Kanada.

7. Victor, lass mich das machen! Bitte. Gut, die Kerze ist angezündet, die Spiegel gegeneinander ausgerichtet, was brauchen wir noch...warte, Dan kommt. Hi, Dan. Hallo, ihr Mystiker. Was macht ihr da? Ich hab keine Ahnung was Tim vor hat. Tim? Dan? Lass den Schwachsinn mit den Spiegeln und der Kerze, sprich einfach nur das Wort, und zwar hundertmal, und zwar aus. Wollen wir? Ich muss noch Hausaufgaben machen. Victor, wenn du keine Lust hast, geh! Tim, nimm das nicht so ernst. Unter uns: wir wissen ja, dass das Blödsinn ist. Aber was sonst sollen wir frustrierte Zehntklässler ohne Mädchen den ganzen Abend so machen? Eben. (Chorus): R....d, r...d...

8. Wieviel Zeit haben die Dinger überhaupt, um uns zu holen? Weiß nicht. Eine Woche? Dan, hast du einen Termin bei den Dingern bestellt, oder wie läuft das? Victor, da kommt... Ich weiß, gefällt sich Victor in seiner arroganten Pose. Das Mädchen muss in ihn heftig verknallt sein. Ich liebe Tim, antwortet Victor vor versammelter Klasse. Es tut mir wirklich Leid für dich.
Ich bin zwar nicht schwul, aber das war so cool, Victor, wie du dieses Mädchen... Klappe, Tim. Hi, Ladykiller! Hi, Ladythriller! Sehr lustig. Nein nein, durchaus eine nützliche Eigenschaft, Dan. Wir zelten am Freitag, schon vergessen? Und da wirst du - ich prophezeie - der Held am Lagerfeuer sein.

9. Gebannt hören sie Dan zu. Alle Mädchen. Auch die süße Maus aus der 7. Wie heißt du, Kleine, fragt Victor. Kitiane, flüstert sie schüchtern. Hast du Angst, Kitiane? Kitiane nickt. Victor legt einen Arm um sie. Er will später Kinder haben. Eine Tochter wie Kitiane. Und diese Nacht die Lehrerin flachlegen. Oder Melissa aus der 11.
Mädchen mögen dich, Victor, beneidet ihn Tim. Ach, Mann, sei doch nicht so schwul! Kommst du mit in den Wald? Kommt Dan auch? Dan traut sich gerade nicht, ein Mädchen anzusprechen. Komm schon, ich muss noch Melissa vögeln. So, Tim. Sei rücksichtslos, sei arrogant, sei eine Drecksau. Lüge, betrüge, stelle bloß. Versprich das Blau vom Himmel, das Gelbe von der Sonne, das Schwarze von der Nacht. Nur lieben darfst du nicht. Das zerstört alles.

10. Dan, hast du Tim gesehen? Was ist los, lass mich schlafen. Zwei Stunden später. Dan, es ist elf Uhr. Wir packen! Hast du Tim gesehen?
Melissa, hast du Victor gesehen? Leider nicht, ärgert sich Melissa. Dan schmunzelt. Ach was, der war doch die ganze Nacht bei dir. Nein, war er nicht, du Esel!
Abend. Dan ist zu Hause. Wo sind sie nur hin? War ihnen langweilig? Sind sie einfach abgehauen? Morgen sieht man sich in der Schule...
Wenn es denn ein Morgen gibt. Dan lässt das Licht an, er fürchtet sich. Er zittert, er verkriecht sich unter der Decke. Sein Vater kommt ins Zimmer, sieht ihn unter der Decke - wohl schlafend - und macht das Licht aus. Dan erstarrt vor Angst. Bloß nicht daran denken! Was ist es? Was sind sie? Dan hat keine klare Vorstellung, wovor er solche Angst hat. Er weiß nicht, was auf ihn wartet - dort in der Ecke vielleicht, hinter dem Schreibtisch. Etwas zieht ihn hoch, da ist niemand im Zimmer. Er steht auf, schaut im halbdunklen Spiegel sich selbst in die Augen. Je mehr Angst in seinen Augen ist, umso mehr Angst hat er vor seinen Augen, die er im Spiegel sieht. Er rennt los, in den Wald. Keiner sieht ihn jemals wieder.

11. Die Welt ist entzaubert. Komm, lass uns das Miller-Experiment nachbauen. Ich habe hier ein anderes Experiment für dich. Kostet nichts, nimmt keine Zeit in Anspruch, und macht einen Höllenspaß. Schieß los! Es gibt da so ein Wort, wegen dem vor ein paar Jahren zwei Kinder durchgedreht und verschwunden sind. Ein Jahr später oder so haben drei Jungs aus einer zehnten Klasse mit diesem Wort gespielt, und sind alle verschwunden. Was hat es den auf sich mit dem Wort? Nun ja, du musst es hundertmal hintereinander sagen, ohne Unterbrechung, ohne Fehler. Das ist doch bloß so ein Zungenbrecherspiel! Peter, du bist spät. Was geht? Ein Experiment... Ach was, bloß so ein Spiel. Machst du mit?

12. Mike, hast du Fieber? Nur schlecht geträumt. Jacob, was starrst du so auf dieses Loch dort hinten? Seht ihr, da in der Wand von dem alten Gebäude, da ist so eine Art Tor in eine andere Welt...
Der Brain-Mike. Jetzt dreht er durch. Nur ein Spiel, was, Mike? Fresse, Jacob. Warum berührst alle Sachen dreimal oder neunmal oder 27 mal? Zählst du immer nach oder was? Hat das etwas mit dem Experiment zu tun? Ach, dein blödes Spiel, ja? Vergiss es.
Peter, wie der Fernseher ließ sich heute Morgen nicht ausschalten? Ich sags dir ja, er ging immer wieder an. Und dann sah ich auf die Fernbedienung und es waren Tasten drauf, die ich noch nie gesehen habe. Und ich hatte... Angst!? Mike, wenn du nochmal von Hinten anschleichst...

13. Mein Opa war da. Es war halb acht. Dann klingelte es an der Tür, zehn vor acht. Ratet mal, wer da war? Dein... Ja. Ich ging in die Küche, da stand er und machte Kaffee, brummelte etwas über die Kaffeemaschine, dann kam ich in Wohnzimmer, er kam von der Eingangstür, setzte sich hin und frage, wo meine Mutter ist. Was du erzählst, ist Schwachsinn, Peter! Ich weiß. Aber es kommt noch dicker. Der mit dem Kaffee kam rein und die haben sich eine Stunde lang unterhalten. Jacob guckt zu Boden. Ich konnte den Physikraum nicht finden. Ich lief im Kreis durch die ganze Schule, aber wie ist das möglich, ich ging immer wieder den einzig vernünftigen Weg vom Pausenhof in den Physikraum... Na, wenigstens hast du den Metaphysikraum jetzt gefunden...

14. Kleine, wie heißt du? Kitiane, flüstert das Mädchen. Bist du zwölf? Ich werde bald vierzehn. Und du? Ich bin Jacob. Kitiane, hast du gestern nach der dritten Stunde gesehen, wie ich diesen Korridor lang gegangen bin? Ja, du bist ihn immer wieder lang gegangen. Ich habe mich gewundert, wie du das gemacht hast, du bist ja nicht zurückgekehrt. Du gehst dort vorne um die Ecke, und im nächsten Augenblick gehst du wieder an mir vorbei. Ist das ein Zaubertrick? Komm mit, es ist wichtig. Wohin? In die Bibliothek.
Was ist da auf dem linken Schrank? Eine Rose. Nur eine Rose? Nicht zwei? Nein, flüstert Kitiane. Sie fährt mit ihrer kleinen Hand durch ihr langes hellbraunes Haar. Was ist auf dem Tisch? Jacob zählt auf. Richtig. Jacob steht auf. Du bist süß, sagt Kitiane. Sie glaubt vielleicht, ich wollte ihr einen Crush gestehen, indem ich den Durchgedrehten spielte und sie um Hilfe bat, denkt er beim Gehen. Zweifelst du an der Realität? Schockiert dreht er sich wieder um und starrt sie an. Was wolltest du damit sagen? Ein kurzer Blackout. Jemand sitzt im großen schwarzen Sessel, der mit dem Rücken zu Jacob steht. Was tun? Hingehen? Wegrennen? Wer könnte dort jetzt sitzen? Jacob entschließt sich zum Wegrennen, doch hat keine Kraft in den Beinen, und der Sessel dreht sich höllisch langsam aus ihn zu. Wer ist da? Hallo!? Jacob zuckt zusammen, als er den Ansatz des schwarzen langen Ärmels sieht. Er schaut auf die Uhr, die sich von rund zu oval verformt und von Weiß immer grauer wird. Es ist neun Uhr abends. Sieben Stunden! Kein kurzer Blackout. Er schaut auf den Sessel, der sich auf ihn zu dreht, nun sieht er, dass niemand auf dem Sessel sitzt, nur Kitianes schwarzer Schal auf einer Armlehne. Kitiane? Jacob rennt durch das Schulgebäude. Kitiane!? Licht, wie am Tage, doch ohne künstliches Licht müsste es längst dunkel sein. Es erinnert sich. Dunkelheit, nur Straßenlaternen scheinen in den dunklen Korridor hinein. Jacob rennt, er darf nicht stehenbleiben. Gegen eine Wand rennen oder durch ein Fenster springen, aber nicht stehenbleiben. Nicht... Da stürzt mitten in der Dunkelheit ein großer schwarzer Schatten auf ihn ein. Blackout.

15. Mike, das war 81. Nein, das war 79. Warte, Peter. Bamm, bamm. So, jetzt. Was wolltest du? Hast du schon mal einen Traum in einen Traum in einem Traum gehabt? Ja, mehrmals. Hattest du nachdem du zweimal dachtest, so jetzt bin ich wach, und immer noch im Traum warst, Angst nicht mehr aufzuwachen? Ja, wieso? Mir geht es so gerade. Denkst du, du träumst ? Ja. Du kannst es doch testen. Gute Idee. Ich springe aus dem Fenster. Es ist ja nur zweiter Stock. Peter? Wo bist du denn hin gesprungen? Peter? Wo bin ich? Was... Mike, mit wem redest du? Peter war doch hier. Nein, so Peter. Und wer bist du? Ich bin Peter. Und wo ist Peter?

16. Warst du das oder warst du das nicht? Wieso ist mir das nicht aufgefallen, dass das logisch unmöglich ist? Als er sagte, dass er Peter ist, und ich sah auch Peter, warum dachte ich, er wäre nicht Peter, sondern Peter? Mike, Jacob ist tot. Bist du sicher? Er schwänzt wahrscheinlich wie so oft. Er ist tot, Mike.
Wem gehört dieser Schal? Mir doch nicht. Sehe ich wie ein Mädchen aus? Wo ist dieses Mädchen, wie welches du nicht aussiehst? Peter starrt den Direktor ungläubig an. Ich soll etwas mit irgendwas zu tun haben? Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Und? Bin ich schuld oder was? Mike, komm her. Hast du diesen Schal schon mal gesehen? Mist, vier. Mike? Fünf sechs sieben acht neun was? Komm her. Hallo, mein Freund. Hast du etwas mit dem Verschwinden eines Mädchens zu tun? Wovon reden sie? Um sieben Uhr abends wurde sie zum letzten Mal gesehen. Acht neun wer gesehen? Wo gesehen? Die Jungs wissen nichts, sagt der Cop. Der Direktor steht auf und verlässt das Büro.
Mike, weißt du, von wem er spricht? 79,80,81... Drei hoch vier. Eigentlich müsste ich drei hoch neun gehen. Fuck...

17. Ich wache auf, und es ist acht Uhr. Ja, und? Acht Uhr abends. Ich bin um zehn ins Bett gegangen. Und? Ich bin zwei Stunden früher aufgewacht. Was? Du bist ins Bett gegangen und dann zwei drei Stunden vorher aufgewacht? Macht das Sinn? Dass Jacob verschwunden ist macht auch keinen Sinn. Und dieses Mädchen. Ja, dieses Mädchen! Mit Jacobs Experiment hat das jedenfalls nichts zu tun!
Peter, warum gehst du in den Wald? Nein, ich gehe nicht in den Wald. Ich gehe wie du zu dir nach Hause. Nein, du gehst in den Wald. Du gehst dann auch in den Wald. Nein, hier ist schon meine Haustür. Peter!?

18. Und du bist dir sicher, dass er die ganze Zeit, bis du an deiner Haustür warst, mit dir zu dir nach Hause gegangen ist? Der Cop ist verwirrt. Es war so, versichert Mike. Wie kann er dann zugleich in den Wald gegangen sein? Sagen Sie es mir! Eins ist mir klar - zwei Kinder sind schon verschwunden, irgendwer oder irgendwas treibt hier sein oder ihr Unwesen. Drei was ist jetzt mit Peter? Hat ihn jemand gesehen? Der Cop nickt. Wer? Du. Du hast ihn als Letzter gesehen.

19. Neun hoch neun. Amen. Absolutes Universum. Amen. Unendlich Amen. Drei Sekunden den Atem anhalten. Mike sitzt auf dem Dach der Schule, Füße hängen runter, er sieht, wie unbeschwerte Elftklässler auf dem Pausenhof Basketball spielen. Es ist sieben Uhr abends. Mike? Bist du schon siebzehn? Neun hoch neun. Amen. Absolutes Universum. Amen. Unendlich Amen... Was? Nein. Erst nächsten Monat. Wieso? Weil es cooler ist, mit 16 zu sterben. Jacob, bist du tot? Ja, ich bin tot. Jacob ist wie eine Mumie in Schwarz, sein Gesicht gehäutet, Mike sieht es, doch zugleich auch nicht; er unterhält sich mit Jacob, als wäre dieser ganz normal am Leben. Wenn du nicht springst, fällst du runter, bemerkt Jacob. Du hast Recht, springt Mike.

20. Eine Blutlache haben wir gefunden, keine Leiche. Hat jemand die Leiche gestohlen? Wer weiß. Das vierte verschwundene Kind in dieser Woche. Kinder, das waren keine Kinder. Für mich waren das Kinder. Haben Sie Kinder? Nein. Dann sagen Sie auch nicht, Kinder wären mit 16-17 keine Kinder... Wissen Sie, ich habe zwei Kinder. Dan und Albert. Dan ist vor zwei Jahren von uns gegangen. Albert tut so, als hätte es Dan nie gegeben. Dabei war Dan doch sein einziger Bruder...
Schöne Geschichte, durchaus. Ihr Viecher, ich habe mir gerade die Hände gewaschen, und ihr kommt schon wieder! Warum verhüllst du dein Gesicht? Und warum kümmerst du dich um diese Kleine da? Mit einem A vor ihrem Namen wird sie nicht zum selben Mädchen! Ich weiß. Ich mag sie. Sie ist süß. Sie hat zwar eine andere Haarfarbe und ist ein Jahr jünger, aber ich habe so ein Gefühl bei ihr... Glaubst du, das dein Bruder tot ist? Nein. Ich glaube, er hat sie nicht ein einziges Mal angefasst. Jetzt idealisierst du! Nein, und ich fühle mich auch nicht schuldig. Ihr verdammten Viecher! Warte. So... Verschwindet hier... So ist gut. Vielen Dank. Ich geh mir die Hände waschen...

21. Kitiane, du kanntest Victor? Und diesen, wie hieß er... Jacob... Die zweite und die dritte Generation. Und kanntest du jemanden von der Ersten? Da waren nur zwei, ein Junge und ein kleines Mädchen. Und noch ein Junge, nicht? Ja, aber er hat nicht mitgespielt. Vielleicht hat er es doch getan. Heimlich. Jedenfalls ist er danach auch verschwunden. Julika, ist dir kalt? Nein, das bin ich. Du Schneeflocke! Du Weltmeisterin im Vorsichtigkitzeln.
Ich kannte einen, der war wie Victor. Wo ist er jetzt? In der Hölle. Julika, ich kann deine Tränen ahnen... Ja, mach es. Es ist so kirsch, wenn du das machst. Überall wo die Tränen hinfließen.... Könnten... Die Knöpfchen waren eigentlich bedeckt, du Naschkatze! Aber es macht dich so warm. Komm unter die Decke. ... Er hieß Ian. Dabei hätte ich dich kennen können. Ich wollte damals die Schule wechseln, noch bevor ich dieses Mädchen kannte. Dann wäre das alles nicht passiert. Es muss nicht passiert sein. Soll ich es rückgängig machen? Wie denn? Das ist unmöglich. Ist es denn logisch, was passiert ist? Nein, natürlich nicht. Ist es aber. Also kann es rückgängig gemacht werden.

22. Mr.Nay, was ist ein graues Loch? Nun, ein graues Loch. Schwer zu sagen. Wir sind nicht schwer von Begriff, Mr.Nay. Seid ihr nicht!? Dann hört gut zu! Ein graues Loch ist eine Verbindung zum Urgrund, ein Tor in eine andere Welt, die vor unserer war, nach unserer war, vor unserer sein wird und nach unserer sein wird und fortwährend ist und unsere Welt fortwährend erschafft. Ich verstehe. Du verstehst!? Ein graues Loch ist die Antwort auf die Frage ob die Welt im Logos aufgeht oder nicht, und es ist keine gute Antwort. Aber eine logische, nicht wahr? Narürlich! Sonst wäre sie keine Antwort, sonst wäre sie nur Unsinn! Das Dasein des Unlogischen ist ein logischer Schluss!!
Kitiane, worüber habt ihr da geredet? Dein Haar ist heller als meins, aber ich habe weniger verstanden... Dieses Lachen! Lach nochmal, Kitiane! Ich kann nicht. Das geht nur spontan. Julika, wer ist diese Lily? Finde es beim Kitzeln heraus!
Linksdrehend? Spin? Nach links drehe ich mir zu Kitiane, nach rechts zu dir. Ich bin aber wirklich, und diese komischen Teilchen, die sind nicht wirklich. Das ist doch wieder eine Metapher! Kleine Lily. Jedes Wort ist eine Metapher.




URGRUND


1. Zwei Brüder um die 14 leben in einer Kleinstadt am Waldweg. Der ältere Schüchterne verknallt sich in ein neunjähriges Mädchen, der jüngere Gedankenlose spielt mit ihr. Der Ältere wird eifersüchtig und weiht die Beiden in ein Spiel ein - wer 100 Mal am Stück R.....d sagt, ist fearless. Das Spiel wird am späten Abend gespielt, immer wieder, der Initiator spielt absichtlich und unauffällig falsch. 22 Tage nach dem letzten Spiel verschwinden die Beiden; später entdeckt der Ältere sie nackt und ausgeweidet an Strommasten am Waldweg hängen... Was sagst du? Wollen wir uns den Film angucken? Ja, komm... Was meinst du, was ist aus dem Älteren geworden? So irre wie der Film war, glaube ich, er ist vor Schuldgefühlen schnell gealtert und lebt irgendwo am Rande der Stadt als Einsiedler.

2. Sieben flache, drei tiefe Dimensionen. Ist es das? Dann wäre das Wort ein Symbol. Nein, im Gegenteil. Das Wort selbst spräche zu uns. Es ist spät, Kristian. Nimm deine Medizin. Und sei froh dass du noch lebst. Aber natürlich.
Mr.Nay, wie alt sind Sie? Sehr alt. Was wollen Sie? Nur mit Ihnen reden. Empfinden Sie Schuldgefühle, Mr.Nay? Wofür!? Dafür, dass ich alt bin!? Verschwinden Sie von meinem Grundstück!

3. Sie haben es falsch verfilmt. Egal. Nicht egal, der Junge kann nichts dafür, und die Schweine geben ihm die Schuld! Jeder kann was dafür... Back keine Allgemeinplätzchen hier! Kristian nimmt einen Revolver. Ich komme zurück. Aber anderes als du, mit Informationen! Viel Spaß, Spaßvogel!
Richard bemerkt, dass sein Name sieben Zeichen hat und auf ein d endet. Er lacht. Das Wort sollte wirklich Richard heißen. Kristian sieht nur ein leeres Haus, aus dem alte Sachen getragen werden. Mr.Nay ist heute Nacht verstorben, sagt ein Cop.

4. Wie hast du überlebt? Den Unfall oder den zweiundzwanzigsten Tag? Du hast ja beides überlebt, stellt Richard fest. Kristian hört sich die CD wieder und wieder an. Aha, hier habe ich es andersrum ausgesprochen.

5. Kommen Sie schon her, ich habe nicht viel Zeit! Sie haben es also überlebt? Ich hasse Überlebende. Kommen Sie, trinken Sie einen Tee. Wie heißen Sie? Kristian. Was ist unter diesem Tisch, Sir? Wieso? Es riecht vertraut. Vertraut, sagst du. Greif es mal mit der Hand. Fühlt sich ein wie ein Hund nicht wahr? Eher wie eine Ratten. Wie mehrere Ratten. Was willst du also? Ich hör dir zu. Ich habe den ganzen Tag. Lass dir Zeit. Es geht um Ihren Sohn, Sir. Um welchen? Dan. Woher wusste er von dem Spiel? Das ist lange her, jungen Mann. Und wissen Sie, ich muss noch was erledigen... Wen von den drei Personen hat Dan gekannt? Den älteren, den jüngeren Bruder, das kleine Mädchen?Was für ein Porno läuft da auf Ihrem Bildschirm? Hören Sie überhaupt zu!? Ich höre immer zu. Dieser Porno da, der läuft schon seit vier Jahren. Hört ein Film auf, fängt ein anderer an. Ich nenne das Pornolader. Er besorgt sie automatisch aus dem Netz. Den vorigen löscht er immer. Mein Sohn Dan wollte schon immer Informatiker werden. Er hat das Ding programmiert! Sie müssen sicherlich stolz auf Ihren Sohn sein. Oh ja, das bin ich, Junge. Setz dich, nimm dir ein paar Kekse. Oder willst du eine Zigarre?

6. Auch Mädchen haben manchmal ältere Brüder. Wen sucht er? Wo verbirgt er seine Rachepläne? Hat er den Film gesehen oder es schon vorher gehört? Wie der Name des Mädchens war, ist ja bekannt...
Richard, kennst du einen Ken? Wer kennt keinen Ken? Jeder kennt einen Ken! Den Ken. Ein altes Foto, Kristian. Er muss sich seitdem sehr verändert haben. So einen Ken habe ich gestern Nacht in der U-Bahn gesehen. Er hat immer wieder diesen Namen gerufen. Und dann immer wieder Rahabad, Rahabad. Ja, das ist der Ken. Er kennt das Wort nicht. Er versucht es immer wieder mit dem falschen Wort. Er will zu seiner Schwester.

7. Ken!? Wer bist du!? Ich heiße Kristian. Ich habe das, was du suchst... Wo fahren wir hin? Wo hast du früher gewohnt? Hier, rechts abbiegen. Und jetzt links. Dieses Haus da. Verrätst du es mir jetzt? Welcher der beiden Wälder ist es? Der da. Steig aus dem Auto. Wir gehen da hin.
Es ist spät. Spät in der Nacht, ja. Ich habe viele Bekannte, die Angst vor der Dunkelheit haben. Abends, wenn es genauso dunkelhell ist wie kurz vor dem Morgengrauen, haben sie Angst. Am frühen Morgen nicht, auch wenn es objektiv dunkler ist als zu vergleichbaren Abendzeiten. Was ist die Lösung? Die Erwartung ist es. Niemand hat Angst vor etwas, was er unmittelbar vor sich hat. Man hat Angst vor dem, was man zu kommen erwartet...
Komm, hier gehts lang. Ist das ein Grabstein? Eher ein Steingrab. Aus alten Zeiten. Glaub mir, ich kenne ältere Zeiten. Das ist bestimmt so ein Kulturgut von vor 2000 Jahren, wenn nicht gar früher! Willst du ein Lagerfeuer machen? Warum nicht.

8. Jetzt wird es langsam Morgen. Verrätst du mir das Wort? Hast du ihn getötet? Den einzigen Menschen, der meine kleine Schwester jemals lieb hatte? Ich hoffe er lebt und ist gesund. Warst du kein guter Bruder, Ken? Ich war ein Arschloch, kein Bruder. Ich hab sie und ihre Freundinnen vor Arschlöchern wie mir beschützt, ansonsten war sie mir scheißegal. Sag mir jetzt das Wort. Ruhelid. Ruhelid? Ruhelid!?

9. Kristian, wach auf. Wer will mich denn so früh tot sehen? Finde es selbst heraus. Er steht vor der Tür. John!? Ich hoffe du weißt dass ich tot bin. Du wirst mir helfen, ihnen Julika zu überreichen. Julika? Bist du verrückt? Nein, tot. Ich gehe da nicht wieder hin. Ich opfere ihnen Julika. Und du wirst mir dabei helfen.

10. Ich wusste nicht, dass man Tote durch eine Injektion lähmen kann, lacht Richard. Lach nur, giftet John. Liegst du bequem? Hast du Schmerzen? Wo ist Kristian, du Hund? Wo Kristian ist, kann dir jetzt egal sein. Ich werde dich beim lebendigen, oh entschuldige, beim toten Leibe sezieren. Glaubst du, Kristian will sie mit dir teilen? Was denn? Was mit mir teilen? Julika? Ach, welche Julika. Die Belohnung für Julika. Er wird sie foltern, bis sie hundertmal das Wort sagt, dann gehört sie ihnen. Und was hat Kristan davon? Wissen. Unendliches Wissen. Alles Wissen der größten Zivilisation, die jemals existierte. Es war vor 180000 Jahren, als sie den universellen Code entschlüsselten, als sie lernten, durch Aussprechen bestimmter Worte die Realität zu verändern. Keine Zauberei. Wissen. Das Gesetz hinter den Naturkonstanten. Würdest du nicht jedes erbärmliche Menschlein für dieses Wissen opfern? Opfern. Du willst sie doch auch opfern. Und wofür? Für das Überleben? Du bist doch schon tot, was für ein Überleben? Andererseits lebst du, einmal gestorben bedeutet nicht gleich tot. Nicht wahr!? Richtig. Ja, richtig. Wen hast du denn gesehen auf der anderen Seite? Vielleicht einen Bekannten von mir getroffen? Ja, sehr gut möglich. Aber nicht in dieser Form. Nicht als erbärmliches Menschlein. Als dieses... graue Ding... Erkennt man sich denn, wenn man so ein graues Ding ist? Viel besser als hier. Diese Dinger haben keine Körper. Sie sind Seelen. Je größer, um so mehr leiden sie. Oder andersrum. Der Kausalnexus ist dir nicht bekannt? Nein, leider nicht. Ich weiß nur, dass Größe und Leid zusammenhängen. Wie und warum weiß ich nicht. Mach mich wieder fit und lass uns Julika holen. Sie ist bestimmt nicht allein. Was auch immer du mit mir vor hast, stell dir vor, du könntest es mit jemandem tun, der jünger, zarter und lebendiger ist als ich. Überzeugt hast du mich nicht. Aber überredet. Verführt. Der Teufel sei mit dir! Und mit deinem Geiste. Beeil dich, Richard, Kristian ist ein harter Hund. Er darf nicht vor uns bei Julika ankommen.

11. Rache? Wofür? Warum geht das nicht in deinen Kopf? Ich will wissen. Und dafür brauche nichts als ein Menschenopfer. Stell dir vor, die Menschen in der Antike hätten von dieser Option Gebrauch machen können! Menschenopfer für kopernikanisches Weltbild, Elektrizität, Automobil... Warum kommt Julika nicht? Ich weiß es nicht. Ich kann dich auch einsperren, Kitiane. Du wirst dumpf und witzlos verhungern. Es sei denn du kratzt dir mit deinen Kitzelkrallen einen Weg in der Wand. Sind noch andere Mädchen hier? Nein. Du lügst.
Welch eine Überraschung, Julika. John? Hast du mich entführt? Nein, das war Richard. Sag jetzt das Wort. Ist es das, was du von mir willst? Jetzt schon. Ich bin tot. Hör auf mit dem Selbstmitleid, lacht Richard. Selbstmitwas!? Leid. Leid. Kennst du Leid? Weißt du, was das ist? Ken, zeig es ihm! Ken? Welcher Ken!? Der Bruder seiner Schwester, Richard.
Jetzt sind wir allein, Julika. Während Ken Richard häutet und auf einem Baum aufhängt, sagst du das Wort. Hier und jetzt. Für mich. Für dich? Was macht dich denn so besonders? Du weißt nicht, Julika, wie ich dich geliebt habe. Aber in der Hölle wirst du lernen, was Liebe bedeutet. 
 
Kitiane, sieh mir in die Augen. Es genügt ein sehr geringer Schmerz, um dir enormes Leid zuzufügen. Dabei will ich doch nur wissen, wo Julika ist. Wer ist da an der Tür? Dark enthüllt sein Gesicht. Ein vierzenjähriger Junge. Er kommt mit Lily. Das also war des Katers Kern, scherzt Kristian. Ich dachte, du bist schnell gealtert. Im Gegenteil. Forever young, wie man sieht. Angst macht zynisch, ich weiß. Setz dich. Lily, schneide durch. Mit einem seidenen Tuch hast du sie gefesselt. Das kommt dir zugute. Hast du sie berührt? Ich schwöre, nein! Kitiane bestätigt. Dabei hätte sie lügen können. Geh, Kristian. Es gibt andere Wege den Urgrund zu erforschen.

12. Hallo John. Ich habe Ken daneben aufgehängt. Wo ist Julika? Sie hat es gesagt, freut sich John. Ich bin jetzt frei. Schau mal nach draussen. Sie sind auf den Bäumen. Sie fressen sie auf. Man braucht keine Haut, um am Leben zu sein. Sie werde lange leiden. Was ist mit dir John? Warum macht es dir so viel aus, zu leiden? Andere ertragen es mit Würde, und du denkst an Flucht oder an Rache... Lily ist tot, nicht wahr? Sie hat das Wort gesagt, weil der Junge... Es gab nie einen Jungen. Lily ist in Sicherheit. Wo ist Julika?
Ein weißer Ballon steigt in die Lüfte. Eine Prinzessin. Nicht im Korb. Es gibt keinen Korb. Und kein Entkommen. Kannst du fliegen, giftet John. Du hattest nie eine Chance, stellt Dark fest. John weint. Hätte er nur die geringste Chance, hätte er für Julika alles getan. Er erhängt sich.

13. Kann es sei, alter Freund, dass du dir all diese Dinge nur einbildest, um deine Tat zu sühnen? Nein, ich bin sicher, dass es sie gibt. Warum verhüllst du dein Gesicht? Schämst du dich, dass du jünger aussiehst, als du bist? Was war mit dem Unfall? War es vielleicht kein Unfall? Wolltest du dich umbringen? Gegen eine Wand rasen? Ich erinnere mich nicht. Gehen wir es nochmal durch. Wer ist Julika? Das Mädchen, in das alle verknallt sind. Außer dir? Außer mir. Ist es nicht vielleicht andersrum? Vieles ist anderesrum, Doktor.
Er hat sich diesen John ausgedacht, werte Ingrid. In diesen John packt er all seine Schwächen und all seinen Schmerz. Für seine Person bleibt ein schwarzer Ritter der Nacht, ein unnahbarer geheimnisvoller Gesichtsloser. Der Junge denkt sich schreckliche Dinge aus, um das was er getan hat zu übermalen, aber seine Schuldgefühle werden nur noch größer. Neunzehnter Tag. Es gibt Fortschritte, Ingrid. Jetzt hat er Julika losgelassen. Sie ist, wie er sagt, in einem weißen Ballon in den Kosmos geflogen. Nicht im Korb. Im Ballon selbst. Zwanzigster Tag...

14. Er hat ihren Namen ein Wenig verändert und ihre Biographie neu erfunden. In seiner Phantasie Welt lebt sie und hießt Lily. Interessant, darf ich jetzt zu ihm? Wir haben ein Problem, Professor. Er ist heute Nacht verschwunden.
Du ließest John auch ein kleines Mädchen haben, nicht wahr? Ich? John hatte ein kleines Mädchen, Kristian. Sie hieß Emily. Kristian lacht. Sie hatte dunkles Haar, war klug, ihr hättest du etwas Unanständiges niemals zugetraut, nicht wahr? Kristian, warum sprichst du wie ein Arzt mit mir? Ich frage mich etwas anderes, mein schwarzer Freund. Warum bin ich nicht tot? Warum habe ich einen Unfall überlebt - genauso wie du, warum hast du mich nicht umgebracht, als ich Kitiane foltern wollte? Ken und Richard hängen auf den Bäumen, ich, der skrupellose Forscher, laufe frei herum. Wolltest du nicht schon immer ein Forscher sein? Parapsychologie? Das Unbekannte erforschen? Das, was es eigentlich gar nicht gibt? Mach mir einen Tee, Kristian. Aber natürlich. Oder habe ich eine Wahl?

15. Ballon? Sie ist bestimmt in dem Wald da vergraben. Die anderen Mädchen? Sie mussten für seinen Gewissenskonflikt herhalten. Vierzig Mann durchkämen jetzt den Wald nach Hinweisen. Vielleicht finden wir ja die Leiche...
Kommst du heute Abend nochmal raus? Nein. Meine Mutter sagt, ich soll Mathe lernen... Du warst gestern Abend nochmal draußen! Ja, mit deinem Bruder. Was ist denn?
Rhythmisch schaukelnd gehe ich in den Wald. Es ist spät, schon dunkel. Meine Augen sind zu. Ich mache sie auf, wenn ich im Wald bin. Ich mache die Augen auf. Ich gehe weiter. Da ist dieses Steingrab. Ich setzte mich dort hin. Ich schreie, kommt, ihr Bastarde, holt mich! Ich weiß nicht, zu wem ich da spreche. Ich bin wütend. Ich bin für Mädchen nicht interessant. Der erbärmlichste Loser ist ihnen sympathisch, aber nicht ich. Was mache ich nur falsch? Ich stehe auf und gehe. Angst? Fehlanzeige. Nur Verbitterung. Nur Enttäuschung. Ich gehe nach Hause und mache mir einen Tee.

16. Kommen Sie rein. Ach, du bist es wieder. Ruhe da unterm Tisch! Was führt dich zu mir, neugieriger kleiner Kristian? Bin ich der Junge? Ja, Junge.
Er sah also mich in den Spiegel. Ich bin der, der vierzehn ist, er müsste jetzt älter sein. Er hat mich immer Maus genannt und beschützt... Meine Söhne kannten ihn nicht. Aber das, was er angerichtet hat, kostete ihnen das Leben. Er hat es ausgelöst! Das ist doch real, oder? Meine Söhne sind real. Und sie sind tot. Nur weil ein Bastard sich irgendetwas ausdenkt, bedeutet das nicht, dass es nicht real sein kann. Es gibt nur einen kleinen aber feinen Unterschied - ausgedachte Geschichten enden immer gut, denn sie sind Selbsttherapie. Die Realität sieht anders aus. Ich werde Dan und Albert nie wieder sehen... Aber warum? Warum er sich all das ausdenkt? Um zu vergessen, um zu verdrängen. Er will es nicht wahrhaben. Ich habe meine Frau mit einer Sektretärin betrogen, sie hat mich verlassen. Ich erfand Tausend Entschuldigungen, aber getan ist getan. Deine Entschuldigungen interessieren mich nicht, sagte sie. Also redete ich mir ein, ich hätte sie verlassen. Aber das hier ist weitaus ernster.

17. Ja, der Mann hat Recht. Warum tun die Grauen ihm nichts? Er scheint der Einzige zu sein, dem sie nichts tun können. Kristian? Richard, du? Der Typ, der nicht wollte, dass du mit mir spielst, der sitzt dort im Café. Sieht nicht gut aus.
Lange nicht sehen, hm? Was willst du? Du kannst mir dein Gesicht ruhig zeigen. Dann sehe ich aber deins. Es ging dir nie um das Mädchen, nicht wahr? Stimmt. Ich wollte Jan von dir ablenken, so paranoid wie ich bin. Er ist mein kleiner Bruder. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass er mir alles nachmacht. Kristian dreht sich kurz um, der Typ ist weg. Kristian wird morgen 15.

18. Das entführte Mädchen wurde heute Nacht tot aus dem Fluss gefischt, heißt es früh in den Nachrichten. Die Identität der Leiche konnte nicht festgestellt werden, heißt es in den Abendnachrichten.

19. Der Junge schläft. Er ist neun, doch im Traum ist er 15. So alt wie sein vor einigen Jahren verstorbener Freund. Er liegt auf Kunstrasen in einer Halle. Es ist Winter. Er geht raus. Es ist Sommer. Die Sonne ist so kuschelig, es ist Abend. Er legt sich auf die Wiese. Das ist ein Basketballplatz mit weichem Kunstbelag. Ein grosser und breiter Mann, etwas dick, ruft nach dem Jungen. Es ist zehn Uhr morgens und alle sollen sich auf dem Platz in der Mitte vom Internatsgelände versammeln. Es fängt an zu regnen, ganz leise. Es ist Trauer, die da regnet. Es sind Tränen, die vom Himmel fallen. Alle versammeln sich. Hubschrauber kommen, schiessen mit grosskalibrigen automatischen Waffen in die Menge. Der Junge wacht nicht auf. Es ist real.

20. Dieser Kristian war der letzte, der das Wort kannte? Ja, Professor. Und sein Freund? Ist er nun tot oder nicht? Als wir das Massaker zelebrierten, war er nicht dabei. Er ist tot, und dann ist er doch nicht tot, und geistert immer wieder durch die Noosphäre. Gute Arbeit, lobt der Professor. Brennt zur Sicherheit den Wald nieder, lasst es wie Brandstiftung aussehen... Professor? Ja. Was ist mit dem Urgrund? Mit den grauen Löchern? Nun, sie sind nicht die ganze Zeit offen, im Gegenteil. Es gibt kritische Zeitfenster, wer weiß, was auf der anderen Seite in diesen unruhigen Zeiten passiert, da ist der Urgrund offen und das Wort kann graue Löcher öffnen. Für zehntausende von Jahren treten keine grauen Löcher auf, ich nenne das den schlafenden Urgrund...
Einen Vierfachen, keinen Doppelten. Danke. Wissen Sie, der Mann, der seine beiden Söhne an diese Wesen verlor, tut mir schon irgendwie Leid. Ich habe gestern vierzig Kinder niedergeschossen, aber das war ja in Ihrem Auftrag, Professor, und ich bin, wie Sie wissen, kein herzloser Mann. Dan und Albert waren doch Brüder? Cousins, lacht der Professor. Ich habe mich in letzter Zeit für ihren Vater ausgegeben, um herauszufinden, wer noch alles das Wort kennt. Die Geschichte kennen viele... Und jetzt, nachdem sie verfilmt wurde, auch das Wort! Ihre Vorgehensweise erscheint mir nicht logisch Professor. Laut lach der Professor auf. Alles fließt, sagt Heraklit. Ich wollte dem ein Ende setzen. Wer sind Sie!!? Nur eine graue Maus, mein Freund. Dark, so nennt er sich jetzt, ist ein Getriebener zwischen beiden Welten. Er sprach das Wort als Erster - in neuerer Zeit - hundertmal aus. Er ist für ewig dazu verdammt, eine Brücke zwischen unserer Welt und ihrer Welt zu sein. Auf seinen Gedanken bewegen wir uns fort. Durch ihn und in ihm und mit ihm kommen die grauen Wesen immer wieder, wenn einer das Wort hundertmal spricht. Ja, mein Freund, das Tor ist jetzt für immer offen. Aber da die Logik außer Kraft gesetzt ist, kann alles, was wir jetzt erleben, nur ein Produkt unserer Phantasie sein. In Gedanken können wir es nicht anderes als logisch fassen, um das was passiert uns erklären zu können, aber wir erklären nichts, wir denken aus, oder werden ausgedacht. Entschuldigen Sie, ich höre mir selbst gern beim Reden zu. Ich sollte jetzt aufhören. Einen Achtfachen bitte!

21. Jan, willst du das Wort wirklich wissen? Sag schon. Ich habs doch nur ausgedacht. Denk dir doch auch so ein Wort aus! Komm schon, Julian, sag es! Versprichst du mir, dass du mit Kens Schwester nicht mehr spielst? Wieso? Ich fühle mich in meiner Ehre gekränkt wenn mein Bruder mit einem Köter aus dieser Flittchenfamilie spielt. Ja dann scheiß doch auf diesen Köter! Ist eh dumm wie ein Spielzeug! Sag jetzt das Wort.
Und wenn es stimmt? Was? Dass sie kommen. Woher willst du es wissen, Julian? Hast du es ausprobiert? Pokerface, was Julian angeht. Er sagt seinem jüngeren Bruder nur: Aber mach es nicht. Wieso, denkt Jan, ich bin doch kein Angsthase.

22. Redered.

2009