Dienstag, 16. Januar 2018

Was Worte nicht verschweigen können





Der Liebesbrief der Liebesbriefe


Wie ein Raum, der seit dem Jahr 1818 nicht mehr betreten wurde. Du brauchst ihn nicht zu betreten, um dort zu sein. Altes Holz und Leder, keine Lampen oder Kerzen. Du schreibst bei Sonnenlicht oder bei geistiger Erleuchtung. Dieser Raum hat keinen Ort: er ist wie ein Raum, doch kein Raum, kein Hier oder Dort, ohne Koordinaten, aber mit einer malerischen Aussicht auf ein tiefes Tal. Ein Fluss, bewaldete Berghänge. Du kannst den Abend wie den Atem anhalten. Wie ernst könnte ich mein Ich meinen, das nicht Dein Du wäre? Ich existiere wie jemand, der Dich nie getroffen hat, außer mitten durch den Pfeil, mit dem Du mein Herz trafst. So traf der Pfeil doppelt, und dieses doppelte Du sagt mir seitdem, dass ich nicht Ich bin. Ich bin der, der Dich sieht, wie Du einzig sein kannst, wenn Du bist, - doch ich bin auch der, der Dich erlebt, wie Du nicht bist, nicht jedesmal wissend, dass Du so nicht sein kannst. Du sitzt in diesem Nichtraum, der Abendhimmel hat die Farbe von reifen Pflaumen angenommen, und sieht aus wie Dein Blick, riecht wie Dein Haar. Ich bin nicht der, der ich nicht bin, wenn ich Ich bin, wozu ich mich aber nicht entschließe, solange ich Dich als Möglichkeit und Wirklichkeit zugleich weiß, und beides will. Ich will unser Zusammentreffen hinauszögern, doch es macht nur einen Sinn, wenn es ein Wiedersehen ist. Hätte ich Dich nicht schon immer gewusst, nur gekannt oder nicht gekannt, wärst Du immer nur diese flüchtige Wirklichkeit, die nie als Möglichkeit existiert hat.

Wie sich Deine Augen kurz schließen, wenn Dein helles Lächeln den ortlosen Raum mit Sonnenlicht erfüllt. Wie Dein kindlicher Mund zum glatten Durchschuss mit einem Kuss durch die Schläfe lädt, wenn Dein dunkler Blick, der nie daneben schießt, mich ganz Auge macht. Als könnte ich mit der ganzen Seele sehen, wäre durchsichtig, deshalb auf der Suche nach einem Versteck, bis mein Ort raumlos wird. Ein samtweicher zartschmelzender Schnee in meiner Hand: ertrinke ich im Immerjetzt, wenn ich Deine Hände halte? Ist der Takt deines Herzens, Dein Schnurren, o lieblichste aller Katzen, der Wegweiser zur Ewigkeit? Eine klare Sommernacht auf der Brücke, wir fahren los, eine stille Autobahnnacht ohne Geisterverkehr, wir fahren weiter, der Morgen kommt nicht, wir beschleunigen, verschwinden von allen Karten, denken uns neue Orte, Wege und Städte aus, nehmen die Ausfahrt, laufen zu einem kleinen Fluss, verlieren und fangen uns im Morgennebel. Mein Mund flüstert Deinen Namen, Deiner flüstert mir Küsse zu, hauchzart, feinperlend, schneeweiß, kirschrot. Woher nimmst Du die Kraft, ein so kleines und fragiles Wesen, mit der Du den Sternenhimmel wie eine Uhr aufziehst? Ich bin das älteste Gestein der Welt, und Du der Fluss, der niemals versiegte, doch jetzt läuft Dein Wasser zurück zum Gletscher, damit wir endlich vereisen können. Du vergräbst Dich tief im Sessel, hinterlässt nur einen Torfgeruch und etwas Katzenfell, schwebst nun über dem Tal, und verdichtest Schmerzen einsamer Seelen zu Versen, und sie brechen wie Glas, brechen um, die Gedichte werden dünner, doch Deine Hauchschrift ist deutlich zu spüren. Du lachst mir zu: natürlich wirst Du gehen können ohne Skelett, und leben ohne Kreislauf, und denken ohne Neocortex, und lieben ohne Herz. Ich vertraue Dir rückhaltlos - weniger Rückgrat habe ich nicht.

 
1.2013