LILY
1.
Das Mädchen: 13, dunkelblond, zierlich, langes Haar, ängstliche
Schritte. Setz dich, Mädchen. Ich warne dich, diese Dummheit kannst
du nur einmal begehen. Julika verwöhnt dich, nicht wahr? Warum
willst du hier weg? Nur bei Julika sind die Bedingungen deiner
Zartheit gerecht. Du versündigst dich an deiner Zartheit, wenn du zu
deiner Grossmutter ziehst. Warum willst du dich selbst zerstören?
Nur weil deine Mutter an deinem vierten Geburtstag Selbstmord beging
und dein Vater dich immer loswerden wollte? Ist doch gutgegangen.
Schau dich an. Schau Julika an - eine Prinzessin. So wie du.
2.
Nein, sie ist nicht so wie du, mein Kind. Sie ist eine verwöhnte
arrogante Göre, die mit 18 dieses verdammte Schloss geerbt hat, sei
sie auf ewig verflucht! - Gottzumteufel, fluchen Sie doch nicht im
Beisein ihrer Enkelin! - Lily, das ist Robert. Er passt hier auf die
Tiere auf.
3.
Lily und die Tiere. Dark wird sich freuen. Der Junge schreibt etwas
in sein Tagebuch, er hat eine schöne Schrift. Ein hübscher zarter
Junge, bewegt manchmal seine Hand zum Haar wie ein Mädchen. Lily hat
sich verliebt. Sie weiss es noch nicht. Es wird zu spät sein.
4.
Dark sitzt bei Julika auf der Veranda. Eine Kapuzze über dem Kopf,
sein Gesicht ist verhüllt. Julika will, dass er die schwarze Maske
runternimmt. Da ist aber nichts unter der Maske. Dark hat kein
Gesicht. Er wartet auf Lily. Er hatte sie ja gewarnt.
5.
Zwei Mädchen in Lilys Alter, ihre neuen Freundinnen. Sie sagen los,
fass da rein, es fühlt sich zwar widerlich an, aber fass unter den
Tisch, sei kein Feigling. Es beisst nicht, es ist kein Tier. Und
jetzt rate, was das ist. Festflüssig, staubig-feucht, formlos,
wahrscheinlich gelb oder grau. Der Junge hat alles gesehen.
6.
Lily spielt Ball. Der Junge sitzt auf einem grossen flachen Stein und
schreibt. Eine Katze setzt sich auf seinen Schoss. Er streichelt sie
zärtlich. Zärtlich sein zu können ist Luxus. Geht nur, wenn man
selber zart ist. Das weiss die Katze, und sie geniesst es.
7.
Jeden Abend, merkt Lily, geht der Junge zum Friedhof. Er war der
Liebling des Verstorbenen, der mit 15 an Liebeskummer verstarb. Lily
kennt die Geschichte nicht. Dark schon.
8.
Das ist das Tagebuch des Verstorbenen. Der Junge schreibt einfach
weiter. Er kämpft mit den Tränen, doch er unterliegt jeden Abend.
Er lässt sich nicht dazu herab stark zu sein, er bleibt schwach, ein
Anblick voller Würde und edler Trauer. Der Junge ist 13 wie Lily.
Vier Jahre sind seit dem Tod vergangen.
9.
Julika trauert um verlorene Schmerzen. Sie verwöhnt Mädchen, um sie
zu quälen, ein ewiger Kreislauf der reinen unbefleckten Liebe. Sie
kann die Mädchen nicht der Sünde überlassen, sie überlässt sie
dem Schmerz. Der Schmerz macht sie jedesmal schöner. Sie werden
empfindlicher, je mehr sie leiden. Lustschmerz. Extremer Schmerz. Die
dritte Art von Schmerzen, den dumpfen, den unästhetischen Schmerz
würde Julika niemals zufügen.
10.
Lily, sagt Dark zum Grabstein, wollte sich von Julika quälen lassen,
doch Julika wartete viel zu lange. Sie ist fast an Julikas Liebe
erstickt, sie wollte so sehr den Schmerz. Der Junge setzt sich dazu.
Ich habe keine Angst vor dir, sagt seine ruhige sanfte Stimme. Ich
weiss, sagt Dark und geht in die Nacht.
11.
Robert ist geistig sehr arm. Er spielt Lily Streiche, Lily zwingt
sich selbst zum Lachen, sie will den armen Kerl nicht beleidigen. Der
Junge sieht alles. Julika setzt sich auf dem Friedhof zu dem Jungen.
Kleiner, komm mit mir. Vergiss sie. Zu spät, sagt der Junge. Sie ist
mein Mädchen geworden.
12.
John will das Wort hundertmal sprechen. Für Julika. Sie ist
unfassbar schön, 19, unberührt. Willst du es wirklich tun? Seine
Freunde warnen ihn, er lässt davon ab. Aber er will es tun. Emily
tat es, da war sie neun. Und wurde nie wieder gesehen. Ausser von
Dark vielleicht. Ich bin doch kein Feigling, denkt sich John. Doch es
funktioniert nicht.
13.
Was liest du da? Fragt Lily den Jungen. Der Junge antwortet nicht.
Lily geht. Es ist egal, ob du es 200 oder 1000 mal aussprichst, liest
der Junge im Tagebuch. Hast du es hundertmal am Stück ausgesprochen,
ist es so weit. Hundertmal ohne Unterbrechung. Zu viel gibt es nicht.
Viele fragen sich, warum passiert nichts? Weil sich ständig ein
anderes Wort reinschmuggelt, unbewusst vielleicht, denn bei 80 fangen
sie an zu zittern, bei 90 sprechen sie das Wort so undeutlich aus,
dass es einem Abbruch gleichkommt. Es kann nicht zurückgenommen
werden, wenn es hundertmal ausgesprochen worden ist, das ist das
Problem.
14.
Er hätte Prinzessinen haben können, denkt Julika. Warum wollte er
Lily? Dark weiss es und schweigt. So wie der Grabstein schweigt. Lily
weint auf der Terrasse.Was ist los, fragt die Grossmutter. Lily sagt
nichts. Sie ist nie geliebt worden. Es ist ein Luxus, lieben zu
können.
15.
Hast du es getan? Hast du es wegen mir getan? Der Junge weint, es
regnet. Der Friedhof erfriert in der Kälte edler Tränen. John
klingelt an Julikas Tür, sie lässt ihn endlich rein. Zum ersten
Mal. Aber John freut sich nicht. Jemand hat es getan, weiss John. Wen
hat Julika dazu angestiftet?
16.
Lily tut sich immer mehr weh. Bald wird die Grossmutter merken, dass
sie es mit Absicht tut. John ist betrunken, er läuft vor ein Auto,
welches rechtzeitig bremst, und John ist bei Emilys Eltern. Er
durchsucht Emilys Zimmer, anstatt zu schlafen. Er nimmt Emilys Foto
mit. Ein kleines, sehr zierliches Mädchen mit langem dunklen Haar.
So ängstlich, dass sie eins mit der Angst war, und keine Angst mehr
hatte.
17.
John hört immer zu früh auf. Er ist 19, er hat ein Leben zu
verlieren. Bei 75 fangen seine Knie an zu zittern. Bei 85 fängt er
plötzlich an zu schreien. Er weiss, dass es kein Spiel ist. Er hätte
so gern Emily gerettet. Er redet sich ein, dass es nicht so schlimm
gewesen sein muss. Emily lebte schon immer in einer Traumwelt.
Wahrscheinlich hatte sie das Kommen der dunklen Eindringlinge gar
nicht bemerkt. Sie waren für Emily schon immer da, sagt sich John.
Die Wahrheit ist: Emilys Vater wollte ihn überfahren.
18.
Nein, John soll leiden. Er soll sich solange die Schuld geben, bis er
es tut. Er hat keinen schnellen Tod verdient. Weisst du, was das
Schlimmste für mich wäre, sagt der Grabstein zum Jungen. Wenn der
Engel den ich liebe sich selbst etwas antut oder antun lässt oder
verletzt wird oder... Der Regen unterbricht den Redefluss aus dem
Jenseits. John steht an der Tür, Emilys Vater lässt ihn rein, gibt
ihm etwas starkes zu trinken. Er ist von Johns Schuld besessen. John
ist das Lamm Gottes, dass hinwegnimmt die Sünde der Welt, John möge
sich erbarmen und die Schuld an Emilys Verschwinden auf sich nehmen.
Was wollte er damals von einem so jungen Mädchen? Nein, John wird
sich nicht erbarmen. Er erzählt es, und Emilys Vater schiesst sich
eine Kugel in den Kopf.
19.
Darks Stimme ertönt in Emilys Zimmer. Es ist Zeit, ruft er nach
John. Als Kind sah John dieselben graudunkelschwarzen Wesen. Er
wollte ihnen Emily wegnehmen. Das haben sie ihm nicht verziehen. Auf
dunklen Pfaden der grausamen Kausalität aus Freiheit lockten Sie
Emily in ihre Falle. Sie war ein Kind und hielt es für ein Spiel. Es
war kein Spiel.
20.
Der Doktor ist sehr besorgt, Lily sieht nicht gut aus. Sie liegt im
Bett und fragt nach dem Jungen. Der Doktor geht in den Wald, er
findet den Jungen auf einem grossen flachen Stein sitzen, er will,
dass der Junge mitkommt. Der Junge will nicht. Sie hat Dreck berührt.
Sie hat sich etwas antun lassen, was ihr nicht gefiel. Aber sie liebt
dich und wird ohne dich sterben, erwidert der Doktor. Was verstehen
Sie schon von Liebe, sagt der Junge und verschwindet in die Nacht.
21.
Etwas krabbelt unter Lilys Bett. Es riecht so grau bis dunkelschwarz,
Lily hat daran nie geglaubt. Julika sagte, ich kann es nicht
zulassen, dass ein Engel wie du in den Dreck zieht. Solange du ein
Engel bleibst, bleibst du im Reinen. Ich will kein Engel sein, sagt
Lily. Gut, sagt Julika. Sie schreibt ein Wort auf. Sag es hundertmal
ohne Unterbrechung durch ein anderes Wort und du kannst gehen wohin
du willst.
22.
Sie öffneten das leere Grab. Der Junge weint. Sein Freund hat es
getan, denkt der Junge. Wo ist er? Dark kann nicht weinen. Er hat
kein Gesicht. Der Grabstein ist ein Spiegel deiner Seele. Lilys
Eltern brennen in der Hölle, weil sie sie zeugten und nicht liebten.
Lily hat hohes Fieber. Die Hölle ist nicht real. Die Hölle ist eine
und dieselbe Person. Lily ist 22. Lily ist 13. Nach John Tagen bist
du für immer verschwunden. Keiner wird Emily finden. Der Junge
rennt. Der Regen schlägt Dellen in sein feines Gesicht. Er hat kein
Gesicht. In dieser Welt braucht man kein Gesicht. Robert ist eine
Kuhschlange. Er starrt den Jungen vom Dach an und kost die Türpfosten
mit seinen dunkleschwarzen Tentakeln. Eine alte Frau verwest im
Schaukelstuhl, sie ist seit drei Wochen tot. Lily ist bei einer
Leiche eingezogen. Der Junge will rein, doch John hält den Jungen
zurück. Du kannst nichts dafür, es war ihre Entscheidung. Zwang ist
eine Ausrede der Feiglinge. Alles geschieht freiwillig, Kleiner.
Schuld ist Opium des Gewissens. Wir sind nie am Schicksal der Anderen
Schuld. Aber wir wollen es sein. Wir ertragen den Gedanken nicht,
dass die die wir lieben sich freiwillig dreckig machen. Nein, nicht
um uns zu verletzen. Sie empfinden gar nichts für uns, wir sind
ihnen egal. Weder Liebe noch Hass, Kleiner. Keiner hat dich je
geliebt. Liebenkönnen ist Luxus. Dein Freund war kein Luxuswesen. Er
wollte dich lieben, aber er konnte nicht. Darum heisst er jetzt Dark
und kämpft im Auftrag der Hölle für das Gute.
Der
Junge schweigt und versteht. Geh zu Julika, sie wartet auf dich, sagt
John. Der Junge kann lieben, John kann nur verliebt sein. Er opfert
seine Selbstsucht und lässt seine Geliebte im Herzen los. Er spricht
das Wort aus und beginnt zu zählen.
Wenn
sie schon da sind, dauert es keine 22 Tage. Es dauert maximal 22
Tage, in der Regel kommen sie viel früher. Sie sind aus einer
anderen Welt, aber sie sind genauso neugierig wie wir. Sie können es
kaum erwarten. John sagt das Wort zum hundertsten Mal und geht ins
Haus. Die Blutspur führt ihn ins Badezimmer. Ein Wesen, ein Monster,
sehr gross, grau bis hellschwarz wickelt John in sich ein. Jetzt
ändert John seine Meinung, aber es ist zu spät. Er hätte Emily
vergessen können. Der Preis wäre nicht hoch gewesen. Nur ein
alkoholverseuchtes Unleben und ein elender Tod. Es ist zu spät.
Keine
Angst, Lily, sagt Dark. Willkommen auf der anderen Seite. Dein langes
Haar brauchst du nicht mehr. Und wozu die Haut. Sieh, wie dem grauen
Ding da dein Gesicht schmeckt. Sie lassen dir Herz und Hirn, das wird
ein schmerzreicher Prozess. Das dauert gefühlte vier Jahre, geht
vorbei wie im Flug. Ich will aufwachen, denkt Lily, doch das ist kein
Alptraum. Nein, denkt Lily, natürlich ist es ein Alptraum. Das alles
gibt es nicht. Das alles ist nicht real. Warum nicht? Warum soll es
weniger real sein, als der schleimige Geburtskanal, als die groben
Hände der Erwachsenen, als die Unterwerfung unter Zartheit
missbrauchenden Willen? Das ist nur die logische Fortsetzung deines
Falls, Engel. Hättest du deinen natürlichen Tod abgewartet, wärest
du trotzdem hier.
Ein
dunkelgraues Etwas bückt sich über einem Fotoalbum. Ein
hellschwarzes Etwas trinkt die Milch auf. Ein dunkelschwarzes Etwas
liest das Tagebuch zu Ende. Kindheit vergeht.
22
1.
Lagerfeuer, tiefste Nacht. Albert und Thomas, die beiden Magier aus
Johns Klasse. Sie sagen das Wort hundertmal am Stück und sind
enttäuscht. Nichts ist passiert. Nichts. Sie gehen in ihr Zelt. John
geht in den Wald. Am Ende der Nacht erlebte John mehr Schrecken, als
die beiden, die den Schrecken heraufbeschworen. John fürchtet sich
vor der Dunkelheit. Er betrinkt sich und geht in den Wald. Er
schreit, kommt und holt mich, ihr Bastarde!
2.
Der Junge schläft. Er ist neun, doch im Traum ist er 15. So alt wie
sein kürzlich verstorbener Freund. Er liegt auf Kunstrasen in einer
Halle. Es ist Winter. Er geht raus. Es ist Sommer. Die Sonne ist so
kuschelig, es ist Abend. Er legt sich auf die Wiese. Das ist ein
Basketballplatz mit weichem Kunstbelag. Ein grosser und breiter Mann,
etwas dick, ruft nach dem Jungen. Es ist zehn Uhr morgens und alle
sollen sich auf dem Platz in der Mitte vom Internatsgelände
versammeln. Es fängt an zu regnen, ganz leise. Es ist Trauer, die da
regnet. Es sind Tränen, die vom Himmel fallen. Alle versammeln sich.
Hubschrauber kommen, schiessen mit grosskalibrigen automatischen
Waffen in die Menge. Der Junge wacht schweissgebadet auf.
3.
Es war Selbstmord. Sein Freund wird begraben. Der Junge weint nicht,
es ist ihm egal. Es ist eine Erinnerung, die er nicht mehr los wird.
Erst später erkennt er, was ihm dieser Freund wirklich bedeutet hat.
Er findet in den Notizbüchern des Verstorbenen eine Addresse. Er
verlässt sein Zuhause und zieht bei einem Fremden ein. Der Mann ist
79 und topfit. Er ist Marathonläufer. Er hat eine Enkelin.
4.
Das unnahbarste und arroganteste Mädchen der Schule heisst Julika.
Sie ist so schön, dass jeder Junge nachts von iht träumt. Sie ist
15, stolziert auf hohen Absätzen durch die Schule, ist stets
glamourös angezogen. So edel. Eher eine Prinzessin als ein Luder.
Sie ist mehr als bloss Jungfrau. Keiner hat sie je geküsst. Narziss
war gestern.
5.
Sie weint leiser als ein Herz stirbt. Sie zeigt es nicht, doch sie
weiss, dass John weiss, wie sehr sie leidet. Sie geniesst es, sich
nicht trösten zu lassen. Sie bricht Johns Herz nicht, sie reisst es
in Stücke. Albert kann John mit albernen Spässen aufheitern, aber
Nachts bleibt John allein. Eine Hölle sind diese Nächte. Albert
plant etwas Grosses diese Nacht. Er will die Schule in Brand stecken.
John würde die ganze Welt in Brand stecken, aber er hat zu viel
Angst, dass er Julika nie wieder sieht. Er redet es Albert aus.
6.
Thomas ist schwer erkrankt. Die Ärzte können nichts feststellen,
sie sagen, mit dem Burschen sei alles in Ordnung. Albert und John
besuchen ihn im Krankenhaus. Thomas redet wirres Zeug. Wisst ihr
noch, dieser Typ, der sich umgebracht hat, er hatte doch dieses Ding
dabei? Was für ein Ding? Na dieses Ding aus dem Wald. Eine
Audiokassette oder eine CD oder ein Kalender, ich weiss nicht was es
war. Da stand jedenfalls die Anleitung drin. Ich will es haben.
Albert beginnt zu scherzen, Thomas beginnt ihn zu würgen. Hol mir
dieses Ding, es war deine Schuld! Was, denkt John, was war Alberts
Schuld?
7.
Ich glaube er glaubt, in dem Buch oder Heft oder was er meint würde
eine Formel stehen, die das Wort neutralisiert. Was für ein Wort?
Das Wort. Albert, du glaubst doch nicht diesen Schwachsinn! Aber
dieser verdammte Feigling glaubt plötzlich daran. Er hatte drei
Nächte in Folge miese Träume. Er führt es auf dieses Wort zurück.
Wie bescheuert.
8.
Du suchst im Keller, ich gehe zu dem kleinen Jungen. Nein, ich gehe
zu dem Jungen, sagt John. Er hat Angst vor dem Keller. Albert findet
nichts, der Junge hat nur dieses Tagebuch. John nimmt es nach Hause
und liest es durch. Das Wort wird mit keinem Wort erwähnt.
Enttäuscht gibt er das Tagebuch dem Jungen zurück. Der Junge
beginnt zu weinen. Er ist nicht tot, tröstet ihn John. Schreib in
sein Tagebuch, und er wird bei dir sein. Warum war ich so gemein zu
ihm, fragt der Junge. Manchmal können wir Liebe nicht ertragen, sagt
John. Julika weiss, wovon er spricht.
9.
Albert ist nicht in der Schule erschienen. John weiss, wo er den
Klassenclown findet. Er geht in der Mitte der Englischstunde ins
Reich der Pissoire und kehrt nicht zurück. Im Krankenhaus versucht
Albert, den schreienden Thomas zu beruhigen. Wovor hat dieser Angeber
plötzlich solche Angst? Wie ihr habt nichts gefunden? Ist euch
überhaupt klar, worum es hier geht? Mein Nachbar ist letzte Nacht
verschwunden. Er lag dort hinten auf dem Bett mit gebrochenen Beinen.
Er wollte sich das Leben nehmen, weil er die Alpträume nicht mehr
ertragen konnte. Ich versprach ihm hoch und heilig, dieses verdammte
Ding zu finden. Ich habe gesehen, wie sie ihn geholt haben! Komm,
Albert, rufen wir den Arzt und verschwinden wir, sagt John. Er ist
nicht herzlos. Er will nur Albert retten. Er kennt sich mit dem Virus
Angst bestens aus.
10.
Der Arzt wiegelt ab, ach was, der Kerl ist doch nicht verschwunden,
er wurde in eine Reha-Klinik verlegt. In welche, fragt John. Seid ihr
mit ihm verwandt, fragt der Arzt. Er ist mein Cousin, lügt Albert.
Der Arzt weiss, dass Albert lügt. Ich will ehrlich zu dir sein. Ich
weiss nicht was dein Freund hat. Wir haben ihn mehrfach untersucht.
Mit ihm ist alles in Ordnung. Er bildet sich nur etwas ein.
11.
Ich hatte als Kind grosse Angst vor ihnen. Sie kommen aus der
Dunkelheit. Du verriegelst dein Zimmer, gehst sicher, dass da keiner
ist, und sie sind trotzdem da. Sie kommen aus dem Nichts. Nein, aus
der Dunkelheit, korrigiert ihn das Mädchen. Die Dunkelheit ist nicht
nichts.
12.
Ich werde heute Nacht auf Emily aufpassen, sagt John. Emilys Vater
freut sich. Er fährt seine vor drei Jahren bei einem Zugunglück
verunglückte Frau betrügen. John, flüstert Emily, komm in mein
Bett. Sie sind still, beide in dicken Nachtanzügen, es ist etwas
kalt in Emilys Zimmer. John, siehst du, unter dem Schreibtisch. Ich
sehe nichts. Sieh genau hin. Emily, das ist nicht real. Aber ich sehe
sie! Siehst du sie denn nicht!?
13.
John hat die ganze Nacht hindurch kein Auge zugemacht, er hatte
Angst, sie würden Emily holen. Er sieht sie nicht mehr, er hat sie
auch in dieser Nacht nicht gesehen. Aber wenn sie Emily holen, sind
logische Annahmen nichts als faule Ausreden. Der Arzt untersucht
Emily. Mit deiner Schwester ist alles in Ordnung, sagt der Arzt. Ist
sie nicht. John wünscht, sie wäre es.
14.
Emily, kennst du diesen Jungen? Nein, aber ich habe sein Tagebuch
gefunden. Und was dann? Dann habe ich es ihm zurückgegeben. Emily
lacht. Warum lachst du, fragt John. Das hier habe ich behalten. Ein
gefaltetes Blatt Papier. John entfaltet es. Er lacht. Emilys Vater
ist wieder da. John geht zum Krankenhaus, ein langer Spaziergang, er
denkt die ganze Zeit an Julika. Er will sie endlich behühren. Ihre
Hand halten, nur für eine Sekunde. Er träumt vor sich hin. Albert
sieht nicht gut aus. Er muss ständig seinen Magen oral entleeren. Er
ist blass wie eine Leiche. Thomas ist verschwunden!
15.
Wir übernachten in der Bibliothek. Bist du dir sicher, John? John
ist sich überhaupt nicht sicher. Als er sie zum ersten Mal sah, da
war er in einer Bibliothek. Die anderen Kinder hörten wie die
Erzieherin ein Märchen vorlas, John irrte zwischen den
Bücherschränken umher. In einer dunklen Ecke sah er etwas krabbeln,
so gross wie ein Hund vielleicht. Aber es sah nicht aus wie ein Tier.
Es sah nach nichts aus, es war nur grau. Am selben Abend sah er noch
so ein Ding, und von da an sah er sie jeden Tag. Auf einmal waren sie
nicht mehr da. John war neun, als er endlich die Nächte
durchschlafen konnte.
Albert,
hast du von diesem Offizier gehört, der seine kleine Tochter
verkaufen wollte? Ja, es stand in der Zeitung. Eine Sekte wollte ihm
300 Riesen für sie geben.
Albert,
wie war nochmal ihr Name? Laura oder so. Nein, kürzer. Aber etwas
mit L.
16.
Das tut gut. Ich hätte es bei mir im Zimmer nicht ausgehalten. Sie
kriechen dort förmlich aus den Wänden! Steh auf, Albert. Los. Sport
fängt gleich an. Sag mal, dann haben wir die ersten 6 Stunden
verschlafen? Wird wohl so sein.
John
gewann das Wettrennen, weil Julika da war. Gewonnen! Nein, nicht das
sinnlose Wettrennen, ein Lächeln von Julika. Das Mädchen mit den
weissen seidenen Handschuhen. Ich wäre sofort runtergerannt, denkt
John. Schiller verstand aber auch gar nichts von Romantik. Sie hat
ihm doch eine perfekte Chance gegeben, seine Liebe zu beweisen! John
wünscht, Julika hätte so etwas mit ihm getan.
Spät
am Abend ruft Albert an. Sie haben Blut gefunden, jede Menge Blut,
aber keine Leiche. Das ganze Badezimmer war voller Blut. Aber die
Wohnung war doch verriegelt. Das Schloss wurde ausgewechselt. Wie
konnte er sich dort die Plusadern aufschneiden, wenn er gar nicht
dort war? Seine Mutter denkt, wir hätten etwas damit zu tun.
17.
Der Zettel, beinahe vergessen. Wer hat dieses wirre Zeug da
hingekritzelt? Ist Albert überhaupt noch da, oder haben sie ihn
bereits geholt? John ist erleichtert. Er will glauben, dass Thomas
sich irgendwo versteckt, aber er glaubt Albert. Wer auch immer diesen
Zettel geschrieben hat, er wollte jemanden damit warnen. Dass es
nämlich kein Spiel ist. Aber es steht ja drauf, wie man es
rückgängig macht. Komm, ich hab einen Tipp bekommen.
18.
Wer ist da? Der alte Mann zieht eine lange Flinte und gibt einen
Warnschuss ab. Sind sie Mr.Nay? Ja, ich bin Mr.Nay. Was wollt ihr
kleinen Diebe? Wir sind nicht hier, um Sie zu bestehlen, Sir. Aber
vielleicht wissen Sie, wer das hier geschrieben hat. Albert
überreicht ihm den Zettel. Woher habt ihr das!? Gefunden, Sir. Lügt
mich nicht an, ihr kleinen Diebe! Kann man es rückgängig machen,
Sir? Der Alte lacht. Rückgängig machen? Was glaubt ihr was das hier
ist? Ein Spiel!? Wir glauben, ehrlich gesagt, dass das ein böser
Scherz ist, lügt John. Ein Scherz? Der Alte lacht. Wie lange ist es
her? Wie lange ist was... her.
19.
Der Alte hat gesagt, nach 22 Tagen. Nein, der Alte hat gesagt,
spätestens nach 22 Tagen. Welcher Tag ist heute? Heute ist Dienstag.
Dienstag. Wenn wir den Freitag überleben, wissen wir, dass es ein
Scherz war. Wenn ich den Freitag überlebe, John. Du hast nicht
mitgemacht.
Du
zitterst. Mir geht es gut. Albert, es geht dir nicht gut. Wie spät
ist es? Es ist acht. 24, nochmal 24, nochmal... 76 Stunden. Dann ist
es vorbei. Meinst du ich schaffe es, so lange wach zu bleiben?
20.
Sie dachte, Julika wäre in ihn verliebt. Sie wusste, dass Julika ihr
weit überlegen war. Eine Mundwinkelbewegung und er hätte ihr
gehört. Sie verführte ihn. Sie war 14, wie Julika. Sie dachte,
Julika wollte den Jungen. Nein. Julika wollte sie. Julika war in sie
verliebt. Seit der fünften Klasse. Mit ihrer Unschuld starb auch
Julikas Herz.
Ich
glaube, Julika weint. John, du glaubst, Julika weint, ja? Und!? Wie
und? Was wie und!? Wie stellst fu es dir denn vor? Einfach mal
hingehen und fragen, Julika, warum weinst du? Keiner traut sich sie
anzusprechen. Nicht einmal Bob. Bob, die anabole Kraftmaschine aus
der 12. Noch geht es ihm gut. Noch will er Mister Universum werden.
Bald wird er mit einem Hirnschaden Schafe hüten.
21.
Ich wünschte, ich hätte sie gestern angesprochen. Du mieses
eifersüchtiges Arschloch. John, du hättest kein Wort rausgekriegt.
Das wäre ganz schön dämlich. Anstatt sie zu trösten, hättest du
nur ihr Mitleid erregt. Das Peinlichste, was überhaupt passieren
kann. Warum hat sie denn geweint? Vor ziemlich genau einem Jahr war
so ein Schulfest. Da ist viel passiert. Vielleicht ist etwas davon,
was damals passiert ist, mit Julika passiert. Denkst du, jemand hat
sie.. waltigt? Nein. Unmöglich. Nicht Julika.
Es
ist einfach so, dass man diesem Mädchen nichts antun kann. Man wird
schwach in ihrem Beisein. Sanft und zahm. Das passiert jedem.
Ich
hab dem Mädchen, das vor einer Stunde angerufen hat, gesagt, dass du
schläfst. Welches Mädchen? Ein sehr junges Mädchen. Johns
Grossmutter konnte es nicht ahnen. War nicht ihre Schuld, wird man
sagen. Und über Emilys Verschwinden wird man in eine ganz andere
Richtung ermitteln.
22.
Neun Stunden! Albert sieht erschöpft aus. Er schläft immer wieder
ein. Ich bleibe bei dir, sagt John. Nein. Tut er nicht. Emilys Vater
hat angerufen. Emily ist verschwunden. Ob John sie gesehen hat? John
rennt hin. Alles steht Kopf. Die Polizei macht sich wichtig. Da sie
nichts tun kann, verhaftet sie John. Das Verhör ist gegen
Mitternacht vorbei. John geht zu Fuss. Er will noch bei Albert
vorbeischauen. Hunde nagen im Garten an einem Bein. John rennt ins
offene Haus - Alberts Eltern sind bei den Nachbarn, sie grillen
Fleisch und trinken Bier. Albert? Albert!? Albert!!?
...Und
seidem habe ich Albert nie wieder gesehen. Und Thomas? Auch Thomas
nicht. Und das kleine Mädchen? Sie hiess Emily. Eine leise Träne
fällt ins Bierglas. John schüttelt mit dem Kopf. Kopf hoch, Junge,
ermutigt ihn Ian. Kennst du diese Mieze da? Aber ja! Das ist Julika!
Das Schulfest war ohne Zwischenfälle zu Ende gegangen. Die, die
Julika das Herz brach, starb an einer Überdosis. Wovon auch immer.
Emily wäre in einer Woche 12 geworden. Im Radio hörte John von der
Verhaftung eines Offiziers. Er soll in Kinderhandel verwickelt worden
sein. Er hinterlässt eine elfjährige Tochter.
IAN
1.
Krankenhaus, Schule, Internat, Parkhaus, wissenschaftliches Labor,
Kaufhaus, Wartezimmer, Sporthalle, wieder Krankenhaus, oder doch ein
Labor? John schleppt sich nur quälend voran, dabei will er doch
rennen. Er fragt alle nach Emily, keiner kennt sie. Endlich ist der
endlose enge Gang vorbei und John riecht wieder frische Abendluft. Da
stehen Mädchen und rauchen, John geht hin. Kennt ihr Emily, fragt
John. Er schaut runter und sieht die Beine der Mädchen, verkohlte
Knochen. Ein kleines Mädchen ist auch dabei, ihr fehlen zwar die
Haare auf dem Kopf, ihr Gesicht ist eine hässliche Fratze, ansonsten
ist es Emily.
2.
John ist bei Ian eingezogen, er wohnt auf dem Dachboden. Er kann
nicht zurück nach Hause, er würde seine Grossmutter töten. Hätte
dieser Köter doch an dem Tag gesagt, was Emily wollte. Ja, er hätte
es nicht verhindern können. Aber er hätte sie bis zuletzt in seinen
Armen festgehalten. Gut, sie hätten ihn vielleicht mitgenommen. So
ist es viel schlimmer. Das, was wirklich passiert, ist immer das
Schlimmste. Du musst nur die Kunst beherrschen, es sofort als das
Schlimmste zu erkennen. Nicht um es zu verhindern. Um es nicht erst
im Nachhinein feststellen zu müssen.
3.
John sieht seine Grossmutter in den Träumen oft als Köter. Ein
alter Hund, der ständig an einem halbverwesten Bein nagt. Er geht zu
ihr hin und sagt, tut mir leid, dass ich dich gern getötet hätte,
aber ich hätte dich gern getötet. So gern.
Ian,
mach nicht auf. Es ist spät. David, das ist Johns Grossmutter. John
kommt runter. Seine Grossmutter bricht in Tränen aus. Ich wollte dir
nur sagen, dass das Mädchen damals sagte, ich soll dir sagen, dass
sie dich lieb hat.
4.
Wie lange war ich weg? Es ist zwölf Uhr Mittags. Wie geht es..
Deiner Grossmutter geht es gut. Schön es zu hören, sagt John und
schweigt. Er will seine Grossmutter nicht mehr töten. Nur sich
selbst.
5.
David zieht für die Dauer des Experiments bei mir ein, sagt Ian. Was
für ein Experiment, fragt John. Ein Selbstversuch. Es geht um
Parapsychologie...
6.
Tut mir Leid, John. Aber du warst dabei, als sie verschwunden sind.
Darum haben wir dir nichts davon erzählt. Wisst ihr denn überhaupt,
was euch erwartet, weist John David zurecht. Wir wissen es ganz
genau, triumphiert Ian. Und wir werden beweisen, dass die ganze Sache
ein übler Scherz gewesen ist. Hast du gut geschlafen, David? Ja. Der
Traum war sehr feucht. Ian lacht. Und was mich angeht, ich schlafe
wie ein Toter. Bald bist du ein Toter, denkt John.
7.
Sie haben sich seit der Grundschule mit Magie beschäftigt.
Irgendwann sind sie einfach durchgedreht. Und sich selbst umgebracht,
unterbricht John. Ich nehme an, die Frage war rhetorisch, so Ian.
Merkst du nicht, wie du dir die Realität zurecht machst? Hast du
schon etwas vom Konstruktivismus gehört? Wir tun es ununterbrochen,
John. Wir glauben, was wir glauben wollen. Ich will diesen Mist hier
nicht glauben, und, den wievielten haben wir... in 15 Tagen werden
wir hier sitzen und darüber lachen.
8.
Es ist Zeit für eine Beerdigung, sagt Ian. Richtig, kichert David.
Kommst du mit, John? Von mir aus. Ian und David gehen jeden Monat an
einem vorher gewürfelten Tag zur Beerdigung. Jeden Tag wird jemand
beerdigt. Heute ein Mädchen, das die drei flüchtig aus der Schule
kannten. Ein unscheinbares Mädchen. An einer Überdosis gestorben.
Wovon auch immer. Guck, da mit dem verhüllten Gesicht, meinst du,
das ist Julika? Nein... nein, das ist nicht Julika. Das ist sogar ein
Typ. Hey, warte! John rennt dem im Nebel Verschwindenden hinterher.
Und!? Sieht aus, als ob da keiner war. Willst du sagen, wir hätten
uns alle drei denselben Typen am selben Ort zur selben Zeit
eingebildet? Unmöglich. Dann war er halt da.
9.
Ian schläft nicht. Es ist etwas Anderes. John setzt sich zu ihm an
den Kamin. Ich glaube, er wollte uns warnen. Weisst du, was du da
redest!? Warnen? Wir haben es bereits getan! Entschuldige. War nur
ein Scherz, Mann! Glaubst du etwa, ich glaube jetzt an diesen
Hokuspokus bloss weil ich einen mysteriösen Typen gesehen habe?
10.
David, hast du gut geschlafen? Nein. Ich auch nicht. Lag wohl am
Wetter oder so. John kann sich das Lachen nicht verkneifen. Ist das
noch eure Überzeugung, oder war das eine Durchhalteparole? Ian
lacht. Beides. Was mich angeht, ich habe an ein Mädchen gedacht.
Julika? Du Hellseher! Du Zyniker.
11.
Pass auf: Ich gehe zu Julika und sage... Nein, Ian. Du bleibst mit
offenem Mund stehen, weiss John. Zwei Stunden später auf dem
Schulhof. Und? Du bist wirklich ein Hellseher.
12.
Zwölfter Tag. Die Stimmung ist gut. Das Experiment geht in die
Endphase, diktiert Ian. Endphase? Schon jetzt? Dann diktier du.
Meinst du wir werden verschwinden wie all die Anderen? David, sei
kein Idiot. Niemand wird verschwinden. Ich will nur ein Andenken
haben. Für später, zum Lachen.
13.
Prinzessin, es gehört dir! Ein hochmodernes Schloss. Nur für
Julika. Der Alte vermacht ihr alles was er hat. Sie wird nächstes
Jahr 18. Er wird nächstes Jahr sterben. Er hat Krebs. Julika hat das
Schloss. Sie wird lange damit nichts anfangen können, bis ein sehr
junges Mädchen sich in sie verliebt.
14.
Ian sitzt am Kamin. Er ist nachdenklich geworden. Ich glaube, David
hat was. Was hat er, fragt John. Ich glaube, er hat nichts. Aber er
bildet sich etwas ein. Weisst du, wovor ich Angst habe? Dass wir
durchdrehen. Dass wir in einer Woche daran glauben und durchdrehen.
Dabei weiss ich ganz genau, dass da nichts ist. Alles nur Einbildung.
Die Muster auf dem Teppich fangen an mich zu gruseln. Das Bild dort
an der Wand, siehst du? Es ist eine Landschaft, aber ich glaube, es
starrt mich die ganze Zeit an.
15.
Durch wilde Schreie wird Ian aus dem Schlaf gerissen. David!? David
kämpft mit etwas Unsichtbarem auf dem Bett, er versucht, es
wegzustossen. Ian schüttelt ihn. David! Wach auf!! Doch David sagt
dieses Wort, nur es klingt jetzt anders. Es sprcht es andersrum aus.
Seine Augen starren in eine fremde Welt hinein. Er sieht
wahrschenlich grauenvolle Dinge.
John,
wo warst du in der Nacht? Bin spazierengegangen. Das Schloss dort
oben. Einmal darfst du raten, wem es jetzt gehört. Julika? Du
Hellseher. Ian müsste jetzt lachen, doch ihm ist das Lachen
vergangen. Erzähl mir von Emily, flüstert er.
16.
Was machst du, David? Dieses Bild bleibt da hängen. Immer wenn ich
vor dem Computer sitze, habe ich das Gefühl, dass hinter meinem
Rücken jemand ist, der mich die ganze Zeit anstarrt. Aber keine
menschliche Person. Ich weiss, ich bilde es mir nur ein, aber, David,
diktier du weiter.
John
wandert auf dem Friedhof hin und her, er sucht den Grabstein. Als er
ihn findet, sitzt dort der Junge, er ist etwas grösser geworden,
aber immer noch so zierlich. Ein zerbrechlicher Junge. Und eine
dunkle Gestalt, die neben ihm sitzt, John sieht und schnell
verschwindet.
17.
Ich habe keine Angst, dass sie mich holen. Ich habe nur Angst,
durchzudrehen. Sie existieren nicht. Und wenn doch? David! Zum
Teufel, hast du mich erschreckt. Wir sind nicht in der Phase des
Experiments, in der solche Scherze angebracht wären. Hör auf, dich
gepflegt auszudrücken, Ian. Es ist sowieso vorbei. David zieht sein
Hemd aus. Sein Rücken ist mit grauem Ausschlag bedeckt. In der
Nacht, da spüre ich, wie die verdammten Monster sich in meinen
Körper hinein fressen.
18.
Wir können das Experiment nicht abbrechen! Das war euch von Anfang
an klar. Die Eulen fliegen schon wieder nach Athen, nicht wahr, John?
Hilf mir, David zu beruhigen, anstatt Moral zu predigen! John hilft
Ian, David festzuhalten. Hier, trink. Was ist los? David, was ist
los? Sie fressen meine Organe, das ist los.
19.
Ruf den Krankenwagen.
20.
Wo warst du, John? Ich hab mir das Schloss von Aussen angesehen. Ich
wünschte, ich könnte drin wohnen. Mit Julika. Ian lächelt. Hat er
lange nicht mehr getan. Der Arzt hat angerufen. David geht es gut. Es
war alles nur Einbildng. Aber ich frage mich, wie es hat nur
Einbildung sein können, wenn wir beide es gesehen haben? Du hast
beim Experiment nicht mitgemacht, aber du hast es auch gesehen!
21.
Ein Foto segelt vom verstaubten Regal durch die Lüfte. John fängt
es auf. Ian, wer ist dieses Mädchen? Dieses Mädchen... warum fragst
du? Weil es dasselbe Mädchen ist, das vor zwei Wochen beigesetzt
wurde. Bei-gesetzt. Was ist das denn für ein Wort, ziert sich Ian.
Was hast du mit diesem Mädchen zu tun? Nichts, ich schwöre dir! Ich
hab mit ihr nur geschlafen.
Wieso
fahren wir zu David? Der Arzt sagt, er ist verschwunden. Er hatte
mich noch gefragt, ob er vielleicht hier angekommen ist. Was zitterst
du so, Ian? Er ist wahrscheinlich durchgedreht und hat sich unter
irgendeinem Bett versteckt.
Er
ist nicht da. Was machen wir? Beruhige dich, Ian. Wir gehen zurück
und sehen nach. Das Mädchen, über das wir vorhin gesprochen haben,
wie lange hast du sie gekannt? Hast du mit Julika darüber
gesprochen!? War das Julikas Mädchen!!? Lass uns später darüber
reden. Übermorgen, ja?
22.
Jetzt sitzt du da, Ian, und es wird genau das passieren, wovor du
Angst hattest. John? Verdammt, du hast mich angekettet! Schöne
Landschaft, findest du nicht? Komm, nimm dieses Bild von der Wand.
Ich tu was du willst, aber nimm es von der Wand! So, du tust was ich
will!? Ja, verdammt! Ich will... Sag schon, was willst du! Was!!? Ich
will... Ich will, dass du dieses Mädchen nicht fickst!!! Komm schon.
Du weisst genau, dass das unmöglich ist. Passiert ist passiert. Ihr
habe ihr den Kopf verdreht. Gut, ich hab etwas mit Drogen
nachgeholfen. Ich hab ihr Halluzinogene in den Drink gemischt und sie
dann vor Aliens gerettet. Wohin gehst du? John? John!? Du lässt mich
hier doch nicht allein!? John!!?
Ihre
Leichen wurden nie gefunden. Lily zog bei Julika ein.
DARK
1.
Ein Skelett, aufgehägt an einem überlaufenden Fass mit zerebralen
Exkrementen. Hier tauchen die graudunkelschwarzen Wesen in eure
Gedanken ein. Der Junge ist bei Julika, nehme ich an? Gut. Du kannst
ja nicht mehr sprechen, hab ich vergessen. Viel Spass bei deinen
Qualen, John. Julika scheint es tatsächlich wert zu sein. Warte,
sagt John mit Lilys Stimme. Du lernst schneller, als die Anderen,
stellt Dark fest. Das Gesicht ist schon weg, jetzt beginnen sie an
ihrem Hals zu nagen. Du hast nicht viel Zeit. Warum du nicht, fragt
John. Warum ich nicht einer von ihnen bin, so wie du bald einer sein
wirst? Ja. Als sie mich holen wollten, hatte ich keine Angst. Ich
zerriss Tausende von ihnen mit blossen Händen. Mein Zorn war
grenzenlos. Ich liebte, war aber kein zur Liebe bestimmtes Wesen.
Nein, ich hatte keine Angst. Nur Zorn. Als sie mich endlich hatten,
war keiner da, der mich fressen konnte. Ich habe die ganze Kolonie
vernichtet. Die anderen kamen, es waren Zehntausende. Sie schmiegten
sich an meine Füsse, sie murrten, und sie taten mir nichts. Ihre
Welt ist klein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie klein sie ist.
Stell dir vor, du müsstest auf Ians Dachboden mit 1000 Menschen
wohnen. Nackt und dicht aneinander gepresst. Ihr müsst eure Atemzeit
koordinieren um nicht zu ersticken. Atmen 500 ein, atmen 500 aus.
Hustet einer, gibt es Chaos, viele kriegen keine Luft. Als Mensch
würde man ersticken. Das Problem dieser Wesen ist, dass sie nicht
ersticken können. Sie sind extrem leidensfähig, halten alles aus.
Ausser sie kommen in unsere Welt und ein liebeszorniger Bastard
reisst sie in der Luft auseinander. Tun nicht viele. Ich war der
erste. Lilys Stimme ist schwach, ihr Mund artikuliert nicht mehr, die
Luftzufuhr ist fast unterbrochen. Warum hast du dann kein Gesicht?
Das sind John letzte Worte. Kein frischer menschlicher Körper wird
mehr eingeliefert, Johns Gedanken verstummen. Dark macht sich auf den
Weg.
2.
Das Gesicht habe ich mir selbst abgeschnitten, sagt Dark. Ich habe
mir die Haut abgezogen und sie seinem kalten Herz geopfert. Dann
sprach ich das Wort hundertmal aus und richtete ein fuchtbares
Massaker unter diesen Mäuschen an. Ja, ich nenne sie Mäuschen. Sie
sind physisch betrachtet furchtbar schwach und biegsam. Aber niemand
ist so nihilistisch, sie physisch zu betrachten. Julika unterbricht
ihn. Wie geht es John? Er ist noch nicht so weit. Aber er hat es für
dich getan. Julika lacht. Und er hat es sogleich bereut, als es so
weit war. Dark nickt. Aber er zieht es durch. Dein Mitleid ist
rührend. Dark steht auf, Julika hält ihn am Ärmel fest. Was hast
du in diesem Jungen gesehen? Das, was du in dein Mädchen
hineinprojiziert hast, sagt Dark. Ist er das? Ja. Der Junge ist
absolut rein. Ich glaube nicht daran, sagt Julika. Warum hat er dir
all das angetan? Es war nicht er. Es war die Dummheit eines
selbstsüchtigen pubertierenden Bengels. Ich war nicht gut genug für
ihn, aber ich hielt mich für gut genug. Ich bewundere dich, sagt
Julika. Vergib ihr, und es wird dir vergeben. Ich werde es versuchen.
Und was ist mit Ian? Julika wird noch blasser als sie ohnehin schon
ist. Ian hat es nie bereut. Es hat ihm nie Leid getan. LEID,
verstehst du? Ich kann keinem vergeben, der sich seiner Schuld nicht
bewusst ist. Sie war es, und sie starb an ihrer Schuld. Ich konnte
ihr nicht vergeben. Julika weint. Dark verschwindet. Der Junge nimmt
Julika an der Hand und führt sie zurück ins Schloss.
3.
Also, in der Hölle ist sie nicht, sagt Mr.Nay, ein Seher. Das ist
gut. Ich werde es Julika sagen. Wie heisst du, Kleiner? Mein Name
gehört Dark. Der Junge kommt zurück, sie kuscheln die ganze Nacht.
Julikas Herz ist jetzt frei, und ein neues Mädchen zieht morgen bei
ihr ein. Celine.
4.
Eine Uhr höre ich ticken. Jemand tat es wieder. Dark erwidert dem
vorwurfsvollen Blick des Sehers. Ich habe nichts damit zu zun, sagt
er. Warum tust du es? Warum hast du es all die Zeit getan? Wieso
stiftest du Kinder zu diesem Spiel an? Mr.Nay, Sie müssen sich in
die Lage dieser Wesen hineinversetzen. Sie leben in einer Welt, die
so klein ist, dass wir Menschen uns das nicht vorstellen können. Sie
haben ein grosses Haus im weiten Feld, Sie sehen jeden Tag den
Horizont. Diese Wesen haben nie einen Horizont gesehen. Sie sind
aneinander oder an die Wände ihrer Welt gedrängt. Gestern, da haben
Sie im Krankenhaus im Aufzug keine Luft gekriegt, Mr.Nay. Zehn Leute
waren im Aufzug! Das mache ich nie wieder mit, das sage ich dir! Nie
wieder Aufzug fahren! Zehn. Nicht hundert. Verstehen Sie jetzt, was
ich meine?
5.
Du bist so schön, Julika. Aber du empfindest nichts für mich. Dark
lächelt. Sein Gesicht ist verhüllt, aber Julika fühlt sein
Lächeln. Was ist mit all den Menschen, die nicht schön sind? Warum
ist die Welt so ungerecht? Julika, diese Menschen haben Glück. Sie
sehen den Horizont.
6.
Und wir, wir müssen nach Innen flüchten. In gefangene Herzen. Wir
ziehen uns um ein Herz zusammen und nagen daran, bis es aufhört zu
schlagen. Das Gehrin hält die Existenz der Person aufrecht, so dass
die Seele im Herzen bleibt, versteht jetzt John. Er hasst sich dafür,
dass er an Lilys Herz nagt. Er weiss, warum er dieses Privileg bekam.
Bald beginnt seine Mission.
7.
Zwei gefühlte Jahre dauerte es, bis Johns Herz aufgebraucht war und
er einer von ihnen wurde. Als Erstes ass er zur Feier des Tages seine
eigenen Überreste, Herz und Hirn. Nichts ist mehr menschlich an
John. Er ist ein dunkelschwarz glänzendes Wesen, all die anderen
Wesen sind matt. Glänzend bedeutet, er kann Tentakeln bilden und
wieder zurückbilden. Und er kann bis ins Unermessliche wachsen.
8.
Finde Ian, sagt ihm immer wieder eine Stimme. Finde Ian. Aber wie
kann John in eine andere Kolonie gelangen? Jemand muss hundertmal am
Stück dieses Wort aussprechen, dann kann John seine Kolonie
verlassen.
9.
Etwas läuft falsch, ahnt Julika. Dark versteht, was sie ahnt. Sieben
Jahre sind in Johns Welt vergangen. Einige Wochen seit Johns und
Lilys verschwinden. Das Andenken an Lily wird beigesetzt, nur noch
Julika wird wissen, dass Lily jemals existiert hat. John wird
verzweifelt gesucht. Aber so, wie er jetzt ist, wird ihn keiner
wiedersehen wollen.
10.
Wie sie haben Ian nicht geholt? Das ist völlig unmöglich, sagt der
Seher. Ich habe viel über diese Wesen gelernt, widerspricht ihm
Dark. Ein leeres Herz rühren sie nicht an. Ein menschlicher Körper
nimmt zu viel Platz ein. Sie würden keinen Körper für ein Herz
mitnehmen, an dem sie höchstens eine Woche lang nagen können. Und..
wo ist Ian dann? Das muss wohl ich herausfinden, sagt Dark und denkt
an John. Eine unvollkommene Liebe opfert sich umsonst. John hat
Julika nicht anders geliebt als seine Freunde: nur weil sie so schön
war. Er hat Julika nie gesehen. Nur ihren Körper.
11.
Wir lassen das, sagt Kristian. Edwin protestiert. Wir müssen es
unbedingt erforschen! Das ist ein Tor zu einer anderen Welt!
Eigentlich, senkt Gunnar den Kopf, haben wir es bereits getan.
Kristian lacht. Das meint ihr doch nicht ernst!? Doch, enttäuscht
Edwin seinen besten Freund. Wir sind keine hosenscheissenden Schüler
mehr, argumentiert Edwin. Wir studieren Medizin. Wir sind rational
denkende Menschen. Keiner von uns glaubt an den Quatsch, keiner von
uns hat Angst. Wann? Edwin lächelt nur. Wann!? Hör zu, Kristian,
wenn du gehen willst, dann geh jetzt. Wann!!? Heute ist der letzte
Tag.
Vier
Stunden später kehrt Kristian zurück. Tut mir Leid, Jungs. Kristian
lässt seine Freunde einsperren. Dann kommt der Doktor. Tut mir Leid,
aber ich kann nur einen hier behalten. Die Beiden sind völlig
gesund, was soll das überhaupt? Lassen Sie Edwin hier. Und sorgen
Sie dafür, dass jemand immer bei ihm im Zimmer ist. Mindestens drei.
Der Doktor hustet. Bis 1 Uhr Nachts, dann können Sie ihn gehen
lassen. Meinetwegen, sagt der Doktor.
Bist
du verrückt geworden!? Gunnar, du hast zwei Stunden. Gunnar lacht.
Maximal zwei Stunden. Gunnar versucht da nicht hinzusehen. Wir müssen
an einen Ort gehen, an dem viele Menschen sind, weiss Kristian. Wenn
es sie gibt - und wir wissen, was mit all den Anderen geschehen ist -
dann können sie mich leicht austricksen. Hundert Menschen sind nicht
so leicht manipulierbat wie einer. Als ob Kristian es nicht besser
wüsste.
Wir
sind jetzt in einer Diskothek, schreit Gunnar ins Telefon. Sag
Kristian, sie sollen mich endlich hier raus lassen, tobt Edwin. Wir
sind nicht zum Spass hier, nimmt Kristian den Hörer. Dass ich nicht
lache! Hörst du mich etwa Lachen? Ich habe den Spassvogel an mich
angekettet. Und weisst du, was wir die ganze Zeit machen? Wir sitzen
an der Bar und warten bis dieser verdammte Tag zu Ende geht. Gunnar,
du trinkst jetzt kein Bier. Kristian kippt das Glas um.
Entschuldigung, sagt er zum Barkeeper. Sind Sie ein Cop? Tun Sie so,
als wäre nichts gewesen. Der Barkeeper lehnt sich über die Theke.
Kristian legt die Hand über die nicht vorhandene Waffe. Er sieht auf
die Armbanduhr des Barkeepers - es ist zwölf. Geht diese Uhr
richtig? Ich muss pissen, unterbricht ihn Gunnar. Nein, wir gehen da
nicht hin.
Es
klingelt. Für Sie, sagt der Barkeeper. Sie hatten Recht! Wer sind
Sie? Der Doktor steht unter Schock. Drei Wachmänner waren mit ihm im
Zimmer. Die Polizei ist schon hier, sie werden befragt. Ist es ein
Geheimnis, dass Sie kennen und ich nicht? Wie konnte Ihr Freund sich
im Nichts auflösen? Hallo?
Sie
tanzen. Sie sind in Trance. Kristian schreit sie an, sie reagieren
nicht. Handschellen, Fussschellen, nichts hilft. Gunnar ist weg.
Kristian schreit den Barkeeper an. Ich bin nicht taub! Haben Sie
meinen Freund gesehen? Welchen Freund? Ich war mit meinem Freund die
ganze Zeit hier an der Bar. Er wollte ein Bier trinken, ich habe das
Glas umgekippt. Wollen Sie mich verarschen? Sie sassen die ganze Zeit
allein an der Bar. Sind Sie ein Cop?
KRISTIAN
12.
Leid lässt sie entstehen. Leid, nicht Schmerz. Julika hat damit
nichts zu tun. Celine mag den Jungen nicht, der Junge merkt es nicht.
Woran denn, wenn Celine mit ihm spielt, ihn berührt. Ihre Hände
sind immer so kühl, wenn sie unabsichtlich den Jungen täuscht.
Berührungen. Ihr Fehlen verursacht pro Sekunde mehr Leid als als
alle anderen Übel auf der Welt, die nebenbei noch geschehen.
13.
Die Fassade beginnt zu bröckeln. Dark will sein Gesicht zurück.
Gunnar sitzt in der Diskothek und wartet. Kristian ist pissen
gegangen, er uriniert schon seit einer Stunde. Stromausfall. Alle
kreischen, knutschen, Gunnar wird abgeschleppt. Er kommt gegen
hunderte von ihnen nicht an, die Angst lähmt ihn. Eingewickelt in
dunkelgrau, während Kristian denkt, er würde an der Bar neben ihm
sitzen.
Warum
geht ihr? Warum verlasst ihr mich? Edwin versteht nicht, was vor sich
geht. Sie sollten doch auf ihn aufpassen. Doch sie gehen. Nicht ein
Einziger bleibt zurück. Nach zehn Minuten ist es getan, sie kehren
zurück. Edwin ist nicht mehr da, sie rufen Kristian an. Sie
beteuern, die ganze Zeit bei Edwin gewesen zu sein, als sie verhört
werden.
Subjektive
Weltwahrnehmungen unterscheiden sich voneinander drastisch. Der Junge
gab seinem Freund hunderte Zeichen, dass er kein Interesse an dessen
reiner, unschuliger, selbstaufopfernder Zuneigung hatte. Von
ebendieser geblendet, konnte dieser die Zeichen nicht lesen.
Julika
steht auf einem Balkon und lässt den Handschuh fallen. John rennt
runter zu den hungrigen wilden Tieren, verwandelt sich in ein
dunkelschwarz glänzendes Monster und reisst die Tiere. Julika wendet
sich von ihm ab. Ihr tun die Tiere leid.
14.
So, jetzt nur noch den Rachen, sagt ein in Schwarz gekleideter
Halbschatten mit verhülltem Gesicht. Still halten. Gut so. Deine
ganze Haut ist jetzt verbrannt. Deine Sinnesorgane und Genitalien
werden nichts mehr empfinden. Ian, du bist frei.
Ian
geht durch einen engen Gang. Die graudunkelschwarzen Wesen folgen
ihm, springen ihn an, jede Berührung tut weh. Er hat sich mit Benzin
übergossen und angezündet, meint der Gerichtsmediziner. Ians Leiche
liegt auf dem Tisch.
15.
John wacht auf, er hat keine Tentakeln. Er ist einfach nur John. Er
liegt auf einer Parkbank, neben ihm sitzt ein Alkoholiker und wirft
leere Bierflaschen nach einem spielenden Mädchen. John rennt zu ihr,
will sie in die Arme schliessen, Emily ist weg.
Das
passiert nicht noch einmal. Das passiert eine Million mal. John ist
in einer Zeitschleife gefangen, aus der ihn Kristian schliesslich
befreit. Wiederbelebt, fragt John, was passiert ist. Du warst im
Koma, sagt Kristian. Erzähl mir von deinen verschwundenen Freunden.
John will wissen, wo er ist. Das entscheidest du. Wenn du
kooperierst, ist es eine Reha-Klinik, wenn nicht, ein Folterkeller.
Du musst sehr einfallsreich bei der Folter sein, lacht John. Kristian
zeigt ihm ein Foto von Ian. Kennst du ihn? Du bist auf der Wiese vor
seinem Haus ins Koma gefallen. Und was ist mit ihm passiert? Er hat
sich selbst angezündet und ist verbrannt.
16.
John sieht Ians verbrannte Leiche da liegen. Er will kooperieren. Ich
bin dem Ursprung der Sache nachgegangen. Es scheint, als hätte es
vor 180000 Jahren eine weit fortgeschrittene Zivilisation auf der
Erde gegeben. So weit fortgeschritten, dass sie den universellen
Informationsverschlüsselungscode knackte. Und hier beginnt die
folgenreiche Überschneidung von Allmacht und magischem Denken. Ein
Kleinkind glaubt, den Weltlauf durch seine Wünsche beeinflussen zu
können. Diese Halbgötter konnten es tatsächlich. Besser gesagt,
die fingen gerade damit an, und dann war es schon wieder vorbei. Aus
verschmähter Liebe missbrauchte einer von ihnen den Code und öffnete
das Tor zum Urgrund. Was ist der Urgrund, fragt John? Das reine Böse,
nehme ich an. Das Nichts, aus dem die Welt einst entstanden ist.
17.
Ian ist nicht tot. Er wird unter die Erde gebracht. Keine
Lebenszeichen. Aber er lebt. Er geht enge Gänge, die
graudunkelschwarzen Wesen springen ihn an, jede Bewegung tut weh. Wir
müssen ihn töten, sagt Kristian, wenn es wahr ist, was du sagst.
John ahnt, was Ian gerade erlebt. Er will ihn aber nicht töten,
bevor Julika ihm vergeben hat. Kann man mit ihm Kontakt aufnehmen,
fragt John. Theoretisch wäre es möglich, wenn Träume mehr als
blosse Spinnereien des nachts unterforderten Hirns sind, sondern die
Verbindung zu anderen, ich sag jetzt mal Dimensionen, um es nicht
durch Fachbegriffe zu verkomplizieren. Ich gehe dann schlafen, sagt
John. Wenn ich ins Koma falle, belebst du mich wieder.
Ein
dunkelschwarz glänzendes Monster versperrt Ian den Gang. Es umfängt
seinen verbrannten Körper mit Tentakeln. Furchtbare Schreie, doch
Ians Körper liegt bewegungslos im Grab. Das Monster häutet Ian, die
Nervenenden liegen jetzt blank. Ian versteht, dass das Monster John
ist. Er befreit sich, rennt eine Tür ein - seine Haustür,
übergiesst sich in seinem Haus mit Benzin und zündet sich an. John
wacht auf.
18.
Julika hat Ian vergeben. Wird Emily ihr vergeben? Sie hatte
zwischendurch gehustet und war vor Angst ohnmächtig geworden. Sie
haben sie nicht geholt. Julika betritt den luxuriös ausgestatteten
und hermetisch von der Aussenwelt abgeriegelten oberen Bereich ihres
Schlosses. Emily ist nach vier Jahren genauso klein wie sie damals
war. Julikas Berührungen entschädigen das Mädchen für die
Einsamkeit. Sie lässt Emily die ganze Nacht nicht los. So lange ist
sie in den vier Jahren noch nie bei Emily gewesen.
Julika
wacht auf und verschwindet, lässt Emily schlafen. Ihr Mädchen
altert nicht. Das ist Julikas Geheimnis. Emilys Bereich des Schlosses
befindet sich in einer Überschneidung zweier Welten, in der die Zeit
nicht vergeht. Doch was passiert, wenn Emily nach Draussen gelangt?
Celine soll ihr die Antwort geben. Julika bringt sie zu Emily. Wo ist
Celine, fragt der Junge. Sie hat hundertmal das Wort gesagt und ist
verschwunden, scherzt Julika. Der Junge weint. Was hast du mit Lily
gemacht, fragt ihn Julika. Nichts, lügt der Junge. Er traf sich zwei
Wochen lang heimlich mit Lily in einem Baumhaus auf dem
Schlossgelände, das Julika nicht kannte. Lily verliebte sich in ihn.
Der Junge liess sie leiden. Sag hundertmal das Wort, dann bist du
meine Freundin, sagte er zu Lily.
19.
Dark ist enttäuscht. Er bekommt ein Gesicht. Er weckt Lily aus dem
Koma. Sie gehen zum Schloss. Frische Fische. Hundertmal am Stück,
ist jedes Wort ein Zungenbrecher. Dark entführte Lily und versetzte
sie in ein künstliches Koma. Er wollte sie dafür leiden lassen, was
sie dem Jungen angetan hatte, aber er bekam Zweifel an der Unschuld
des Jungen. Die Unschuld ist ein schöner Schein, an den wir uns mit
aller Realität klammern, sagt Julika. Ich werde Celine nicht opfern.
Ich habe eine andere Idee. Julika zieht zu ihren Mädchen ein, Dark
übernimmt das Schloss. Geh, sagt er zu dem Jungen. Der Junge geht.
Er hat kein Zuhause. Er geht dorthin, wo er Dark einst kennenlernte,
als Dark noch selbst ein Junge war. Die Gebäude stehen leer. Kein
Hubschrauber kommt. Keine Schüsse fallen. Der Junge klettert durch
ein Fenster in das Gebäude hinein, in jenes mit der Sporthalle, dem
Pool, den langen Korridoren. Es ist Fürchtenszeit. Der Junge
übernachtet in der Sporthalle, er zittert sich in den Morgen.
20.
Fünf bleiben vermisst, bleibt Kristian nüchtern. Wir müssen etwas
unternehmen. John nickt. Aber ich mache das nicht, versichert er
sogleich. Geh und töte Ian. Ich überleg mir was.
21.
Ian ist längst tot, als John seiner Leiche einen
Sicherheitscutthroat verpasst. Er buddelt die Leiche wieder ein, es
beginnt zu regnen. Für einen kurzen Augenblick meint John, Emily zu
sehen, und rennt auf die Wiese. Er fällt in ein Erdloch. Stunden
vergehen. John schreit vor Angst, versucht aufzuwachen, doch er liegt
nicht im Koma. Das Erdloch füllt sich mit Wasser. John ertrinkt.
22.
Einer hat sich angezündet. Einer ist ertrunken. Fünf sind vermisst
gemeldet. Und die Mädchen, fragt Kristian. Wir nehmen an, das
Verschwinden der Mädchen steht in einem anderen Zusammenhang. Ist
das alles, was die Polizei... Hören Sie, es gibt nichts
Übernatürliches. Vielleicht ist ein Serienmörder unterwegs, der
dieses Spiel als Köder benutzt. Vielleicht eine Sekte. Rituelle
Morde. Rituelle Selbstmorde. Die, die gefunden wurden, sind auf keine
übernatürliche Art gestorben.
Kristian
geht. Ein Mann, der die ganze Zeit still im Raum sass und Tee trank,
holt Kristian ein. Ich bin nicht von der Polizei, ich glaube an mehr,
als die Dinge, die man sieht. Schön für Sie, sagt Kristian. Ich
habe etwas für Sie! Eine CD? Eine Aufzeichnung von Ihnen. Wer hat es
Ihnen zugespielt? Niemand. Ich habe Sie nur abgehört. Das ist mein
Job. Kristian geht, der Mann ruft ihm hinterher. Ich würde mir gut
überlegen, ob ich mir das an ihrer Stelle vor Mitternacht anhöre!
Drei
Stunden bis zur Mitternacht. Kristian installiert eine Kamera an der
Wand. Er ahnt, was er zu hören bekommt. Er wurde vor 22 Tagen
hypnotisiert, das Wort hundertmal gesagt und alles wieder vergessen.
Oder ist das ein übler Scherz? Hört er sich die CD an, weiss er,
was er zu erwarten hat. Allerdings könnte er dann vor Angst
durchdrehen und so enden wie Ian. Hört er sich die CD nicht an,
weiss er nicht, ob er damals das Wort hundertmal sprach, und muss
womöglich mit einer Überraschung rechnen. Er hat Angst. Kommen sie?
Wird er erkennen, wann es soweit ist, oder ins Koma fallen, und
glauben, sie hätten ihn geholt? Er startet den Computer, legt die CD
ein. Es ist seine Stimme. Er sagt das Wort. Hundertmal am Stück. Und
jetzt wirst du meinen Namen vergessen, sagt der Hypnotiseur. Du wirst
aufwachen und nicht mehr wissen, wer ich bin. Ich zähle jetzt bis
fünf.
Kristian
steigt in seinen Wagen und fährt los. Er fährt durch die Stadt, es
ist kurz vor Mitternacht. Er beschleunigt. Noch eine Minute. Er rast
durch die Allee, vor ihm eine rote Ampel. Kristian gibt Gas. Noch
zwanzig Sekunden. Es wird schon grün. Noch fünfzehn Sekunden. Ja,
es wird grün. Noch zehn Sekunden. Obwohl es grün war, kracht sein
von einem Lastwagen erfasster BMW gegen eine Wand. Kristian stirbt
sofort. Zwei Sekunden vor Mitternacht.
JULIKA
1.
Wie eine Katze krallt sie sich in das Kissen hinein. Es ist ein
Alptraum aus dem sie aufwacht, um aus dem Aufwachen aufzuwachen. Ihre
Haut schneeweiß, und es schneit durch die Decke hindurch, sie wird
eins mit dem Schnee. Mädchen, diese Schneeflocken. Wärme macht sie
kaputt. Julika ist völlig kalt. Celine ist die dreitausendste
Schneeflocke, die sie küsst. Ohne Sünde.
2.
Doch wenn sich der Schnee als gehacktes Papier erweist, ist es Zeit
zu springen. Julika springt aus dem Fenster des
zweitausendzweihundertzweiundzwanzigsten Stocks, um aus der Welt, in
die sie hinein aufwachte, aufzuwachen. Der Fall nimmt kein Ende. Der
Urgrund wartet.
3.
Was ist hinter dieser Tür fragt Emily. Hier fängt meine Traumwelt
an erklärt Julika. Geh da niemals rein. Sie geht. Julika kann sie
noch abfangen und auf die unsichtbare Weltenkante setzen, um welche
herum sie Emilys Zimmer einrichtet. Hier wird Emily niemals altern.
Aber sie wird auch nie wieder zurückkehren. Sie ist in ihrer
Kindheit gefangen.
4.
Kannten Sie Ian? Julika schweigt. Der gute Cop legt eine achtspurige
Autobahn an Komplimenten, der böse Cop bleibt immerhin drei Minuten
böse. Dann verknallt er sich in Julika. Julika ist weißer als der
Stolz. Sein Herz wird vereisen und brechen. Nicht nur passiv.
5.
Der Amokläufer war ein einundvierzigjähriger Polizist. Der Grund
für die furchtbare Tat war, wie sein langjähriger Partner
versichert, unerwiderte Liebe. Emily schläft in Julikas Träumen.
Julika spaziert durch den Garten. Ein weißer Engel trifft einen
schwarzen Gott. Es ist Dark. Was ist hinter der Maske? Was verbergen
die schwarzen Handschuhe? Verbrannte Knochen? Junge? Was für ein
Junge? Dark kennt keinen Jungen. Aber ein Mädchen kennt er, nicht
wahr, Kitiane?
6.
Dieses zarte Mäuschen. Es fürchtet sich vor gar nichts. Gar nichts
ist eine furchtbare Umgebung. Der Boden verschwindet unter den Füßen.
Keine Wände, kein Horizont. Pures Nichts. Ist das der Urgrund? Wer
diesen Ort erreicht, kann eigene Welten bauen.
7.
Langes, seidiges, hellbraunes Haar, große Augen, ein süßer Mund.
Sie geht nicht aus. Sie will nicht, dass jemand wegen ihr Amok läuft.
Aber was sie sieht, gefällt ihr nicht. Sie verlässt ihr Penthouse
und geht auf die Straße. Was machst du da, fragt sie einen
neunjährigen Jungen, der vor einem auf dem Dach liegenden Auto steht
und Streichhölzer anzündet. Wann explodiert es endlich!? Kitiane
pustet das Streichholz aus und neigt ihren Blick. Mit ihrem Blick
zieht sie den schwer verletzten jungen Mann aus dem verunglückten
Wagen.
8.
Was hast du geträumt, junger Mann? Vor dem Krankenbett sitzt ein
ausgewiesener Experte für Alpträume. Hast du sie gesehen, fragt Mr.
Nay. Wie heißt du? Dark.
9.
Er hat seinen Namen vergessen, sagt der Arzt. Er nennt sich Duck oder
ähnlich. Was ist da passiert? Sein Wagen hat sich überschlagen,
erklärt der Cop. Wer saß am Steuer? Wissen wir nicht.
Wahrscheinlich niemand. Ein Bleigewicht haben wir auf dem Gaspedal
gefunden. Wie praktisch. Nein, schüttelt der Cop mit dem Kopf.
Praktisch ist, was in der Theorie funktioniert. Angesichts der
Wichtigkeit ihrer Taten sind alle Menschen irgendwo Philosophen.
10.
Das Leben ist wie ein gelber Sack, murmelt der Müllmann. Der Junge
fragt ihn nach einer Zigarette. Wie alt bist du, Bengel? Dreizehn,
lügt der Junge. Hier, nimm.
Wenn
Denkfiguren Realität annehmen, streiken die Streichhölzer.
Intersubjektiv ist nicht echt. Ein echter Junge hätte ihn verbrennen
können. Warum lebe ich, fragt er jetzt. War es ein
Selbstmordversuch, fragt der Psychotherapeut. Wer hat mich gerettet?
Sie sind selbst aus dem Wrack gekrochen.
11.
Lily, mit wem spielst du? Lily lacht. Ich denke mir jemanden zum
Spielen aus! Wen? Einen Jungen. Einen Jungen!? Kein
Phantasiegeschöpf, kein Einhorn, kein exotisches Tier? Ein Junge ist
im Grunde ein Einhorn, lacht Lily. Diesen Witz hat Julika im Traum
nochmal gehört. Es war ihr, als hätte Lily gesündigt und wäre zur
Hölle gefahren. Als hätte Lily ihre weißen Handschuhe ausgezogen
und einem streunenden Jungen ihre Hand gegeben. Lily schmiegt sich an
Julika. Julikas Fall endet. Der Boden ist weich, es sind kolossale
Blüten. In einer roten Rose endet ihr Fall. Lily liegt neben ihr und
lacht. Sie meinte nichts Unanständiges mit dem Einhorn. Das Kirsch
ihrer Lippen zieht Julika in den Bann, als Lily ihr etwas erzählt.
Die Antwort ist kurz und endet mitten im Satz, als sich die Lippen
berühren.
12.
Julika, was bedeutet Realität, fragt Lily. Realität ist, wenn du
keinen Einfluss darauf hast, wie die Dinge sich verhalten. Und wer
ist Celine? Celine habe ich mir zum Spielen ausgedacht, lacht Julika.
Lass sie mit meinem Jungen spielen, kichert Lily. Ein Kichern, auf
das es nur eine Antwort geben kann. Eine kirsche Antwort.
13.
Die schwarzen Stöckelschuhe stehen am Eingang der Halle. Drei junge
Frauen streiten sich, wem die Schuhe gehören. Da sie aus
Hartlakritze sind, kann jede von ihnen bis zu neunhundertzwanzig Mal
daran lecken. Seht her, sagt der Organisator. Diese Damen sind
siebzehn, doch sie sind junge Frauen. Diese Dame hier ist neunzehn,
aber ein Mädchen. Was ist der Grund? Kitiane tanzt nicht, sie
fliegt. Sie scheint leichter als Luft zu sein, doch es sind die
anderen Tänzerinnen, die ihren Körper durch die Vorstellung tanzen.
Ballett. Der Organisator verschwindet hinter der Bühne, das Publikum
wird eingeblendet. Wer ist diese Prinzessin, fragt ein junger Mann
seine Begleiterin. Diese zuckt mit den Schultern, bis eine ältere
Dame ihr von Hinten auf dieselben klopft. Neid zerstört alles. Sieh
mich an. Es ist Neid, der uns altern lässt. Ohne Neid wären wir
alle Kinder.
14.
Es ist nicht bekannt, wie sich eine Säge im Koffer des Polizisten
einfand, aber es wird auf allen Kanälen mit äußerster Akribie
berichtet, welche Körperteile in ihr ihren Meister fanden. Der
Amokläufer schoss nicht einfach in die Menge, er legte denen, bei
denen es ihm gefiel, Handschellen an, kettete sie an Eisenrohre und
sägte sie frei. Ein Amoklauf mit symbolischer Wirkung. Julika, lass
mein Herz los! Ich habe es nie besessen, sagt Julika, und das
Aussprechen dieses Satzes ist das Brechen diesen Herzens.
15.
Das Wort, das selbst Musik ist, braucht keine musikalische
Unterstützung. Stell dir vor, die ganze Halle spricht es laut,
schreit es in die Luft, die Menge beginnt rhythmisch zu schaukeln,
die Blicke fixieren nur das Wort, nur das Wort. Und wenn es zum
hundertsten Mal ausgesprochen ist, dann fliehet aus der Stadt, denn
ein weites Tor wird für lange Zeit offen sein. Der Club der Verehrer
Julikas traf sich zuerst anonym, in Chatrooms. Die Mitglieder
benannten sich nach besonderen Schönheitsmerkmalen Julikas oder aber
mit Namen wie Julikaforever oder Ichliebejulika. Einmal war es raus,
auf einer Party am Freitagabend. Die Mehrheit der Anwesenden war in
Julika verknallt, sie tanzten und sangen Lovesongs, doch es schien
nicht genug zu sein. Etwas fehlte. Etwas, das sicherstellen würde,
dass Julika es hört, egal wo sie sich befindet, dass Julika es hört,
wie ihre Herzen beim Brechen knacken, etwas, das die Realität
transzendierte - denn was ist Realität nach Julikas Definition? John
lachte. Er warf das Bierglas an die Wand und sprang auf die Bühne.
Er stieß den DJ weg und begann das Wort zu sprechen. Jeder verstand
beim ersten Erklingen des Wortes, dass es dieses Wort war, welches
war, bevor es bei Gott war und bevor es Gott war.
16.
In sechs Tagen wird diese Stadt Geschichte sein, predigt Mr. Nay.
Evakuiert euch! Die Behörden mahnen zur Ruhe, aber Angst liegt in
der Luft. Die Menschen verlassen massenweise die Stadt.
17.
Im Krankenhaus ist Hochbetrieb. Bei der allgemeinen Panik passierten
in besonderen Fällen einzelne Unfälle. Und der, der sich Dark
nennt, weil er sich an seinen Namen nicht mehr erinnern kann, liegt
noch im Krankenhaus.
Dachten
wir an denselben Jungen? Warum trägst du diese Maske? Es ist keine
Maske, mein Gesicht ist nur verhüllt. Wieso? Weil ich kein Gesicht
habe. Natürlich hast du ein Gesicht, lacht Lily und entfernt die
gesichtslose Hülle. Du bist die Kindheit selbst, urteilt Dark. Ich
werde dich duplizieren, um die Mäuschen zu verwirren.
18.
Dark denkt denselben Jungen, den Lily sich zum Spielen denkt, damit
der gemeinsam gedachte Junge Lily denkt. Die vom ausgedachten Jungen
ausgedachte Lily spricht das Wort hundert Mal, da der Junge sie als
in ihn verknallt ausdachte. Viele Kreise werden geschlossen, sobald
der Strom der Realität anfängt zu fließen.
19.
Julika, mir ist kalt. Das bin nur ich, lacht Julika. Sie hat
furchtbar kalte Hände, wenn die Bedeutung von furchtbar sich nur aus
der Ironie befreit, wenn ein Anderer dieses kalte Fürchten lernt.
Wir sind eifersüchtige Wesen, anthropologisiert Julika. Lily legt
ein Kissen unter Julikas Kopf und wärmt sich am kalten Weiß ihrer
Haut.
Dark
steht vor dem Spiegel. Die Wunden sind verheilt. Die Erinnerung
verloren. Als der Cop einem alten Lehrer den Kopf absägte, da schrie
er ein Gebet, aber nicht zu einem der üblichen Götter. Holt mich,
ihr Graue, holt mich, schrie er, bis ihn ein anderer Cop erschoss.
Sein Partner. Denn er wollte allein beide Cops spielen, musste sich
aber mit der Rolle des guten Cops zufriedengeben. Und überhaupt, er
atmete ja die Luft, die Julika auch atmete. Und er wollte sie, der
Bastard. Ich aber, ich wollte nichts von ihr. Ich wollte sie nur
heiraten. Hör auf zu träumen du Bastard und fass endlich an! Ja,
Sir. Du, Schwachkopf, was ist mit dem alten Lehrer? Die Ärzte
konnten ihn retten. Als Organspender.
20.
Eine dunkle Nacht bricht an, die dunkelste, die in dieser Stadt je
eralpträumt wurde. Dark genießt den Gang durch die leeren Straßen.
Als er am Unfallort vorbeigeht, erinnert er sich an einen Engel. Die
Aufzüge sind ausgefallen, der Wolkenkratzer wurde evakuiert. Nur im
Penthouse brennt noch Licht. Das muss dieser Engel sein, urteilt
Dark. Ein verwirrter alter Mann fragt nach dem Weg: Wo geht es hier
zur Hölle? Oben, so Dark. Der alte Mann springt hoch. Und wieder.
Und nochmal. Und wieder, und nochmal, und fällt auf den Boden, und
bricht sich beide Beine, und Hunde, die vormals auf Sofas erlesenes
Hundefutter aßen, essen nun Wolfsfutter. Dark ist längst im
Gebäude, er muss den Engel retten.
21.
Was ist mit denen, die die Stadt nicht verlassen können? Können,
wird der Bürgermeister zynisch. Was ist mit Durchgeknallten, die die
Stadt nicht verlassen wollen? Was ist da los, ein Virus? Warum diese
Massenpanik? Misch dich nicht ein, du verstehst nichts von
Gruppendynamik, unterbricht der Bürgermeister den stellvertretenden
Bürgermeister. Beide trinken Tee. Als der Bürgermeister nochmal
hinguckt, um den stellvertretenden Bürgermeister mit strengem Blick
zu fixieren, ist dieser weg. Eine Blutspur schleicht vom bequemen
Sessel in eine öffentliche Toilette. Was? Was ist passiert!? Wie von
selbst pressen sich die Körperteile dessen, was vor fünf Sekunden
der stellvertretende Bürgermeister war, in die Pissoirs. Die
Kanalisation bekommt langsam Hunger, und die Münder reichen über
die Stadt hinaus in einige Vorstädte. Das Ding, das auf uns zurollt,
ist kolossal, bekennt der Bürgermeister. Wir fahren weiter, hier
sind wir auch nicht mehr sicher. Evakuieren!
22.
Zu Tausenden laufen sie zurück in die Stadt. Glück bevölkert ihre
Gesichter. Dem Sog des Geruchs aus der Kanalisation haben sie nicht
widerstanden. Nicht den Stimmen in ihren Köpfen, die nur dieses eine
Wort wiederholten und sich mit ihm zu vereinigen suchten. Ein grauer
Fluss überflutet die Straßen, klettert die Häuser hoch. Dark
klingelt an der Tür. Keiner macht auf. Dark hört sie kommen. Sie
sind schnell, sie sausen die Treppe hoch. Die Tür öffnet sich, Dark
fällt hinein, die Tür schließt sich wieder.
Das
Licht, das aus den großen Fenstern auf die Böden fiel, wird grau.
Sie sind draußen, sie versuchen hineinzukommen. Kein Loch ist ihnen
zu klein. Dark rennt durch die Zimmer und sucht das Mädchen. Im
Badezimmer war das Fenster einen Spalt offen. Sie strömen hinein,
kriechen die Wände hoch, verteilen sich im dreidimensionalen Raum.
Der Wolkenkratzer beginnt zu sinken. Der Boden verschluckt die Stadt.
Es
schneit in Julikas Garten. Julika schließt die Augen und tanzt im
Schnee. Kühl an kühl berühren sich die Hände der Prinzessinen.
Der Raum war schon zu, Kitiane ist durch die Zeit gereist, um den
grauen Wesen zu entkommen. Etwas muss sich in der Zeit verändert
haben. Jemand muss tot sein. Jemand muss noch leben. Die Stadt, als
hätte sie niemals existiert. Auf keiner Karte zu finden. Julika
fühlt Kitiane in ihr Schlafzimmer. Lily kuschelt mit Geistern auf
Julikas Bett. Die Prinzessinen fangen das Mädchen und kitzeln es
aus. Die Lichter der Stadt brennen wieder. Beim Zeitweg hat Kitiane
die große Party gestreift, die vor 22 Tagen in freudiger
Verzweiflung gefeiert wurde. Auf der John das Wort übernahm. Kitiane
lief in John Sekunde über die Bühne. John blieb das Staunen im Mund
stecken und er verzichtete auf die Verkündung des Wortes.
Ein
Egel ein Engel, der alle rettet, aber einen opfert. Nein, Junge, sie
hat mir vertraut. Sie wusste, dass ich keine Angst vor ihnen habe.
Und jetzt sei still. Ich kenne deinen Namen, lächelt den Junge ihn
an. Behalte ihn für dich. Ich heiße jetzt Dark.
KITIANE
1.
Was, wenn? Nur Genies und Idioten stellen diese Frage. Sich. Der
Welt. Gott. Was, wenn Julika. Und zwar nicht das Mädchen, welches,
sondern Kitiane? Wenn sie die Schule gewechselt hätte, wäre all das
nicht passiert. Nicht mit John. Nicht mit Ian.
2.
Niemand weiß, wer es wem erzählte, doch als die ersten es wussten,
wollten sie es ausprobieren. Sie gingen nachts in den Wald. Sie
sagten das Wort. Als die Hundert nahte, überkam sie eine Angst, die
sie noch nie kannte, sie wollten laufen, rennen, wünschten, sie
wären zu Hause in ihren Betten, standen aber da. Im dunklen Wald. Er
war dreizehn, sie war neun. Er hatte einen älteren Bruder, der das
Mädchen mochte. Der vor Eifersucht verzweifelte, während sie im
Wald zu sterben begannen.
Und
es lief so ab: nach der neunzigsten Wiederholung konnten sie
rhythmisch schaukelnd den Wald verlassen, sie waren auf dem direkten
Weg nach Hause, noch dreihundert Meter, dann kam das Wohngebiet.
Fünfundneunzig. Noch zweihundert Meter. Siebenundneunzig. Bald da.
Neunundneunzig. Es wird alles gut. Hundert. Sie kehrten um und gingen
rhythmisch schaukelnd zurück in den Wald.
3.
Ein alter Fahrrad an eine Bank angelehnt. Er sitzt und schweigt. Sein
Bruder kam gestern nicht nach Hause, auch das Nachbarmädchen wird
vermisst. Er setzt sich auf das Rad und fährt durch die Landschaft.
Als er am Wald vorbei fährt, auf der anderen Seite, da sieht er am
Strommast zwei ausgeweidete Leichen hängen. Das sind sie. Am Abend
sind sind sie nicht mehr da. Er trinkt Tee. Der Tee schmeckt sehr
gut. Er packt die Sachen seines Bruders in den Keller.
4.
Schule. Er fühlt sich befreit. Er genießt den Tag. Die Eifersucht,
die sein Herz zerfrass, ist weg. Er ist glücklich. Sein Bruder tot.
Er genießt die Tränen der Mutter des Nachbarmädchen. Er gibt
philosophische Antworten über das Verschwinden ihrer Tochter. Die
Polizei befragt ihn. Ein Genuss mit Beck´s. Der gute Cop gewährt
ihm ein Bier. Der böse Cop droht - doch was soll ein
vierzehnjähriger schon getan haben?
5.
Nein, er frisst die Eifersucht in sich hinein und fängt an, Mädchen
zu hassen. Er verknallt sich in einen neunjährigen Jungen. Er träumt
von der Hölle, für die er bestimmt zu sein scheint. Er geht in den
Duschraum und schneidet sich die Pulsadern auf. Er stirbt.
Oder
er geht in den Wald und bereut es, seinem Bruder das Wort gesagt, ihn
neugierig gemacht zu haben. Er kann machen was er will. Sie werden
ihn holen. Nicht nur bei hundert. Auch bei neunzig. Auch bei null.
6.
Victor, machen wir es oder nicht? Du hast die Hosen voll gekriegt,
als Dan es erzählt hat. Lach nicht, Victor. Da ist was dran an der
Geschichte. Für meine Begriffe hat der Typ das Mädchen ermordet und
im Wald vergraben. Und seinen Bruder? Und sein Bruder versteckt sich
irgendwo in Kanada und lacht sich den Arsch ab. Sie waren nie eine
glückliche Familie. Der Jüngere wollte schon immer nach Kanada.
7.
Victor, lass mich das machen! Bitte. Gut, die Kerze ist angezündet,
die Spiegel gegeneinander ausgerichtet, was brauchen wir
noch...warte, Dan kommt. Hi, Dan. Hallo, ihr Mystiker. Was macht ihr
da? Ich hab keine Ahnung was Tim vor hat. Tim? Dan? Lass den
Schwachsinn mit den Spiegeln und der Kerze, sprich einfach nur das
Wort, und zwar hundertmal, und zwar aus. Wollen wir? Ich muss noch
Hausaufgaben machen. Victor, wenn du keine Lust hast, geh! Tim, nimm
das nicht so ernst. Unter uns: wir wissen ja, dass das Blödsinn ist.
Aber was sonst sollen wir frustrierte Zehntklässler ohne Mädchen
den ganzen Abend so machen? Eben. (Chorus): R....d, r...d...
8.
Wieviel Zeit haben die Dinger überhaupt, um uns zu holen? Weiß
nicht. Eine Woche? Dan, hast du einen Termin bei den Dingern
bestellt, oder wie läuft das? Victor, da kommt... Ich weiß, gefällt
sich Victor in seiner arroganten Pose. Das Mädchen muss in ihn
heftig verknallt sein. Ich liebe Tim, antwortet Victor vor
versammelter Klasse. Es tut mir wirklich Leid für dich.
Ich
bin zwar nicht schwul, aber das war so cool, Victor, wie du dieses
Mädchen... Klappe, Tim. Hi, Ladykiller! Hi, Ladythriller! Sehr
lustig. Nein nein, durchaus eine nützliche Eigenschaft, Dan. Wir
zelten am Freitag, schon vergessen? Und da wirst du - ich prophezeie
- der Held am Lagerfeuer sein.
9.
Gebannt hören sie Dan zu. Alle Mädchen. Auch die süße Maus aus
der 7. Wie heißt du, Kleine, fragt Victor. Kitiane, flüstert sie
schüchtern. Hast du Angst, Kitiane? Kitiane nickt. Victor legt einen
Arm um sie. Er will später Kinder haben. Eine Tochter wie Kitiane.
Und diese Nacht die Lehrerin flachlegen. Oder Melissa aus der 11.
Mädchen
mögen dich, Victor, beneidet ihn Tim. Ach, Mann, sei doch nicht so
schwul! Kommst du mit in den Wald? Kommt Dan auch? Dan traut sich
gerade nicht, ein Mädchen anzusprechen. Komm schon, ich muss noch
Melissa vögeln. So, Tim. Sei rücksichtslos, sei arrogant, sei eine
Drecksau. Lüge, betrüge, stelle bloß. Versprich das Blau vom
Himmel, das Gelbe von der Sonne, das Schwarze von der Nacht. Nur
lieben darfst du nicht. Das zerstört alles.
10.
Dan, hast du Tim gesehen? Was ist los, lass mich schlafen. Zwei
Stunden später. Dan, es ist elf Uhr. Wir packen! Hast du Tim
gesehen?
Melissa,
hast du Victor gesehen? Leider nicht, ärgert sich Melissa. Dan
schmunzelt. Ach was, der war doch die ganze Nacht bei dir. Nein, war
er nicht, du Esel!
Abend.
Dan ist zu Hause. Wo sind sie nur hin? War ihnen langweilig? Sind sie
einfach abgehauen? Morgen sieht man sich in der Schule...
Wenn
es denn ein Morgen gibt. Dan lässt das Licht an, er fürchtet sich.
Er zittert, er verkriecht sich unter der Decke. Sein Vater kommt ins
Zimmer, sieht ihn unter der Decke - wohl schlafend - und macht das
Licht aus. Dan erstarrt vor Angst. Bloß nicht daran denken! Was ist
es? Was sind sie? Dan hat keine klare Vorstellung, wovor er solche
Angst hat. Er weiß nicht, was auf ihn wartet - dort in der Ecke
vielleicht, hinter dem Schreibtisch. Etwas zieht ihn hoch, da ist
niemand im Zimmer. Er steht auf, schaut im halbdunklen Spiegel sich
selbst in die Augen. Je mehr Angst in seinen Augen ist, umso mehr
Angst hat er vor seinen Augen, die er im Spiegel sieht. Er rennt los,
in den Wald. Keiner sieht ihn jemals wieder.
11.
Die Welt ist entzaubert. Komm, lass uns das Miller-Experiment
nachbauen. Ich habe hier ein anderes Experiment für dich. Kostet
nichts, nimmt keine Zeit in Anspruch, und macht einen Höllenspaß.
Schieß los! Es gibt da so ein Wort, wegen dem vor ein paar Jahren
zwei Kinder durchgedreht und verschwunden sind. Ein Jahr später oder
so haben drei Jungs aus einer zehnten Klasse mit diesem Wort
gespielt, und sind alle verschwunden. Was hat es den auf sich mit dem
Wort? Nun ja, du musst es hundertmal hintereinander sagen, ohne
Unterbrechung, ohne Fehler. Das ist doch bloß so ein
Zungenbrecherspiel! Peter, du bist spät. Was geht? Ein Experiment...
Ach was, bloß so ein Spiel. Machst du mit?
12.
Mike, hast du Fieber? Nur schlecht geträumt. Jacob, was starrst du
so auf dieses Loch dort hinten? Seht ihr, da in der Wand von dem
alten Gebäude, da ist so eine Art Tor in eine andere Welt...
Der
Brain-Mike. Jetzt dreht er durch. Nur ein Spiel, was, Mike? Fresse,
Jacob. Warum berührst alle Sachen dreimal oder neunmal oder 27 mal?
Zählst du immer nach oder was? Hat das etwas mit dem Experiment zu
tun? Ach, dein blödes Spiel, ja? Vergiss es.
Peter,
wie der Fernseher ließ sich heute Morgen nicht ausschalten? Ich sags
dir ja, er ging immer wieder an. Und dann sah ich auf die
Fernbedienung und es waren Tasten drauf, die ich noch nie gesehen
habe. Und ich hatte... Angst!? Mike, wenn du nochmal von Hinten
anschleichst...
13.
Mein Opa war da. Es war halb acht. Dann klingelte es an der Tür,
zehn vor acht. Ratet mal, wer da war? Dein... Ja. Ich ging in die
Küche, da stand er und machte Kaffee, brummelte etwas über die
Kaffeemaschine, dann kam ich in Wohnzimmer, er kam von der
Eingangstür, setzte sich hin und frage, wo meine Mutter ist. Was du
erzählst, ist Schwachsinn, Peter! Ich weiß. Aber es kommt noch
dicker. Der mit dem Kaffee kam rein und die haben sich eine Stunde
lang unterhalten. Jacob guckt zu Boden. Ich konnte den Physikraum
nicht finden. Ich lief im Kreis durch die ganze Schule, aber wie ist
das möglich, ich ging immer wieder den einzig vernünftigen Weg vom
Pausenhof in den Physikraum... Na, wenigstens hast du den
Metaphysikraum jetzt gefunden...
14.
Kleine, wie heißt du? Kitiane, flüstert das Mädchen. Bist du
zwölf? Ich werde bald vierzehn. Und du? Ich bin Jacob. Kitiane, hast
du gestern nach der dritten Stunde gesehen, wie ich diesen Korridor
lang gegangen bin? Ja, du bist ihn immer wieder lang gegangen. Ich
habe mich gewundert, wie du das gemacht hast, du bist ja nicht
zurückgekehrt. Du gehst dort vorne um die Ecke, und im nächsten
Augenblick gehst du wieder an mir vorbei. Ist das ein Zaubertrick?
Komm mit, es ist wichtig. Wohin? In die Bibliothek.
Was
ist da auf dem linken Schrank? Eine Rose. Nur eine Rose? Nicht zwei?
Nein, flüstert Kitiane. Sie fährt mit ihrer kleinen Hand durch ihr
langes hellbraunes Haar. Was ist auf dem Tisch? Jacob zählt auf.
Richtig. Jacob steht auf. Du bist süß, sagt Kitiane. Sie glaubt
vielleicht, ich wollte ihr einen Crush gestehen, indem ich den
Durchgedrehten spielte und sie um Hilfe bat, denkt er beim Gehen.
Zweifelst du an der Realität? Schockiert dreht er sich wieder um und
starrt sie an. Was wolltest du damit sagen? Ein kurzer Blackout.
Jemand sitzt im großen schwarzen Sessel, der mit dem Rücken zu
Jacob steht. Was tun? Hingehen? Wegrennen? Wer könnte dort jetzt
sitzen? Jacob entschließt sich zum Wegrennen, doch hat keine Kraft
in den Beinen, und der Sessel dreht sich höllisch langsam aus ihn
zu. Wer ist da? Hallo!? Jacob zuckt zusammen, als er den Ansatz des
schwarzen langen Ärmels sieht. Er schaut auf die Uhr, die sich von
rund zu oval verformt und von Weiß immer grauer wird. Es ist neun
Uhr abends. Sieben Stunden! Kein kurzer Blackout. Er schaut auf den
Sessel, der sich auf ihn zu dreht, nun sieht er, dass niemand auf dem
Sessel sitzt, nur Kitianes schwarzer Schal auf einer Armlehne.
Kitiane? Jacob rennt durch das Schulgebäude. Kitiane!? Licht, wie am
Tage, doch ohne künstliches Licht müsste es längst dunkel sein. Es
erinnert sich. Dunkelheit, nur Straßenlaternen scheinen in den
dunklen Korridor hinein. Jacob rennt, er darf nicht stehenbleiben.
Gegen eine Wand rennen oder durch ein Fenster springen, aber nicht
stehenbleiben. Nicht... Da stürzt mitten in der Dunkelheit ein
großer schwarzer Schatten auf ihn ein. Blackout.
15.
Mike, das war 81. Nein, das war 79. Warte, Peter. Bamm, bamm. So,
jetzt. Was wolltest du? Hast du schon mal einen Traum in einen Traum
in einem Traum gehabt? Ja, mehrmals. Hattest du nachdem du zweimal
dachtest, so jetzt bin ich wach, und immer noch im Traum warst, Angst
nicht mehr aufzuwachen? Ja, wieso? Mir geht es so gerade. Denkst du,
du träumst ? Ja. Du kannst es doch testen. Gute Idee. Ich springe
aus dem Fenster. Es ist ja nur zweiter Stock. Peter? Wo bist du denn
hin gesprungen? Peter? Wo bin ich? Was... Mike, mit wem redest du?
Peter war doch hier. Nein, so Peter. Und wer bist du? Ich bin Peter.
Und wo ist Peter?
16.
Warst du das oder warst du das nicht? Wieso ist mir das nicht
aufgefallen, dass das logisch unmöglich ist? Als er sagte, dass er
Peter ist, und ich sah auch Peter, warum dachte ich, er wäre nicht
Peter, sondern Peter? Mike, Jacob ist tot. Bist du sicher? Er
schwänzt wahrscheinlich wie so oft. Er ist tot, Mike.
Wem
gehört dieser Schal? Mir doch nicht. Sehe ich wie ein Mädchen aus?
Wo ist dieses Mädchen, wie welches du nicht aussiehst? Peter starrt
den Direktor ungläubig an. Ich soll etwas mit irgendwas zu tun
haben? Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Und? Bin ich
schuld oder was? Mike, komm her. Hast du diesen Schal schon mal
gesehen? Mist, vier. Mike? Fünf sechs sieben acht neun was? Komm
her. Hallo, mein Freund. Hast du etwas mit dem Verschwinden eines
Mädchens zu tun? Wovon reden sie? Um sieben Uhr abends wurde sie zum
letzten Mal gesehen. Acht neun wer gesehen? Wo gesehen? Die Jungs
wissen nichts, sagt der Cop. Der Direktor steht auf und verlässt das
Büro.
Mike,
weißt du, von wem er spricht? 79,80,81... Drei hoch vier. Eigentlich
müsste ich drei hoch neun gehen. Fuck...
17.
Ich wache auf, und es ist acht Uhr. Ja, und? Acht Uhr abends. Ich bin
um zehn ins Bett gegangen. Und? Ich bin zwei Stunden früher
aufgewacht. Was? Du bist ins Bett gegangen und dann zwei drei Stunden
vorher aufgewacht? Macht das Sinn? Dass Jacob verschwunden ist macht
auch keinen Sinn. Und dieses Mädchen. Ja, dieses Mädchen! Mit
Jacobs Experiment hat das jedenfalls nichts zu tun!
Peter,
warum gehst du in den Wald? Nein, ich gehe nicht in den Wald. Ich
gehe wie du zu dir nach Hause. Nein, du gehst in den Wald. Du gehst
dann auch in den Wald. Nein, hier ist schon meine Haustür. Peter!?
18.
Und du bist dir sicher, dass er die ganze Zeit, bis du an deiner
Haustür warst, mit dir zu dir nach Hause gegangen ist? Der Cop ist
verwirrt. Es war so, versichert Mike. Wie kann er dann zugleich in
den Wald gegangen sein? Sagen Sie es mir! Eins ist mir klar - zwei
Kinder sind schon verschwunden, irgendwer oder irgendwas treibt hier
sein oder ihr Unwesen. Drei was ist jetzt mit Peter? Hat ihn jemand
gesehen? Der Cop nickt. Wer? Du. Du hast ihn als Letzter gesehen.
19.
Neun hoch neun. Amen. Absolutes Universum. Amen. Unendlich Amen. Drei
Sekunden den Atem anhalten. Mike sitzt auf dem Dach der Schule, Füße
hängen runter, er sieht, wie unbeschwerte Elftklässler auf dem
Pausenhof Basketball spielen. Es ist sieben Uhr abends. Mike? Bist du
schon siebzehn? Neun hoch neun. Amen. Absolutes Universum. Amen.
Unendlich Amen... Was? Nein. Erst nächsten Monat. Wieso? Weil es
cooler ist, mit 16 zu sterben. Jacob, bist du tot? Ja, ich bin tot.
Jacob ist wie eine Mumie in Schwarz, sein Gesicht gehäutet, Mike
sieht es, doch zugleich auch nicht; er unterhält sich mit Jacob, als
wäre dieser ganz normal am Leben. Wenn du nicht springst, fällst du
runter, bemerkt Jacob. Du hast Recht, springt Mike.
20.
Eine Blutlache haben wir gefunden, keine Leiche. Hat jemand die
Leiche gestohlen? Wer weiß. Das vierte verschwundene Kind in dieser
Woche. Kinder, das waren keine Kinder. Für mich waren das Kinder.
Haben Sie Kinder? Nein. Dann sagen Sie auch nicht, Kinder wären mit
16-17 keine Kinder... Wissen Sie, ich habe zwei Kinder. Dan und
Albert. Dan ist vor zwei Jahren von uns gegangen. Albert tut so, als
hätte es Dan nie gegeben. Dabei war Dan doch sein einziger Bruder...
Schöne
Geschichte, durchaus. Ihr Viecher, ich habe mir gerade die Hände
gewaschen, und ihr kommt schon wieder! Warum verhüllst du dein
Gesicht? Und warum kümmerst du dich um diese Kleine da? Mit einem A
vor ihrem Namen wird sie nicht zum selben Mädchen! Ich weiß. Ich
mag sie. Sie ist süß. Sie hat zwar eine andere Haarfarbe und ist
ein Jahr jünger, aber ich habe so ein Gefühl bei ihr... Glaubst du,
das dein Bruder tot ist? Nein. Ich glaube, er hat sie nicht ein
einziges Mal angefasst. Jetzt idealisierst du! Nein, und ich fühle
mich auch nicht schuldig. Ihr verdammten Viecher! Warte. So...
Verschwindet hier... So ist gut. Vielen Dank. Ich geh mir die Hände
waschen...
21.
Kitiane, du kanntest Victor? Und diesen, wie hieß er... Jacob... Die
zweite und die dritte Generation. Und kanntest du jemanden von der
Ersten? Da waren nur zwei, ein Junge und ein kleines Mädchen. Und
noch ein Junge, nicht? Ja, aber er hat nicht mitgespielt. Vielleicht
hat er es doch getan. Heimlich. Jedenfalls ist er danach auch
verschwunden. Julika, ist dir kalt? Nein, das bin ich. Du
Schneeflocke! Du Weltmeisterin im Vorsichtigkitzeln.
Ich
kannte einen, der war wie Victor. Wo ist er jetzt? In der Hölle.
Julika, ich kann deine Tränen ahnen... Ja, mach es. Es ist so
kirsch, wenn du das machst. Überall wo die Tränen hinfließen....
Könnten... Die Knöpfchen waren eigentlich bedeckt, du Naschkatze!
Aber es macht dich so warm. Komm unter die Decke. ... Er hieß Ian.
Dabei hätte ich dich kennen können. Ich wollte damals die Schule
wechseln, noch bevor ich dieses Mädchen kannte. Dann wäre das alles
nicht passiert. Es muss nicht passiert sein. Soll ich es rückgängig
machen? Wie denn? Das ist unmöglich. Ist es denn logisch, was
passiert ist? Nein, natürlich nicht. Ist es aber. Also kann es
rückgängig gemacht werden.
22.
Mr.Nay, was ist ein graues Loch? Nun, ein graues Loch. Schwer zu
sagen. Wir sind nicht schwer von Begriff, Mr.Nay. Seid ihr nicht!?
Dann hört gut zu! Ein graues Loch ist eine Verbindung zum Urgrund,
ein Tor in eine andere Welt, die vor unserer war, nach unserer war,
vor unserer sein wird und nach unserer sein wird und fortwährend ist
und unsere Welt fortwährend erschafft. Ich verstehe. Du verstehst!?
Ein graues Loch ist die Antwort auf die Frage ob die Welt im Logos
aufgeht oder nicht, und es ist keine gute Antwort. Aber eine
logische, nicht wahr? Narürlich! Sonst wäre sie keine Antwort,
sonst wäre sie nur Unsinn! Das Dasein des Unlogischen ist ein
logischer Schluss!!
Kitiane,
worüber habt ihr da geredet? Dein Haar ist heller als meins, aber
ich habe weniger verstanden... Dieses Lachen! Lach nochmal, Kitiane!
Ich kann nicht. Das geht nur spontan. Julika, wer ist diese Lily?
Finde es beim Kitzeln heraus!
Linksdrehend?
Spin? Nach links drehe ich mir zu Kitiane, nach rechts zu dir. Ich
bin aber wirklich, und diese komischen Teilchen, die sind nicht
wirklich. Das ist doch wieder eine Metapher! Kleine Lily. Jedes Wort
ist eine Metapher.
URGRUND
1.
Zwei
Brüder um die 14 leben in einer Kleinstadt am Waldweg. Der ältere
Schüchterne verknallt sich in ein neunjähriges Mädchen, der
jüngere Gedankenlose spielt mit ihr. Der Ältere wird eifersüchtig
und weiht die Beiden in ein Spiel ein - wer 100 Mal am Stück R.....d
sagt, ist fearless. Das Spiel wird am späten Abend gespielt, immer
wieder, der Initiator spielt absichtlich und unauffällig falsch. 22
Tage nach dem letzten Spiel verschwinden die Beiden; später entdeckt
der Ältere sie nackt und ausgeweidet an Strommasten am Waldweg
hängen... Was sagst du? Wollen wir uns den Film angucken? Ja,
komm... Was meinst du, was ist aus dem Älteren geworden? So irre wie
der Film war, glaube ich, er ist vor Schuldgefühlen schnell gealtert
und lebt irgendwo am Rande der Stadt als Einsiedler.
2.
Sieben flache, drei tiefe Dimensionen. Ist es das? Dann wäre das
Wort ein Symbol. Nein, im Gegenteil. Das Wort selbst spräche zu uns.
Es ist spät, Kristian. Nimm deine Medizin. Und sei froh dass du noch
lebst. Aber natürlich.
Mr.Nay,
wie alt sind Sie? Sehr alt. Was wollen Sie? Nur mit Ihnen reden.
Empfinden Sie Schuldgefühle, Mr.Nay? Wofür!? Dafür, dass ich alt
bin!? Verschwinden Sie von meinem Grundstück!
3. Sie
haben es falsch verfilmt. Egal. Nicht egal, der Junge kann nichts
dafür, und die Schweine geben ihm die Schuld! Jeder kann was
dafür... Back keine Allgemeinplätzchen hier! Kristian nimmt einen
Revolver. Ich komme zurück. Aber anderes als du, mit Informationen!
Viel Spaß, Spaßvogel!
Richard
bemerkt, dass sein Name sieben Zeichen hat und auf ein d endet. Er
lacht. Das Wort sollte wirklich Richard heißen. Kristian sieht nur
ein leeres Haus, aus dem alte Sachen getragen werden. Mr.Nay ist
heute Nacht verstorben, sagt ein Cop.
4. Wie
hast du überlebt? Den Unfall oder den zweiundzwanzigsten Tag? Du
hast ja beides überlebt, stellt Richard fest. Kristian hört sich
die CD wieder und wieder an. Aha, hier habe ich es andersrum
ausgesprochen.
5.
Kommen Sie schon her, ich habe nicht viel Zeit! Sie haben es also
überlebt? Ich hasse Überlebende. Kommen Sie, trinken Sie einen Tee.
Wie heißen Sie? Kristian. Was ist unter diesem Tisch, Sir? Wieso? Es
riecht vertraut. Vertraut, sagst du. Greif es mal mit der Hand. Fühlt
sich ein wie ein Hund nicht wahr? Eher wie eine Ratten. Wie mehrere
Ratten. Was willst du also? Ich hör dir zu. Ich habe den ganzen Tag.
Lass dir Zeit. Es geht um Ihren Sohn, Sir. Um welchen? Dan. Woher
wusste er von dem Spiel? Das ist lange her, jungen Mann. Und wissen
Sie, ich muss noch was erledigen... Wen von den drei Personen hat Dan
gekannt? Den älteren, den jüngeren Bruder, das kleine Mädchen?Was
für ein Porno läuft da auf Ihrem Bildschirm? Hören Sie überhaupt
zu!? Ich höre immer zu. Dieser Porno da, der läuft schon seit vier
Jahren. Hört ein Film auf, fängt ein anderer an. Ich nenne das
Pornolader. Er besorgt sie automatisch aus dem Netz. Den vorigen
löscht er immer. Mein Sohn Dan wollte schon immer Informatiker
werden. Er hat das Ding programmiert! Sie müssen sicherlich stolz
auf Ihren Sohn sein. Oh ja, das bin ich, Junge. Setz dich, nimm dir
ein paar Kekse. Oder willst du eine Zigarre?
6.
Auch Mädchen haben manchmal ältere Brüder. Wen sucht er? Wo
verbirgt er seine Rachepläne? Hat er den Film gesehen oder es schon
vorher gehört? Wie der Name des Mädchens war, ist ja bekannt...
Richard,
kennst du einen Ken? Wer kennt keinen Ken? Jeder kennt einen Ken! Den
Ken. Ein altes Foto, Kristian. Er muss sich seitdem sehr verändert
haben. So einen Ken habe ich gestern Nacht in der U-Bahn gesehen. Er
hat immer wieder diesen Namen gerufen. Und dann immer wieder Rahabad,
Rahabad. Ja, das ist der Ken. Er kennt das Wort nicht. Er versucht es
immer wieder mit dem falschen Wort. Er will zu seiner Schwester.
7.
Ken!? Wer bist du!? Ich heiße Kristian. Ich habe das, was du
suchst... Wo fahren wir hin? Wo hast du früher gewohnt? Hier, rechts
abbiegen. Und jetzt links. Dieses Haus da. Verrätst du es mir jetzt?
Welcher der beiden Wälder ist es? Der da. Steig aus dem Auto. Wir
gehen da hin.
Es ist
spät. Spät in der Nacht, ja. Ich habe viele Bekannte, die Angst vor
der Dunkelheit haben. Abends, wenn es genauso dunkelhell ist wie kurz
vor dem Morgengrauen, haben sie Angst. Am frühen Morgen nicht, auch
wenn es objektiv dunkler ist als zu vergleichbaren Abendzeiten. Was
ist die Lösung? Die Erwartung ist es. Niemand hat Angst vor etwas,
was er unmittelbar vor sich hat. Man hat Angst vor dem, was man zu
kommen erwartet...
Komm,
hier gehts lang. Ist das ein Grabstein? Eher ein Steingrab. Aus alten
Zeiten. Glaub mir, ich kenne ältere Zeiten. Das ist bestimmt so ein
Kulturgut von vor 2000 Jahren, wenn nicht gar früher! Willst du ein
Lagerfeuer machen? Warum nicht.
8.
Jetzt wird es langsam Morgen. Verrätst du mir das Wort? Hast du ihn
getötet? Den einzigen Menschen, der meine kleine Schwester jemals
lieb hatte? Ich hoffe er lebt und ist gesund. Warst du kein guter
Bruder, Ken? Ich war ein Arschloch, kein Bruder. Ich hab sie und ihre
Freundinnen vor Arschlöchern wie mir beschützt, ansonsten war sie
mir scheißegal. Sag mir jetzt das Wort. Ruhelid. Ruhelid? Ruhelid!?
9.
Kristian, wach auf. Wer will mich denn so früh tot sehen? Finde es
selbst heraus. Er steht vor der Tür. John!? Ich hoffe du weißt dass
ich tot bin. Du wirst mir helfen, ihnen Julika zu überreichen.
Julika? Bist du verrückt? Nein, tot. Ich gehe da nicht wieder hin.
Ich opfere ihnen Julika. Und du wirst mir dabei helfen.
10.
Ich wusste nicht, dass man Tote durch eine Injektion lähmen kann,
lacht Richard. Lach nur, giftet John. Liegst du bequem? Hast du
Schmerzen? Wo ist Kristian, du Hund? Wo Kristian ist, kann dir jetzt
egal sein. Ich werde dich beim lebendigen, oh entschuldige, beim
toten Leibe sezieren. Glaubst du, Kristian will sie mit dir teilen?
Was denn? Was mit mir teilen? Julika? Ach, welche Julika. Die
Belohnung für Julika. Er wird sie foltern, bis sie hundertmal das
Wort sagt, dann gehört sie ihnen. Und was hat Kristan davon? Wissen.
Unendliches Wissen. Alles Wissen der größten Zivilisation, die
jemals existierte. Es war vor 180000 Jahren, als sie den universellen
Code entschlüsselten, als sie lernten, durch Aussprechen bestimmter
Worte die Realität zu verändern. Keine Zauberei. Wissen. Das Gesetz
hinter den Naturkonstanten. Würdest du nicht jedes erbärmliche
Menschlein für dieses Wissen opfern? Opfern. Du willst sie doch auch
opfern. Und wofür? Für das Überleben? Du bist doch schon tot, was
für ein Überleben? Andererseits lebst du, einmal gestorben bedeutet
nicht gleich tot. Nicht wahr!? Richtig. Ja, richtig. Wen hast du denn
gesehen auf der anderen Seite? Vielleicht einen Bekannten von mir
getroffen? Ja, sehr gut möglich. Aber nicht in dieser Form. Nicht
als erbärmliches Menschlein. Als dieses... graue Ding... Erkennt man
sich denn, wenn man so ein graues Ding ist? Viel besser als hier.
Diese Dinger haben keine Körper. Sie sind Seelen. Je größer, um so
mehr leiden sie. Oder andersrum. Der Kausalnexus ist dir nicht
bekannt? Nein, leider nicht. Ich weiß nur, dass Größe und Leid
zusammenhängen. Wie und warum weiß ich nicht. Mach mich wieder fit
und lass uns Julika holen. Sie ist bestimmt nicht allein. Was auch
immer du mit mir vor hast, stell dir vor, du könntest es mit
jemandem tun, der jünger, zarter und lebendiger ist als ich.
Überzeugt hast du mich nicht. Aber überredet. Verführt. Der Teufel
sei mit dir! Und mit deinem Geiste. Beeil dich, Richard, Kristian ist
ein harter Hund. Er darf nicht vor uns bei Julika ankommen.
11.
Rache? Wofür? Warum geht das nicht in deinen Kopf? Ich will wissen.
Und dafür brauche nichts als ein Menschenopfer. Stell dir vor, die
Menschen in der Antike hätten von dieser Option Gebrauch machen
können! Menschenopfer für kopernikanisches Weltbild, Elektrizität,
Automobil... Warum kommt Julika nicht? Ich weiß es nicht. Ich kann
dich auch einsperren, Kitiane. Du wirst dumpf und witzlos verhungern.
Es sei denn du kratzt dir mit deinen Kitzelkrallen einen Weg in der
Wand. Sind noch andere Mädchen hier? Nein. Du lügst.
Welch
eine Überraschung, Julika. John? Hast du mich entführt? Nein, das
war Richard. Sag jetzt das Wort. Ist es das, was du von mir willst?
Jetzt schon. Ich bin tot. Hör auf mit dem Selbstmitleid, lacht
Richard. Selbstmitwas!? Leid. Leid. Kennst du Leid? Weißt du, was
das ist? Ken, zeig es ihm! Ken? Welcher Ken!? Der Bruder seiner
Schwester, Richard.
Jetzt
sind wir allein, Julika. Während Ken Richard häutet und auf einem
Baum aufhängt, sagst du das Wort. Hier und jetzt. Für mich. Für
dich? Was macht dich denn so besonders? Du weißt nicht, Julika, wie
ich dich geliebt habe. Aber in der Hölle wirst du lernen, was Liebe
bedeutet.
Kitiane,
sieh mir in die Augen. Es genügt ein sehr geringer Schmerz, um dir
enormes Leid zuzufügen. Dabei will ich doch nur wissen, wo Julika
ist. Wer ist da an der Tür? Dark enthüllt sein Gesicht. Ein
vierzenjähriger Junge. Er kommt mit Lily. Das also war des Katers
Kern, scherzt Kristian. Ich dachte, du bist schnell gealtert. Im
Gegenteil. Forever young, wie man sieht. Angst macht zynisch, ich
weiß. Setz dich. Lily, schneide durch. Mit einem seidenen Tuch hast
du sie gefesselt. Das kommt dir zugute. Hast du sie berührt? Ich
schwöre, nein! Kitiane bestätigt. Dabei hätte sie lügen können.
Geh, Kristian. Es gibt andere Wege den Urgrund zu erforschen.
12.
Hallo John. Ich habe Ken daneben aufgehängt. Wo ist Julika? Sie hat
es gesagt, freut sich John. Ich bin jetzt frei. Schau mal nach
draussen. Sie sind auf den Bäumen. Sie fressen sie auf. Man braucht
keine Haut, um am Leben zu sein. Sie werde lange leiden. Was ist mit
dir John? Warum macht es dir so viel aus, zu leiden? Andere ertragen
es mit Würde, und du denkst an Flucht oder an Rache... Lily ist tot,
nicht wahr? Sie hat das Wort gesagt, weil der Junge... Es gab nie
einen Jungen. Lily ist in Sicherheit. Wo ist Julika?
Ein
weißer Ballon steigt in die Lüfte. Eine Prinzessin. Nicht im Korb.
Es gibt keinen Korb. Und kein Entkommen. Kannst du fliegen, giftet
John. Du hattest nie eine Chance, stellt Dark fest. John weint. Hätte
er nur die geringste Chance, hätte er für Julika alles getan. Er
erhängt sich.
13.
Kann es sei, alter Freund, dass du dir all diese Dinge nur
einbildest, um deine Tat zu sühnen? Nein, ich bin sicher, dass es
sie gibt. Warum verhüllst du dein Gesicht? Schämst du dich, dass du
jünger aussiehst, als du bist? Was war mit dem Unfall? War es
vielleicht kein Unfall? Wolltest du dich umbringen? Gegen eine Wand
rasen? Ich erinnere mich nicht. Gehen wir es nochmal durch. Wer ist
Julika? Das Mädchen, in das alle verknallt sind. Außer dir? Außer
mir. Ist es nicht vielleicht andersrum? Vieles ist anderesrum,
Doktor.
Er hat
sich diesen John ausgedacht, werte Ingrid. In diesen John packt er
all seine Schwächen und all seinen Schmerz. Für seine Person bleibt
ein schwarzer Ritter der Nacht, ein unnahbarer geheimnisvoller
Gesichtsloser. Der Junge denkt sich schreckliche Dinge aus, um das
was er getan hat zu übermalen, aber seine Schuldgefühle werden nur
noch größer. Neunzehnter Tag. Es gibt Fortschritte, Ingrid. Jetzt
hat er Julika losgelassen. Sie ist, wie er sagt, in einem weißen
Ballon in den Kosmos geflogen. Nicht im Korb. Im Ballon selbst.
Zwanzigster Tag...
14. Er
hat ihren Namen ein Wenig verändert und ihre Biographie neu
erfunden. In seiner Phantasie Welt lebt sie und hießt Lily.
Interessant, darf ich jetzt zu ihm? Wir haben ein Problem, Professor.
Er ist heute Nacht verschwunden.
Du
ließest John auch ein kleines Mädchen haben, nicht wahr? Ich? John
hatte ein kleines Mädchen, Kristian. Sie hieß Emily. Kristian
lacht. Sie hatte dunkles Haar, war klug, ihr hättest du etwas
Unanständiges niemals zugetraut, nicht wahr? Kristian, warum
sprichst du wie ein Arzt mit mir? Ich frage mich etwas anderes, mein
schwarzer Freund. Warum bin ich nicht tot? Warum habe ich einen
Unfall überlebt - genauso wie du, warum hast du mich nicht
umgebracht, als ich Kitiane foltern wollte? Ken und Richard hängen
auf den Bäumen, ich, der skrupellose Forscher, laufe frei herum.
Wolltest du nicht schon immer ein Forscher sein? Parapsychologie? Das
Unbekannte erforschen? Das, was es eigentlich gar nicht gibt? Mach
mir einen Tee, Kristian. Aber natürlich. Oder habe ich eine Wahl?
15.
Ballon? Sie ist bestimmt in dem Wald da vergraben. Die anderen
Mädchen? Sie mussten für seinen Gewissenskonflikt herhalten.
Vierzig Mann durchkämen jetzt den Wald nach Hinweisen. Vielleicht
finden wir ja die Leiche...
Kommst
du heute Abend nochmal raus? Nein. Meine Mutter sagt, ich soll Mathe
lernen... Du warst gestern Abend nochmal draußen! Ja, mit deinem
Bruder. Was ist denn?
Rhythmisch
schaukelnd gehe ich in den Wald. Es ist spät, schon dunkel. Meine
Augen sind zu. Ich mache sie auf, wenn ich im Wald bin. Ich mache die
Augen auf. Ich gehe weiter. Da ist dieses Steingrab. Ich setzte mich
dort hin. Ich schreie, kommt, ihr Bastarde, holt mich! Ich weiß
nicht, zu wem ich da spreche. Ich bin wütend. Ich bin für Mädchen
nicht interessant. Der erbärmlichste Loser ist ihnen sympathisch,
aber nicht ich. Was mache ich nur falsch? Ich stehe auf und gehe.
Angst? Fehlanzeige. Nur Verbitterung. Nur Enttäuschung. Ich gehe
nach Hause und mache mir einen Tee.
16.
Kommen Sie rein. Ach, du bist es wieder. Ruhe da unterm Tisch! Was
führt dich zu mir, neugieriger kleiner Kristian? Bin ich der Junge?
Ja, Junge.
Er sah
also mich in den Spiegel. Ich bin der, der vierzehn ist, er müsste
jetzt älter sein. Er hat mich immer Maus genannt und beschützt...
Meine Söhne kannten ihn nicht. Aber das, was er angerichtet hat,
kostete ihnen das Leben. Er hat es ausgelöst! Das ist doch real,
oder? Meine Söhne sind real. Und sie sind tot. Nur weil ein Bastard
sich irgendetwas ausdenkt, bedeutet das nicht, dass es nicht real
sein kann. Es gibt nur einen kleinen aber feinen Unterschied -
ausgedachte Geschichten enden immer gut, denn sie sind
Selbsttherapie. Die Realität sieht anders aus. Ich werde Dan und
Albert nie wieder sehen... Aber warum? Warum er sich all das
ausdenkt? Um zu vergessen, um zu verdrängen. Er will es nicht
wahrhaben. Ich habe meine Frau mit einer Sektretärin betrogen, sie
hat mich verlassen. Ich erfand Tausend Entschuldigungen, aber getan
ist getan. Deine Entschuldigungen interessieren mich nicht, sagte
sie. Also redete ich mir ein, ich hätte sie verlassen. Aber das hier
ist weitaus ernster.
17.
Ja, der Mann hat Recht. Warum tun die Grauen ihm nichts? Er scheint
der Einzige zu sein, dem sie nichts tun können. Kristian? Richard,
du? Der Typ, der nicht wollte, dass du mit mir spielst, der sitzt
dort im Café. Sieht nicht gut aus.
Lange
nicht sehen, hm? Was willst du? Du kannst mir dein Gesicht ruhig
zeigen. Dann sehe ich aber deins. Es ging dir nie um das Mädchen,
nicht wahr? Stimmt. Ich wollte Jan von dir ablenken, so paranoid wie
ich bin. Er ist mein kleiner Bruder. Ich hatte schon immer das
Gefühl, dass er mir alles nachmacht. Kristian dreht sich kurz um,
der Typ ist weg. Kristian wird morgen 15.
18.
Das entführte Mädchen wurde heute Nacht tot aus dem Fluss gefischt,
heißt es früh in den Nachrichten. Die Identität der Leiche konnte
nicht festgestellt werden, heißt es in den Abendnachrichten.
19.
Der Junge schläft. Er ist neun, doch im Traum ist er 15. So alt wie
sein vor einigen Jahren verstorbener Freund. Er liegt auf Kunstrasen
in einer Halle. Es ist Winter. Er geht raus. Es ist Sommer. Die Sonne
ist so kuschelig, es ist Abend. Er legt sich auf die Wiese. Das ist
ein Basketballplatz mit weichem Kunstbelag. Ein grosser und breiter
Mann, etwas dick, ruft nach dem Jungen. Es ist zehn Uhr morgens und
alle sollen sich auf dem Platz in der Mitte vom Internatsgelände
versammeln. Es fängt an zu regnen, ganz leise. Es ist Trauer, die da
regnet. Es sind Tränen, die vom Himmel fallen. Alle versammeln sich.
Hubschrauber kommen, schiessen mit grosskalibrigen automatischen
Waffen in die Menge. Der Junge wacht nicht auf. Es ist real.
20.
Dieser Kristian war der letzte, der das Wort kannte? Ja, Professor.
Und sein Freund? Ist er nun tot oder nicht? Als wir das Massaker
zelebrierten, war er nicht dabei. Er ist tot, und dann ist er doch
nicht tot, und geistert immer wieder durch die Noosphäre. Gute
Arbeit, lobt der Professor. Brennt zur Sicherheit den Wald nieder,
lasst es wie Brandstiftung aussehen... Professor? Ja. Was ist mit dem
Urgrund? Mit den grauen Löchern? Nun, sie sind nicht die ganze Zeit
offen, im Gegenteil. Es gibt kritische Zeitfenster, wer weiß, was
auf der anderen Seite in diesen unruhigen Zeiten passiert, da ist der
Urgrund offen und das Wort kann graue Löcher öffnen. Für
zehntausende von Jahren treten keine grauen Löcher auf, ich nenne
das den schlafenden Urgrund...
Einen
Vierfachen, keinen Doppelten. Danke. Wissen Sie, der Mann, der seine
beiden Söhne an diese Wesen verlor, tut mir schon irgendwie Leid.
Ich habe gestern vierzig Kinder niedergeschossen, aber das war ja in
Ihrem Auftrag, Professor, und ich bin, wie Sie wissen, kein herzloser
Mann. Dan und Albert waren doch Brüder? Cousins, lacht der
Professor. Ich habe mich in letzter Zeit für ihren Vater ausgegeben,
um herauszufinden, wer noch alles das Wort kennt. Die Geschichte
kennen viele... Und jetzt, nachdem sie verfilmt wurde, auch das Wort!
Ihre Vorgehensweise erscheint mir nicht logisch Professor. Laut lach
der Professor auf. Alles fließt, sagt Heraklit. Ich wollte dem ein
Ende setzen. Wer sind Sie!!? Nur eine graue Maus, mein Freund. Dark,
so nennt er sich jetzt, ist ein Getriebener zwischen beiden Welten.
Er sprach das Wort als Erster - in neuerer Zeit - hundertmal aus. Er
ist für ewig dazu verdammt, eine Brücke zwischen unserer Welt und
ihrer Welt zu sein. Auf seinen Gedanken bewegen wir uns fort. Durch
ihn und in ihm und mit ihm kommen die grauen Wesen immer wieder, wenn
einer das Wort hundertmal spricht. Ja, mein Freund, das Tor ist jetzt
für immer offen. Aber da die Logik außer Kraft gesetzt ist, kann
alles, was wir jetzt erleben, nur ein Produkt unserer Phantasie sein.
In Gedanken können wir es nicht anderes als logisch fassen, um das
was passiert uns erklären zu können, aber wir erklären nichts, wir
denken aus, oder werden ausgedacht. Entschuldigen Sie, ich höre mir
selbst gern beim Reden zu. Ich sollte jetzt aufhören. Einen
Achtfachen bitte!
21.
Jan, willst du das Wort wirklich wissen? Sag schon. Ich habs doch nur
ausgedacht. Denk dir doch auch so ein Wort aus! Komm schon, Julian,
sag es! Versprichst du mir, dass du mit Kens Schwester nicht mehr
spielst? Wieso? Ich fühle mich in meiner Ehre gekränkt wenn mein
Bruder mit einem Köter aus dieser Flittchenfamilie spielt. Ja dann
scheiß doch auf diesen Köter! Ist eh dumm wie ein Spielzeug! Sag
jetzt das Wort.
Und
wenn es stimmt? Was? Dass sie kommen. Woher willst du es wissen,
Julian? Hast du es ausprobiert? Pokerface, was Julian angeht. Er sagt
seinem jüngeren Bruder nur: Aber mach es nicht. Wieso, denkt Jan,
ich bin doch kein Angsthase.
22.
Redered.
2009