Donnerstag, 13. Juni 2013

Nihilokratisches Gespräch



Heute, im verschneiten Tierpark irgendwo im Norden Europas, trifft der alte Grieche Hypothenus drei philosophisch unbegabte, aber gesinnungstechnisch hochgerüstete Perversönlichkeiten: einen radikalen Optimisten, einen radikalen Pessimisten und einen katholischen Priester.

Hypothenus: Wenn ich guten Tag sage, trage ich wahrscheinlich Eulen nach Athen...

Pessimist: Nein, Sie begehen mit dieser haarsträubenden Lüge ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!

Priester: Mäßigen Sie sich, Junger Mann! Der liebe Gott...

Hypothenus: Der Gott der Liebe bei euch Christen, ja...

Pessimist: Wenn es ihn gibt, ist er der Teufel persönlich.

Hypothenus: Sie schweigen, o Optimist?

Optimist: Das Leben ist schön. Man muss es nur richtig leben.

Pessimist: Alle töten, das wäre richtig.

Priester: Eine schwere Sünde!

Optimist: Nein, einfach eine traurige Lebenseinstellung. Sehen Sie, ich sitze im Rollstuhl, und früher war ich ein Leichtathlet, habe Preise gewonnen. Und bringe ich mich jetzt um? Nein. Finde ich jetzt alles beschissen? Überhaupt nicht. Ich genieße das Leben.

Priester: Was für ein Unglück. Wie kam es denn dazu?

Optimist: Dass ich das Leben genieße?

Priester: Dass Sie im Rollstuhl sitzen.

Optimist: Zivilcourage. Ich hatte immer felsenfeste moralische Prinzipien. Nun ja, ich habe Kinder beschützt...

Pessimist: Und die Kinder haben sich so bedankt?

Optimist: Die Kinder haben sich später bedankt. Der Mob wars, nachdem die Schurken von den Kindern abließen und rumschrien, ich würde sie sexuell belästigen. Sie stürzten sich auf mich und schlugen mich bewusstlos. Danach wurde ich der Belästigung angeklagt und verurteilt. Nachdem ich aus dem Knast raus war, wurde ich oft auf dem Rollstuhl von Kindern angegriffen und gedemütigt. Aber ich genieße das Leben.

Hypothenus: Haben Sie ein Geheimnis, das Sie keinem verraten?

Optimist: Nein. Das Leben ist doch schön. Das Leben, die Menschen, alles.

Pessimist: Ich muss kotzen! Die Menschen sind ein Haufen Dreck! Das Leben!? Ein Geschenk Gottes, nicht wahr? Soll er sich sein Geschenk in den Hintern schieben!

Priester: Sie kommen in die Hölle, wenn Sie so reden.

Pessimist: Ich bin bereits in der Hölle. Das Leben an sich ist die Hölle.

Hypothenus: Sie sind, o Pessimist, ein priviligierter Mann. Sie sind Beamter, unkündbar, und leben ganz schön epikureisch für mein Befinden.

Pessimist: Soll ich mich auch noch dafür bestrafen, dass alles Scheiße ist? Ja, ich fahre zweimal im Jahr in den Urlaub! Ja, ich gehe in die teuren Puffs! Ja, ich saufe die feinsten Brände, aber nur damit ich die Qual hier überhaupt aushalte und mich nicht erhänge.

Priester: Selbstmord ist eine Todsünde.

Optimist: Ich habe auch schon an Selbstmord gedacht, als die Frau meines Lebens mich verlassen hat. Sie hat sich in einen Anderen verliebt, traurige Geschichte. Aber nicht so tragisch.

Pessimist: Vielmehr komisch. Wann hat sie Sie denn verlassen?

Optimist: Ich war in Untersuchungshaft. Einen Tag nachdem die Ärzte feststellten, dass ich nie mehr werde gehen können...

Pessimist: Und nie mehr laufen, springen, Preise gewinnen, Kohle scheffeln. Liebe ist eine Lüge. Wer Liebe sagt will betrügen.

Hypothenus: Ich bewundere Sie, o Optimist. Aber eine Frage noch: womit verdienen Sie jetzt Ihren Lebensunterhalt?

Optimist: Ich drehe Filme.

Pessimist: Was denn für Filme? Behindertenfilme?

Priester: Sie ignorantes arrogantes diskriminierendes Arschloch!

Optimist: Folterpornos.

Priester (verdutzt): Wie bitte!?

Pessimist (leise): Jetzt verstehe ich ihn. Er ist einer von ihnen geworden. Genauso ein Teufel wie alle Anderen.

Hypothenus: Verdienen Sie jetzt mehr oder weniger?

Optimist: Deutlich mehr.

Hypothenus: Und was ist mit Ihren moralischen Prinzipien?

Optimist: Sie jucken mich jetzt die Hypothenuse. Ich habe verstanden, wie der Hase läuft. Das Leben ist schön, man muss es nur leben. Verweigerung bringt nichts. Kein Wunder dass das depressive Arschloch hier, das im Gegensatz zu mir auf zwei Beinen steht und alles in den Arsch geschoben kriegt, das Leben so unerträglich findet. Werde erwachsen, Junge!

Priester: Mit Empörung verlasse ich dieses Gespräch!

Pessimist: Eine typisch pfäffische Haltung. Wenn was nicht rosa ist - ignorieren, flüchten, Augen schließen.

Hypothenus: Und jetzt mal ohne den Priester. Finden Sie, o Optimist, das Leben wirklich schön?

Optimist: Ohne den Priester? Ich bin hier eigentlich der Priester. Ich zeige am eigenen Beispiel, wie man mit schweren Schicksalsschlägen lebt, sich nicht brechen lässt, verzeiht, auf Rache verzichtet und die Menschen so liebt wie sie sind...

Pessimist: Und genausoein Schwein wird. Ich geh was saufen sonst werfe ich mich noch vors Auto.

Hypothenus: Urteilt selber, o Gaffer, wer Recht hatte und wer Pflicht - die Pflicht, dem Anderen zuzustimmen.


 1.2010

Dienstag, 4. Juni 2013

Weggesehen




Es war voll in der Stadt. Er war ein nüchterner schüchterner Mensch und fiel erst auf, als ihn die öffentliche Meinung auf offener Strasse angriff. Sie schlug mit einem Schlagstock brutal auf ihn ein. Alle sahen es und alle sahen weg, ignorierten völlig, was gerade vor ihren Augen geschah, und nur die Demokratie schaute sich das Ganze ein Bisschen länger an und konnte sich ein selbstironisches Schmunzeln nicht verkneifen.


 2010



Dienstag, 21. Mai 2013

Depressionismus




Elendig kauerte der Angeklagte auf seinem Stuhl, den Blick nach unten, und die zitternden Arme um sich selbst geschlängelt, um so viel wie möglich von dem, wessen er sich schämte - seiner selbst, - vor den streng urteilenden Blicken zu verstecken. Als der Staatsanwalt ihn einen Mörder nannte, da überkam ihn ein wohliger Schauer, er setzte sich gerade hin, legte die Hände auf den Tisch und schnitt ein Paar Grimassen, bevor er mit sich entschuldigender Stimme sprach: "Ich - ein Mörder? Hören Sie auf zu schmeicheln!"


 2000

Freitag, 17. Mai 2013

Der Achte Fünfte





1. Wer ist Deutschland


"Sozialer Aufstieg", murmelte Peter, "das bedeutet, dass es mindestens zwei Klassen von Menschen gibt. Eine höhere Klasse muss es geben, sonst könnte man nicht aufsteigen". Des Lachens konnte ich mich aber erst nicht enthalten, als Jürgen meine: "Klassengesellschaft, auch bekannt als Faschismus". Wir fuhren zu einer Veranstaltung nach Hamburg, Zug, zweite Klasse. Ein Linksextremist lud alle progressiven Kräfte des Landes ein, um den achten Mai auf seine besondere Art zu begehen; es gierte mich neu, denn so vertraut mir der Sowjetkommunismus auch war, war mir der westliche Linksextremismus immer ein Stück befremdlich.

"Ich war heute in einem Chat", berichtete Rolf, "Cocaine war mein Nickname. Eine junge Chatterin sagte: Hitler ist eine fette Sau. Ich berichtigte sie: Adolf Hitler (20.4.1889 – 30.4.1945) war ein eher schlanker, mittelgroßer Mann. Sofort wurde die Verbindung unterbrochen; ich wurde des Chatrooms verwiesen, weil ich Hitler sein Menschsein zugestand. Hitler darf nicht ein Mensch genannt werden; in Deutschland ist es strafbar, zu sagen, Adolf Hitler gehörte zur Spezies homo sapiens sapiens". "Nur ein Beispiel unter unzählig vielen", meinte Jürgen, "Und was denkt das junge Mädchen? Wahrscheinlich, dass der Chatter Cocaine ein Nazi ist. So bildet man sich in Deutschland seine Meinung", schleuderte Peter entgegen. "Apropos Meinungsbildung", wachte der fünfte im Bunde auf, "die Bild-Zeitung, die ich wenn kaufen würde, dann um sie im Zug auf dem gegenüberliegenden Sitz zu platzieren, damit ich meine Füße auf den Sitz legen kann, ohne diesen zu verschmutzen". "Wo in Deutschland gibt es so schöne Pfützen, dass die Schuhe dreckig werden?" war mir neu. "Verschmutzen - das ist die Funktion der Bild-Zeitung", unterbrach mich Jürgen, "sie ist ein Triumph der Dummheit im Lande der Dichter und Denker". "Viereinhalb Millionen Vollidioten „lesen“ jeden Tag die Bild-Zeitung, die zweitpopulärste Tageszeitung in Deutschland erreicht keine Million von Lesern", war Peter aus der Statistik klug. "Nun, wenn die Deutschen so blöd sind, wie sie nun mal sind, dann wundert es keinen vernunftbegabten Menschen, dass diese Nation den Holocaust verbrochen hat, dass Millionen Deutsche immer noch vom Dritten Reich schwärmen und es sich zurück wünschen", wurde der Fünfte etwas konkreter, vielleicht um zu erinnern, wo wir hinfuhren. Peter nicht faul: "Blöde kann man leicht manipulieren, und der Psycho aus Braunau konnte die Massen nun mal begeistern". Jürgen klagte: "Der Krieg ist nun sechzig Jahre her, und er ist allein schuld. Niemand fühlt sich schuldig, alle jammern, der Österreicher hätte sie verführt, hätte Deutschland ins Verderben gestürzt, und hassen ihn mehr dafür, dass er den Krieg nicht gewonnen hat, als dafür, dass er ihn, wie sie alle auch, gewollt hat".

Wir stiegen in Uelzen um, ein für meine Begriffe dekadenter Bahnhof, dörflicher und kümmerlicher, als für gleiches Geld mit deutscher Technologie machbar gewesen wäre. "Vergiss die Integration", meinte Jürgen zu mir, "bleib wie du bist, werde bloß nicht wie die Deutschen". "Wie bin ich denn?" fragte ich in die Runde. "Wie sind denn die Russen so? Unkompliziert, großherzig, optimistisch, saufsam, etwas prahlerisch, aber sehr sympathisch", lobte mich Peter. "Ich mag es aber verkopft, diskret, nüchtern, schüchtern, bescheiden, misanthropisch", stellte ich unverblümt fest. Peter kochte: "Solche Migranten wie dich zu tolerieren, ist am Schwersten, ihr wollt die besseren Deutschen sein, als die verdammten Deutschen!" "Ich bin nicht toleranzbedürftig", bemerkte ich. "Assimiliert?" sah mich Jürgen angewidert an. "Deutschland hat dich verdorben. Du hättest in Russland bleiben sollen", meinte Rolf. "Sprecht ihr ihm das Recht ab, hier zu sein?" lachte der Fünfte gut. "Auf solche Messerstecher in den Rücken können die Linken in Deutschland verzichten!" rief Peter. "Aufgrund welcher Lebensleistung spielst du dich so groß auf?" interessierte mich sehr. Es brachte mir ein unappetitliches Schimpfwort ein. "Deutschland, in das ich gekommen bin, das sind nicht die dicken Säue, die in den Wohlstand, für den sie nichts können, hineingeboren wurden, ihr Leben lang nichts getan haben, außer ihr Land zu verteufeln, und meinen, immer und überall im Recht zu sein, nur weil sie links sind", blieb ich ruhig. "Schon klar, du bist in das Land Goethes und Schillers gekommen", war Rolf beleidigt. "Komisch, dass dieses Land, das außer Künstlern auch Wissenschaftler hervorbrachte, die besten der Welt, nie nach diesen benannt wird - oder hört man einen je sagen: das Land Einsteins und Plancks?" schraubte ich die Beleidigungsspirale weiter fort. "Nicht unsere Schuld, dass der Kommunismus bei euch schiefgelaufen ist und ihr deshalb so verbittert seid!" rief Peter mir zu, und da war schon die Endhaltestelle Hamburg-Altona.



2. Du bist der Holocaust


Ein Hinterhof irgendwo in Hamburg, wir kamen an. Ausländisches Bier wurde gereicht, auf die Nachfrage worauf ich die Antwort bekam: "Kann sein, dass deutsches Bier besser schmeckt, aber es ist deutsch". Auf einer improvisierten Bühne hielt der Gastgeber bereits seine Rede: "Immer wieder wollen deutsche Politiker einen Schlussstrich ziehen. Sie sind Faschisten. Sie gehören allesamt ins Gefängnis. Hitler ist mir gar sympathisch, wenn ich sehe und höre, wie die Deutschen zu ihrer Geschichte stehen. Er ist mir sympathischer, als eine dreiundachtzigjährige Frau, die seinen Holocaust, die ihren Holocaust still mitgetragen hat, für die NSDAP gestimmt hat, deren Mann an der Ostfront uns Leben kam. Hitler ist ein Mann, wie es aussieht. Er trägt die Verantwortung. Alle schütteln ihre Schuld ab, alle wollen nichts gewusst haben, alle sind Opfer gewesen. Das Bekenntnis zu Hitlers Alleinschuld am Elend der Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert ist das höchste Heiligtum des deutschen Volkes". Ich war angesichts einer solch brennenden Hitlerverherrlichung nicht wirklich überrascht, kannte sie aber bisher nur von Rechtsextremisten.

"Ich bin stolz, kein Deutscher zu sein!" rief der Redner unter tosendem Beifall in die Menge. Nun war ich gespannt, zu welcher Nationalität er sich bekennen würde. "Die Deutschen sind eine Schicksalsgemeinschaft von scheinheiligen Pseudohumanisten, eine Irrenanstalt in politischer und moralischer Hinsicht", hörte ich weiter zu. Rolf setzte sich zu mir, sein Ärger war vergangen. Jürgen und Peter setzten sich demostrativ dorthin, wo die geographische Entfernung zu mir am Größten war. Der Redner donnerte indes weiter: "Alles, was je einer über die Deutschen gesagt hatte, stimmt, solange es nichts Gutes ist. Es hat seinen Grund. Es gibt Namen, die wie Links im Internet auf den Grund hinweisen, sehr präzise, sehr einleuchtend. Natürlich nicht für blöde Schwachköpfe, die die Bild-Zeitung lesen, aber auf deren intellektuelles Niveau würden uns Hitler und ich niemals begeben. Sepp Herberger. Konrad Adenauer. Die Stunde Null. Mit der Gründung der BRD wurde die Welt erschaffen, davor war nichts. Alles schnell verdrängen. Wir sind Fussball-Weltmeister, wir sind ein Wirtschaftswunderland, wir sind alle 1949 auf die Welt gekommen, mit dem Davor haben wir nichts zu tun". Rolf sah mich fragend an, ich nickte. Rolf fragte zur Sicherheit nach: "Hier hat er doch Recht, oder?" Ich schwieg, der Redner sprach: "Ach, es hat einen Krieg gegeben? Welchen Krieg? Davon steht in der Bild-Zeitung nichts. Holocaust? Was für ein dreckiger Jude hat sich dieses perverse Wort ausgedacht? Was bedeutet es überhaupt? Ich sags dir, du Hurensohn. Es bedeutet deine Mutter. Es bedeutet: dein Vater, dein Grossvater, deine Grossmutter, alle deine Onkel, alle deine Tanten, und wenn das schon alles ist, was es dazu zu sagen gibt, dann kann ich dir nur gratulieren. Gut weggekommen, noch mal Glück gehabt, du Nazischwein. Für die Meisten gilt aber: Du bist der Holocaust. Wir sind ja im Jahre 1949. Noch vor 4 Jahren hattest du jüdische Kinder zu Tode getreten, polnische Frauen erschossen; und nun willst du davon nichts wissen, nun ist der Hund aus Braunau allein an Allem schuld, nun sind die Russen wieder die Bösen, und vielleicht hast du der freien Welt sogar etwas Gutes getan, als du vor 8 Jahren mit deinen Kameraden - die auch am neunten Mai 45 plötzlich nichts mehr wussten, sich an nichts mehr erinnern konnten, ein zerstörtes Deutschland vorfanden und Opfer einer weltweiten Verschwörung gewesen sind, nicht wahr - russische Familien in Ställe eingepfercht und sie angezündet hast, beim lebendigen Leib verbrannt, die Welt von den Untermenschen gesäubert". Vielen Zuhörern blieb die Luft weg, der Redner setzte noch den Deckel drauf: "Jeder wusste was er tat, jeder wollte es, jeder tat es gern. Dummheit ist keine Entschuldigung, Feigheit ebenso wenig. Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust".

Pause. Die Gemüter kochten, und es war schwer abzulesen, ob vor Zustimmung oder vor Ablehnung. "Adorno war der Meinung, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch", setzte sich der Fünfte zu uns. Rolf nickte bejahend. "Nach Auschwitz Fussball-Weltmeister zu werden? Nach Auschwitz mit Schwäbisch Hall Eigenheime bauen? Nach Auschwitz „Wetten Dass“ gucken?" fragte der Fünfte. "Grausam", meinte Rolf. "Gut, das Leben geht weiter, und die Kinder können für die Gräueltaten ihrer Eltern nun mal nichts", wurde der Fünfte rhetorisch, "aber nach Auschwitz die NPD wählen? Nach Auschwitz in die DVU eintreten? Nach Auschwitz Nazi sein?" "Unverzeihlich", urteilte Rolf, "alles andere, als die Betreffenden mit dem Tode zu bestrafen, ist eine bodenlose Frechheit... eine Unverschämtheit, die das deutsche Volk für immer moralisch disqualifiziert".
Wir drei gingen auf die Straße, die Pause war etwas länger geraten als geplant. "Kennst du den Redner?" fragte Rolf den Fünften. "Nein, noch nie gesehen". "Aber dass einer, den den Krieg nicht erlebt hat, so redet, ist doch bewundernswert", wollte Rolf bejaht wissen. "Ich kann mir nicht vorstellen, was jetzt noch kommt", tat ich meine politische Phantasielosigkeit kund.



3. Die Dichte des Denkens


Die Sitzplätze waren bei unserer Rückkehr neu verteilt, wir setzten und ganz rechts zu einem sehr hellhäutigen blonden Mädchen. "Kommst du aus Hamburg?" fragte Rolf. Sie nannte eine kleinere Ortschaft in Schleswig-Holstein, die von uns drei nur ich, der Migrant, heimatkundlich erschlossen hatte. Auf die Frage des Fünften, was sie auf der Veranstaltung zu suchen hatte, gab sie an, als Reporterin für eine rechtskonservative Schülerzeitung vor Ort zu sein.

Der Redner begann in alter Frische: "Es ist nun eine Straftat in Deutschland, den Holocaust zu leugnen, seine Zunge so zu bewegen, dass aus dem Mund rauskommt: „Den Holocaust hat es nicht gegeben“. Sehr klug, bravo. Wie wäre es damit, ein tätliches Leugnen des Holocaust unter Strafe zu stellen? Ein Alptraum für jeden Deutschen, denn der Deutsche tut jeden Tag, wenn er zur Arbeit geht, wenn er die Bild-Zeitung liest, wenn er Fussball guckt, nichts Anderes, als den Holocaust zu verdrängen, zu relativieren, zu leugnen, denn darauf kommt es im Endeffekt hinaus. Schwer vorstellbar, wenn in Deutschland auf einmal jeder Deutsche hinter Gitter kommt. Inkonsequenz ist daher zu einer Tugend geworden, Inkompetenz zum Lernziel, sobald es um einen intellektuellen Beruf geht". "Das Bildungssystem darf natürlich nicht zu kurz kommen", kommentierte ich, als er sprach: "Der Geschichtsunterricht in Deutschland - arme Anne Frank! Die Meisten denken wohl, dass sie eine Deutsche war, und von den Russen ermordet wurde". Der Fünfte brachte meine Alltagserfahrungen aus fernen sprachunkenntnisbedingten Hauptschulzeiten zum Ausdruck: "Es ist kein Geheimnis, dass Millionen erwachsener deutscher Menschen glauben, die Russen hätten sie überfallen". Mir bleib die Antwort im Halse stecken, als ich vom Rednerpult hörte: "Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Hitler und Adenauer?" Es gab eine kurze rhetorische Pause, in der ich genüsslich zusah, wie die schlake Hand des hellen blonden Mädchens durch das lange Haar  desselben Mädchens fuhr, damit das hübsche Gesicht eine freie Sicht bekam. "Nur diesen: der eine Verbrecher wird gehasst, der andere zum Gott gemacht. Die größte deutsche Persönlichkeit der gesamten Geschichte, des ganzen Jahrtausends der Existenz des Deutschtums, das, so hat die Mehrheit der Anrufer gestimmt, soll Adenauer sein. Warum nicht gleich Hitler? Da wäre man wenigstens bei der Wahrheit geblieben, wenn es schon um die Intelligenz so düster bestellt ist. Max Planck gehörte nicht einmal zu den 100 besten Deutschen - wen wundert das bei einem Volk von Bildzeitungslesern?" wurde der Redner nun medienkritisch. "Der Bildungsstand der Deutschen ist leicht rückläufig, aber immer noch weit über dem Weltdurchschnitt", provozierte ich Rolf. Der Redner wurde von einem Zwischenrufer "Nestbeschmutzer" genannt, worauf er diesem, allerdings nicht vom Pult und ohne Mikro, ausführlich und ausufernd antwortete. Wieder eine Pause. "Woran denkst du?" fragte mich Rolf, und erwartete einen klugen politischen Einwurf. "Wie kann man mit einer so zierlichen Hand so schnell schreiben?" meinte ich das Mädchen. Rolf wütete: "Du bist so pervers, du verfluchter Privatier! Sich einfach aus der Politik raushalten, nur an den eigenen Egoismus denken!" "An sich selbst denken, das ist Egoismus", korrigierte ihn der Fünfte, "an den Egoismus denken, das ist Psychoanalyse".

"Was wird eigentlich in den deutschen Familien so geredet", kam der Redner zurück, " - über den Krieg, über den Opa, über den Holocaust? Was erzählen deutsche Eltern ihren Kindern über die Ausländer? Die Türken sind doch alle kriminell, nicht wahr? Die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion - alles russische Mafia, die Polen ein Volk von Autodieben, und die Juden... Schnell die Pfote aufs Maul, bevor man sagt, was man sagen wollte; bevor man sagt, was man wirklich denkt". Rolf erblasste: "Das ist selbst mir zu links". "Wetten, es wird gleich rechts?" scherzte das helle blonde Mädchen, und der Gastgeber sprach: "Wenn nicht die reiche jüdische Lobby in den USA - hätten die Juden ein besseres Schicksal als die Türken? Nun, die Juden sind vorne gut bestückt, und nehmen Deutschland von hinten. Die Weltmacht heißt USA, und die Interessen der Juden fallen mit den Interessen des zweiten Römischen Reiches heute zufälligerweise zusammen". Rolf stutzte: "Die Türken? Was haben die Türken denn für ein nach Vergeltung schreiendes Schicksal?" "Vielleicht meinte er die Kurden", bemerkte der Fünfte humorlos. "Ein Glück, das dem geschundenen jüdischen Volk zu gönnen ist. Israel hat circa 50 Atombomben. Gut so. Zur Selbstverteidigung; wer weiß, ob morgen Ahmadinedschad oder übermorgen - wie hieß diese Fettsau von der CDU noch mal – es freut mich, dass Israel in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass jeder, der noch mal versucht, das jüdische Volk auszurotten, einen Atompilz vor die Haustür gestellt bekommt", täuschte der Redner einen philosemitischen Orgasmus vor.



4. Unpolitische Macht


"Ich sehe nach, was da los ist", flüsterte Rolf, "Peter hat Jürgen eben eine reingehauen". Auch vor dem Rednerpult gab es eine moderate Schlägerei, auch da ging es um dasselbe wie bei Peter und Jürgen, um den Vorwurf des Antisemitismus, wobei keiner anschließend wusste, wer wen warum einen Antisemiten genannt hatte oder wer was weshalb als einen Antisemitismusvorwurf interpretierte, und darum losboxte. "Komischer Russe: Eine Schlägerei, und du nimmst nicht Teil", scherzte der Fünfte.

Die Gemüter beruhigten sich und der Gastgeber setzte seine Rede fort: "Willy Brandts Kniefall von Warschau war die einzige gute Tat, die ein deutscher Politiker im zwanzigsten Jahrhundert vollbracht hatte. Wenn ich die Partei all der Opfer ergreife, so aus Humanität, aus der jedem gebildeten Menschen zugänglichen Überlegung, dass es das Normalste auf der Welt ist, dies zu tun, und ich erweise damit nicht den geschundenen Völkern, sondern meinem eigenen Selbstverständnis als Mensch eine Wohltat". "Am Ende die obligatorische Gefühlsduselei", zeigte sich der Fünfte enttäuscht. "Wo sind Peter und Jürgen?" fragte ich Rolf. "Nach Hause gefahren", schulterzuckte dieser. "Von den Deutschen erwarte ich bedingungslose Dankbarkeit dafür, was hier sage", sprach der Redner, als ein alter Mann links von uns ihn erkannte: "Das ist doch der Urenkel von diesem Helden von der Ostfront, ...Bahr oder ...Behr". Dieser sprach indes: "Wem es schwer fällt, mir zu danken, etwa weil ich ein Russe bin, und man ja bekanntlich den Russen nicht dankt, sondern sie hinter Stacheldraht verhungern lässt oder in Ställen verbrennt, der suche ein Holocaust-Mahnmal in seiner Stadt auf, falle auf die Knie und kapituliere bedingungslos. Falle mit dem Gesicht auf die Erde, in die dein Grossvater, dein Vater, oder vielleicht du selber Blut vergossen hast, weil du in deinem Hass auf die Juden, auf die Zigeuner, auf die Russen Hitler zugejubelt hast, ihn gelobt und mit ihm gefeiert hast. Verdamme ihn nicht dafür, dass eure von der katholischen und manch anderen Kirchen geheiligte Mission gescheitert ist, verfluche dich selbst dafür, dass jedes Wort, das Hitler in seinen Tiraden hinausrief, aus der Tiefe deines Herzens kam, dass du derjenige warst, der ihn an die Macht brachte und in seinen Krieg zog, in deinen Krieg, den du wolltest, du, Deutscher! Schuldspruch, Deutschland, Hitler ist ein falsches Alibi - das Gericht des Gewissens ist tief geschockt über den rigorosen Unwillen zur Einsicht, und im Namen der Menschheit ergeht das moralische Urteil: Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust!"
Ich schämte mich fremd. Er war so deutsch, wie dieses blonde Mädchen schön, gab sich aber für einen Russen aus. "Ich verrate dir gleich, was hier läuft", revidierte der Fünfte seine Aussage vom Nichtkennen des Redners. Rolf ging in die Büsche, und der Fünfte verriet mir: "Er ist Schauspieler und Mitglied in einem rechtsextremistischen Geheimbund". "Kommt das in deinen Bericht?" fragte ich das Mädchen. Sie sah mich unpolitisch an, worauf ich den Fünften, der gebürtiger Hamburger war, nach einer bürgerlicheren Gegend als jener hier fragte. Vorbei an der graffitographischen Aufschrift "Unpolitisch macht hirntot" spazierte ich Hand in Hand mit dem hellen blonden Mädchen in ein gutbürgerliches Café. Sie war so direkt, mir die Eigenschaften solgleich zu benennen, aufgrund derer ich ihr sympathisch war: ich sei klug, diskret, nüchtern, schüchtern, bescheiden, misanthropisch. Da an diesem Abend mit gewaltsamen Ausschreitungen zu rechnen war, begleitete ich sie mit dem Zug bis nach Hause, fuhr dann auf die Reeperbahn, wo ich Rolf und den Fünften traf.

"Gemütlich hier", stellte der Fünfte fest. "Zu steril", verneinte Rolf, "hast du sie flachgelegt?" "Das hat noch niemand, vermute ich, und das Mädchen ist 19". "Eine von der patriarchalen Sexualmoral unterdrückte junge Frau", kommentierte Rolf. "Ein Mädchen", korrigierte ihn der Fünfte. "Was?" "Er sprach von einem Mädchen". Eine Schweigepause, die nicht allen bekam. Während Rolf mit den Tränen kämpfte, klopfte der Redner dem Fünften von Hinten auf die Schulter und lachte: "Wie war ich, du alter Kommunist?" "Ich muss neidlos anerkennen: du warst geil", zog der Fünfte den Hut. Rolf musste sich übergeben, ich ging mit ihm in eine Bartoilette. "Politik, scheiß Politik, scheiß auf die Politik!" wischte er sich das Maul ab. Wir tranken in der Bar einen Apfelsaft und fuhren heim, ohne den Fünften.



2010

Donnerstag, 16. Mai 2013

Fremdschämen, sich




1


Der Whisky roch nach Leder und gerösteten Früchten. Kuzma setzte sich zu uns, kletterte etwas unbeholfen auf den hohen Stuhl. Ich erzählte gerade von einem Fall des Fremdschämens, als Stoiber Anfang 2007 bei einer dreistündigen Rede unbemerkt den Versprecher vom amerikanischen Präsidenten Breshnew produzierte. "Das ist gar nichts" lachte Kuzma. Er klopfte auf die Zigarettenschachtel, bis eine auf den Tisch fiel. Erwin reichte ihm die brennende Kerze vom Nachbartisch. Kuzma bedankte sich und nahm seinen Doppelten unter die Lupe. Er trank den Whisky schnell, es hätte auch Vodka sein können.

Ich machte es mir bequem, ließ den Whisky im Glas zirkulieren, roch an ihm und dachte, ich sei zu betrunken, um dieses Gefühl, das ich bei Stoibers Versprecher empfand, Kuzmas Erzählung folgend empfinden zu können. "Er hieß Sebastian. Er heißt immer noch Sebastian, tot ist er ja nicht. Er hasste seinen Namen, wie vermutlich jeder Stotterer seinen Namen hasst. Die Wahrscheinlichkeit lag bei 0,8 dass er sich mit Se-se-sebastian vorstellte. Etwas seltener sagte er S-s-s-sebastian zu sich, aber es kam auch vor, dass er, hochmütig lächelnd, die erste Silbe seines Namens ausgesprochen zu haben, dann mitten im Wort stotterte: Seba-ba-bastian". "S und A sind gemein, aber auch F", so ich. "K, B und D sind hart, aber nicht so listig. Bei denen weiß man ja, dass man sie nicht packt, und findet Synonyme, die mit anderen Buchstaben beginnen".

"Also kam der Sebastian zu diesem Klassentreffen, setzte sich still in die Ecke, knabberte ein Bisschen, trank ein Bisschen, wollte sich schon verabschieden, da kam dieses Mädchen. Sie hieß wie die Kidman, Michelle". "Nicole", so Erwin. "Und sie guckte so, wie eine arrogant-verführerisch guckende Michelle Kidman". "Nicole". "Ach ja, Nicole". Kuzma rief den Kellner, ließ sich noch einen Doppelten bringen. "Er war schon sehr lange in sie verknallt. Natürlich hatte er sie niemals angesprochen. Als er gehen wollte und in der Tür stand, da packte sie ihn am Arm und stellte ihm eine Small-Talk-Frage. Aufgefordert zu reden, sprach er fließend. Übermut überkam Sebastian. Er begab sich auf ein Eis, so dünn, wie die Figur von Michelle. Er übernahm die Initiative, gab ihr einen Drink aus und fragte sie, ob er sie nach Hause begleiten dürfe. Sie war überrascht, denn Sebastian war schüchtern, aber sie war einverstanden. Sie gingen nach Draußen. Sebastian zitterte, wollte sich aber nichts anmerken lassen, und zitterte umso mehr. Er versuchte, sein Sprechen zu kontrollieren, aber das Stottern kam in jedem Satz mehr und mehr in den Wortfluss. Die Minute, die ihm vergönnt war, bei sich zu Hause sein Fahrrad abzustellen - er hatte sein Fahrrad dabei, und somit etwas zum Festhalten -,  die nutzte er, um durchzuatmen und etwas Kleines in die Hosentasche zu stecken."

Erwin hustete. Kuzma zündete eine Zigarette an und fuhr fort: "Nun, ohne Fahrrad, war er noch nervöser, konnte seine Sätze nicht mehr beenden. Als er eine Frage mit Ja beantworten wollte, stotterte er beim Ja und sprach nach dem halben J nicht weiter. Michelle lud ihn ein, bei ihr zu Hause etwas zu trinken, und nebenbei die Hausaufgaben in Mathematik und Chemie für sie zu machen. Da war Sebastian wieder souverän und erledigte alles routiniert in zehn Minuten. Michelle ging in die Küche. Sie kam ins Wohnzimmer zurück, und da kniete Sebastian mitten in ihrem Wohnzimmer und hielt etwas Kleines in der ausgestreckten Hand. Er begann: Ih-i-i-i-i... Michelle sah den Ring, tat so, als sähe sie ihn nicht. Sie setzte sich an den Tisch und wartete. Er, rot wie eine Erdbeere, versuchte es diesmal mit Mh-m-m-m-mi-mi... und kroch auf Knien auf sie zu, er wollte den Ring ja nicht der Luft überreichen. Sie versuchte ihn zu ignorieren, und er sah nur kurz in ihre Augen, wonach er aufsprang, sich auf das Sofa warf, die Augen schloss, fünf Sekunden bewegungslos verharrte, wieder aufsprang und murmelte, er sei eingeschlafen und wo sie so lange war. Sie sagte nichts. Er äußerte die Absicht, nach Hause zu gehen, sie begleitete ihn zur Tür. Als sie seine Hand an der Türklinke berührte, nahm er all seine Verzweiflung zusammen, schraubte den Kopf durch die Luft zu ihr, machte den Kussmund. Sie erschrak und driftete von ihm weg, fuchtelte mit den Händen in der Luft, sich schützend, und er fuchtelte auch mit seinen Händen, wobei er wirres Zeug murmelte und wie ein Irrer in schnellen Zuckungen mit dem Kopf schüttelte".

Erwin nahm die Kerze vom Nachbartisch und zündete Kuzma die nächste Zigarette an. Alle schauten auf Kuzma, aber der betrunkene Germanistikstudent war fertig mit seiner Rede. "Was ich als Chemiker nicht verstehe" , fing Erwin an und beendete den Satz mit wirrem Unfug. Das Fremdschämen hatte vollends Besitz von ihm genommen, und ich unterbrach ihn, weil er mit den Blicken darum bat. "Woher weißt du denn, dass es sich genauso zugetragen hat?" fragte ich. "Sein Nebenfach ist Germanistik. Er sitzt oft neben mir. Verarbeitet, was er erlebt, in Kurzgeschichten, und gibt sie mir zum Korrekturlesen". "Ist er Legastheniker?" "Er tut manchmal so, - das ist sein Vorwand, um mir seine Geschichten zum Lesen zu geben. Er kann es niemandem erzählen, aber ist furchtbar einsam. Und ich tu so, als wären sie fiktiv, korrigiere sie, gebe sie ihm, und er bedankt sich für die Korrektur, wobei ich weiß, wofür er in Wahrheit dankbar ist. Dafür, dass jemand ihn wahrnimmt".


Ich trank meinen Whisky und wir gingen nach Draußen. Kuzma griff nach der Schachtel - keine Zigaretten mehr drin. Wir gingen an einem Kiosk vorbei, dort arbeitete Michelle. "Ein G-g-gruss von Se-se-sebastian", scherzte Erwin. Michelle wurde rot wie eine Erdbeere und schlug das Fensterchen zu.



2



Kuzma schlich an Erwin heran und erschreckte ihn. Ich schmunzelte. Als Kind hatte ich eine Verschwörungstheorie, welche besagte, dass ich zu stottern begann, nachdem ein Mädchen mir laut ins Ohr geschrieen hatte. Erwin schlug vor, in ein Lokal zu gehen, in dem man sich zum Flirten traf. Da die anderen Bars alle zu waren, kam ich mit. Ich setzte mich in die Ecke, schimpfte über das Nichtvorhandensein schottischer Whiskys und bestellte mir ein dunkles Weizenbier. Es herrschte Rauchverbot, aber das betrübte weder Erwin noch Kuzma, da der Kauf einer weiteren Zigarettenschachtel vor einer halben Stunde von mäßigem Erfolg gekrönt wurde.


Zwei junge Frauen setzten sich zu uns in die gemütliche Ecke. Erwin mimte Sebastian, daraufhin wandten sie sich vom gutaussehenden Erwin ab und Kuzma und mir zu. Kuzma sagte höflich, wir würden auf unsere Freundinnen warten, nur Erwin wäre Single. Sie gingen. Erwin lachte zuerst. Sie unterhielten sich mit einer anderen Gruppe, lachten, zeigten auf unsere Ecke, kamen aber wieder, als sie merkten, dass Erwin sich einen Scherz erlaubt hatte.

"Ich war also mit Ron und zwei anderen werdenden Lehrern, deren Namen ich nich mehr weiß, auf dieser Geburtstagsparty" erzählte Kuzma, "Alle Damen waren sofort um Ron versammelt, er war witzig, geistreich, charmant, malte Bilder, schrieb Theaterstücke - eins davon führten wir gestern wieder auf, schade, dass ihr nicht da wart - , aber die Damen interessierte erwas Anderes. Das sei alles doch nicht die Wahrheit, meinten sie. Wie ist Ron denn in Wahrheit so? Das erfuhren sie, als er seinen epileptischen Anfall hatte. Das befriedigte sie zutiefst, und die Herren noch tiefer, denen sich die Damen wieder zuwandten". "Was ist mit dir?" fragte eine der jungen Frauen Kuzma. "Du bist doch normal, oder?" Kuzma lachte, sagte aber nichts. Ich erzählte eine alte Geschichte, vielleicht aus dem Jahr 1989: "Es war Kasachischunterricht und ein Junge musste nach Vorn gehen und die Vokabeln aufsagen. Er sah nervös aus, riss sich aber zusammen, stellte sich gerade, fand den Tunnelblick und begann die Vokabeln aufzusagen: Nan - Chleb". "Chleb heißt auf Russisch Brot", bemerkte Kuzma. "Da stand er eine weitere Sekunde, zwei, drei, wiederholte: Nan - Chleb, und es verging wieder eine Sekunde, und noch eine, und er war rot wie eine sowjetische Fahne, hielt die Spannung nicht aus und begann von Vorn: Nan - Chleb. Und wieder: Nan - Chleb, bis die Kasachischlehrerin ihn erlöste. Er durfte sich setzen". "Eine Zwei?" fragte Kuzma. "Nein, keine Zwei. Die Lehrerin meinte, es hätte an seiner Nervosität gelegen".

Aus dem Lokal, in die frische Winterluft. "Die Beiden waren doch nett?" fragte Kuzma. "Ich fand sie nicht nett" so Edwin, "ich hätte auch Sebastian sein können". "Ein Wenig bewundere ich Sebastian. Ich hätte mich nicht getraut, in diesen Schaumbad der Scham zu steigen" begann ich zu meinen, aber Kuzma sagte mir die Wahrheit: "Du hast zu früh begriffen, dass es keinen Sinn hat, krampfhaft zu versuchen, normal zu sein". Ich schwieg. Hätte ich dieses Mädchen damals a-a-angesprochen, wäre ich wenigstens wahrgenommen worden. So aber weiß sie nicht einmal, dass es mich gibt, was für uns Beide letzlich auch besser ist.



3


"Es war Biologiestunde, die Lehrerin stellte eine Frage, ich meldete mich, stand auf und blieb mit offenem Mund stehen. Eine halbe Minute, vielleicht länger. Ich versuchte zu sprechen, aber es kam nichts. Die Lehrerin ignorierte mich daraufhin und fragte einen anderen Schüler". "Ich hätte das gern erlebt. Ich meine, am eigenen Leib" so Erwin. "Wieso?" fragte Kuzma. "Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist, und auch nicht, wie es ist, manisch-depressiv oder schizophren zu sein. Vor zwei Jahren tippte ich kurz vor der Pfüfung eine SMS, verschickte sie, ging zur Prüfung. Nach fünf Minuten überkam mich das Gefühl, dass etwas schwer nicht in Ordnung war. Ich wurde nervös, aber nicht wegen der Prüfung. Ich schwitzte. Ich nahm die Professoren kaum noch wahr, als sie mir meine 1,7 gaben. Ich rannte aus der Uni, schaltete mein Handy wieder ein - das war eine sehr persönliche SMS. Und ich habe sie ausversehen jemandem geschickt, der... Ich meine, ausgerechnet ihr habe ich sie geschickt! Ich sah den Boden an, bat ihn, mich zu verschlucken". "Wir sind wieder beim Kiosk" erinnerte ich Kuzma. "Geh du kaufen. Dein Gesicht hat sie nicht gesehen". 


Ich und Michelle, da war ich gespannt. Ich sagte höflich wenn nicht sogar zärtlich, ich wollte eine Packung Marlboro. Sie sah mich an und fragte: "Stotterst du?" Aus dem Aussprechen meines Satzes kam das keineswegs hervor, also fragte ich nach. Michelle meinte, mein Satz sei so glattpoliert, und die Augen verrieten es, auch wenn das Mundwerk wie eine Schweizer Uhr funktionierte. "Nicht mehr so wie früher" sagte ich. "Ich war früher schön" sagte sie. Sie sah immer noch gut aus, aber ich verstand, was sie sagen wollte: früher sah sie nicht gut aus, sondern war schön.

Michelle ging mit uns zum zugefrorenen Fluss, flirtete mit Erwin, und er mit ihr. Sie bestand darauf, uns in Sachen Trunkenheit einholen zu wollen, wir gewährleisteten dies. Auf dem Eis sitzend, erzählte sie von der peinlichen Szene mit Sebastian, merkte aber, dass diese uns allen bekannt war. "Das war gar nichts" sagte Michelle. "Dennis, mein erster Freund, wollte, dass ich für ihn strippte. Was ich nicht wusste war, dass überall hinter Sofas und Schränken seine mit Gucklöchern bewaffneten Freunde warteten. Ich tat mein Bestes, strippte, stöhnte, und auf einmal kamen alle aus ihren Verstecken und applaudierten". "Peinlich", bemerkte Kuzma trocken. Erwin hustete. Wir erinnerten uns, dass er kürzlich eine Lungenentzündung hatte. Kuzma rief ein Taxi und fuhr Erwin heim; ich begleitete Michelle nach Hause.

Ich wurde nervöser, als wir gingen, denn ich wurde nüchterner. Ein Fahrrad hatte ich nicht dabei, nur meine Hausschlüssel, die ich auf dem Weg hochwarf und fing. Michelle lud mich zu einem Kaffee ein, ich nahm die Einladung an. Als sie in der Küche verschwand, kniete ich im Wohnzimmer und streckte die Hand, in der ich etwas Kleines hielt, nach Vorn aus. Michelle tat so, als sähe sie mich nicht, stellte den Kaffee auf den Tisch, ging dann aber rückwärts auf mich zu. Ich überreichte ihr den USB-Stick mit Sebastians Texten. Diese Aktion wurde vor knapp einer Stunde mittels kuzmasebastianischen Telefongesprächs autorisiert; Kuzma gab mir den Stick, als er mit Edwin in ein Taxi stieg. Wir tranken Kaffee, unterhielten uns, ich sah ihre Fixervenen. Ich sah Michelle nicht wieder, aber Kuzma erzählte mir am nächsten Freitag, dass sie und Sebastian nun zusammen seien; er dachte über eine Therapie in einem logopädischen Zentrum nach und sie habe sich in einer Entzugsklinik angemeldet.



2010

Samstag, 11. Mai 2013

Julius und Erich




1. Julius (28)

Es war Klassenfahrt, und am Lagerfeuer saßen sie alle, und da kam das schönste Mädchen vorbei. Das reiche Söhnchen prahlte mit teurem Spielzeug, der Leichtathlet mit dem Oberkörper, der Dealer mit Lockerheit und etwas Gras. Julius guckte nach Unten und war sehr nervös. Das schönste Mädchen konnte sich aussuchen, also dachte es: wer ist denn hier der Schüchternste, Sensibelste und so weiter, und setzte sich zu Julius und sie wurden ein Paar. Nein, natürlich nicht. Sie hat das reiche Söhnchen mit dem genetischen Defekt geheiratet, hat nun zwei Bälger: eins mit Mukoviszidose und eins ohne Großhirn geboren. Was kann Julius dafür?


2. Weiße Maus

Schon in der Grundschule wollten die Mädchen neben Julius sitzen, denn sie dachten sich: wer ist denn der Schönste hier - und das war natürlich Julius. Julius benahm sich ja wie ein gut erzogenes Mädchen - hatte Angst, ekelte sich, passte gut auf sein Körperchen auf, ebenso auf sein Seelchen. Er wollte des schönen Mädchens würdig sein, das ihm irgendwann über den Weg laufen sollte und wie die anderen Mädchen dachte: welcher Junge ist denn der Romantischste, Zärtlichste und Geistreichste, ach, natürlich Julius, und schon damals wurde der Kleine schnell rot und lief weg. Keins der Mädchen hatte von ihren Jungs nur 5% von dem rausgeholt, was die eigene Schönheit wert war, sprich, keine war die ihr geschenkte Schönheit wert.


3. Schabenfutter

Kein Kind will, dass die Tante es küsst, auch der Onkel nicht. Der Opa ist lieb, aber seine Haut... warum wird das Kind nicht stattdessen von dieser jungen frischen älteren Cousine am Arm und an der Wang berührt? Die Oma ist nett aber so fett... Die Türklinken fasste Julius nie mit der Hand an, er wollte schließlich mit einem Mädchen händchenhalten, wobei er nur Pfötchen sah und nie Händchen. Das neue langhaarige feingliedrige Mädchen mit schimmernd weißer Haut kam in den Klassenraum und dachte natürlich: so, welcher von den Jungs fühlt sich am Angenehmsten an, wenn er mich fängt und kitzelt? Dachte Julius. Das Mädchen ließ sich vom Dicken dort begrabschen, der sich nach dem Pausenbrot nie die Hände wusch. Das Mädchen ist Hure geworden, steht jeden Abend am Hackeschen Markt, und der Dicke - hat abgenommen - ist Bankkaufmann und ihr Stammkunde.


4. Julius und Innere Werte

Du fragst, warum sich Julius immer in die schönsten Mädchen verknallte? Moment, war Schönheit bei dir nicht relativ, war sie nicht Geschmackssache, lag sie nicht im Auge des Betrachters? Wenn es so ist - welchen Sinn hat also deine Frage? Julius verknallte sich in die Mädchen, in die er sich eben verknallte. Seltsamerweise verknallten sich alle Jungs in dieselben Mädchen, in die sich Julius verknallte. Und diese Mädchen dachten immer: so, wer von den Jungs hat die geilsten inneren Werte? Wenn es so war, dann hängt der Wert der inneren Werte davon ab, wessen Sohn man ist. Nicht wie versaut oder wie blöd oder gewaltbereit, denn Julius ging ja aufs Gymnasium, wo die guten Mädchen waren. Sagte ich Waren? Nein, waren sagte ich.


5. Grausamkeitskitzeln

In der Grundschule da war ein Mädchen verrückt nach der jungen hübschen Lehrerin, welche eines Tages einen rohen garstigen Mann verführte. Das Mädchen bekam es mit und weinte selbstverständlich und sprach was hast du getan und ging nie wieder zu der Lehrerin nach Hause zum Spielen wie früher. Wirklich? Nein, das Mädchen hatte nur ein komisches Kitzeln im Bauch und spielte weiter mit der Lehrerin. Julius ging zum Schuldirektor und erzählte ihm, dass die junge Lehrerin kleine Mädchen verführte, und die Lehrerin flog von der Schule. Dieses sonderbare Gefühl, das du hattest, was war das, fragte Julius das Mädchen zehn Jahre später. Es kam davon, dass ich wusste, dass du mich magst, und leiden würdest, wenn ich weiter mit ihr spiele, sagte das Mädchen.


6. Selbstmordvermeidungsherzkühlung

Julius war in der zehnten Klasse, als eine große Party war, und er wieder mal in der Ecke stand. Da kam ein Mädchen herein, so niedlich und süß wie zehn Kätzchen, und fragte sich: so, welcher von den Jungs ist noch Jungfrau und hat den größten Respekt und die tiefste Ehrfurcht vor einem Mädchen? Nein, das konnte es nicht sein, denn um danach zu urteilen, welchen Jungen das Mädchen auswählte, konnte es nur gedacht haben: so, wer ist hier der frauenverachtendste respektloseste und widerlichste Eber, dem muss ich unbedingt einen blasen! Julius wurde später oft Kaltherzigkeit vorgeworfen, worauf er erwiderte: hätte ich mein Herz nur ein wenig wärmer gehalten, wäre ich längst von einer Brücke gesprungen.


7. Das egoistische Gähnen

Die Evolution meinte es eigentlich gut mit Julius, und so malte er die schönen Mädchen im Kopf noch schöner und beachtete die anderen nicht. Diese aber dachten: so, welcher von den Jungs ist denn an inneren Werten interessiert... Tatsächlich? Immer, wenn es einem nicht so schönen Mädchen gelang, so ein richtiges Arschloch noch mit Scheißklümpchen auf den Arschhaaren ans Land zu ziehen, kündigte es die Beziehung zu seinem Frauenversteherchen (per SMS oder ähnlich) und freute sich die Titten aus der Brust. Nächstes Versuch. Die nicht so schönen Mädchen dachten: wer ist denn den inneren Werten nach der Allerbestensbesteste Junge, am Wenigsten an Äußerlichkeiten interessiert? Und sie dachten sich ein Loch - nein nicht in Julius - in den leeren Stuhl, auf dem dieser Niemand saß, der überhaupt nicht an Äußerlichkeiten interessiert war.


8. Erich (30)

Erich liegt auf dem Sofa und träumt vor sich her, während die Sonne zu einem für andere romantischen Sonnenuntergang langsam dahinsinkt. Seine Gedanken sind schwer: nie, nicht nur ein einziges Mal. Dann springt er auf: aber Erich, wie viele Männer, ja wie viele Menschen denn überhaupt waren in ihrem ganzen Leben mal mit einer schönen Frau zusammen? Für die Frauen ist es sicherlich leichter: die Mädchen halten miteinander in der Schule Händchen, ohne sich für die Jungs damit unattraktiv zu machen (umgekehrt scheint es verdammt unattraktiv zu sein, dem Erich übrigens genauso wie den Mädchen), - und nach der Schule wer weiß? Aber komm schon, Erich, wie viele Männer? 3%? Zu hoch geschätzt? Aber nur ein einziger Kuss! Hm, dann wohl noch weniger. Es gibt mehr Ungeküsste als Ungeleckte. Fürs Lecken kann man eine bezahlen, aber wo kann man Küsse kaufen? Bei denen, die Sex verkaufen, will man ja nicht: die halten einen solchen Wunsch - einfach schön zärtlich küssen, alles bleibt an - für genauso pervers wie Anpissen oder was weiß Erich. Er zieht sich eine warme Jacke an und geht hinaus. Bald 30, denkt Erich leise vor sich hin. Bald 30, und immer noch nichts, kein einziges Mal.


9.  Gute Idee

Erich steht ja auf schöne Frauen. Sei doch nicht so engstirnig, sagt Jürgen. Erich lässt sich überreden, geht mal wieder aus. Guck doch, sagt Jürgen. Warum lächelt er, denkt Erich, und wo soll ich hingucken? Erich langweilt sich. Willst du wieder gehen, fragt Jürgen, und fügt vorwurfsvoll hinzu: du machst dir alles selbst kaputt! Erich geht ein Licht auf: du hast Recht, Jürgen. Jürgen lächelt und guckt zu den mäßigen Damen hinüber. Erich folgt aber überhaupt nicht seinem Blick, weshalb Jürgen ihn irritiert anstarrt. Es muss doch nicht gleich Sex sein, feiert Erich seine Horizonterweiterung, und es muss auch nicht Liebe sein, - es wäre zum Beispiel schön, mit einer schönen Frau befreundet zu sein, am Besten mit einer Lesbe, da muss man sich den Brechreiz nicht verkneifen, wenn man ihr auf die Lippen guckt. Jürgen schüttelt mit dem Kopf: Erich, ist es denn dein Ernst? Erich weiß, wie Jürgen es meinte, schweigt ein Bisschen, guckt dann zu den Damen rüber, seufzt und sagt: gut, vielleicht nicht befreundet sein, aber eine zu kennen, so als lockere Bekanntschaft, das wäre auch schön.


10. Erich muss etwas beichten

Jürgen erzählt von einem knackigen Po. Ärsche, das mag Jürgen. Und Bernd, der mag Brüste. Je voller umso besser. Genüßlich erzählt er von den Brüsten seiner Neuen. Erich will auch etwas sagen, weiß aber nicht, wie er anfangen soll. Vielleicht: Ein Freund von mir... Aber wer? Wen soll ich auf Nachfrage nennen? Vielleicht: Ich kenne jemanden... Ja, und? Warum muss ich ausgerechnet von ihm erzählen? Oder: Neulich war ich amüsiert, als ich gelesen habe, dass es einen sehr interessanten Fetisch gibt... Hört sich komisch an. Warum nicht: Im Bus hörte ich gestern Abend, wie jemand sagte, er sei ganz verrückt nach... Warum bist du so rot geworden, fragt Jürgen. Stimmt etwas nicht, fragt Bernd. Es gibt Fetische, die sind so richtig durchgeknallt, aber komischerweise nicht peinlich. Erich hat es andersrum erwischt. Alles muss stimmen, sagt Erich, alles bis ins kleinste aber auch klitzekleinste Detail.


11. XS

Erich mag kleine, zierliche Frauen. So dünn wie möglich, aber nicht magersüchtig. Keira Knightley findet er hässlich - sie hat, sagt er, zu breite Knochen. Erich, sagt Bernd immer, so eine kannst du doch gar nicht... Ich will sie auch gar nicht ..., sagt Erich immer, ich will sie verwöhnen, auf Händen tragen, auch wörtlich. Ich kann mit keiner Frau was anfangen, die nicht kochen und putzen kann, lacht Bernd. Erich findet sowas frauenfeindlich. Letzte Nacht hatte Erich einen Traum: er sah im Vorhof zu seiner Studierhölle eine zierliche süße Frau, sprach sie an, nahm sie mit nach Hause. Dann wusste er aber nicht mehr, was er tun oder sagen sollte, bedrohte sie subtil, ja fast schon zärtlich, fesselte ihre Hände und Füße, trug sie auf sein großes weiches Bett. Er setzte sein diabolisches Grinsen auf, machte Andeutungen, dass er sie gleich küssen würde, dann ihren BH ausziehen und ihre hübschen kleinen Brüste berühren, hatte für alle Fälle noch ein S/M-Peitschchen dabei. Zärtlich, fast schon liebend, flüsterte er ihr zu, er könnte ihr vielleicht weh tun, aber sie guckte ihn nur an wie eine Kuh auf der Wiese und donnerte ihm schließlich ins Gesicht: "Fick mich endlich und lass mich gehen, ich muss heute Abend noch die Küche sauber machen!" Da wachte er auf und hatte so ein Gefühl, das er immer hatte, wenn ihn im Traum diese schrecklichen großen haarigen (oder auch nackten schwarz glänzenden) Monster verfolgten. 


12. Deckel drauf

Der Spruch, dass jeder Topf seinen Deckel finde, passt rein physiologisch eher zu Frauen, meint Jürgen. Es ist Hohn, weiß Erich. So ist es, Leute, kommt Bernd mit dem Bier an den Tisch, wer in der Schule keine gekriegt hat, bekommt nie wieder eine Chance. So schlimm ist es doch nicht, wiegelt Jürgen ab. Erich nickt und schüttelt mit dem Kopf. Wen kennst du denn, der in der Schule keine hatte und später eine gekriegt hat? Jürgen denkt nach, er hat viele Freunde: der hat eine Flüchtlingsbraut gekauft, der da geht regelmäßig ins Bordell, der bekommt reihenweise Körbe in der Disco, dieser hat es mit alleinerziehenden Müttern versucht, was immer am Ex gescheitert ist. Siehst du, freut sich Bernd. Was soll ich jetzt machen, verzweifelt Erich nach dem vierten Weizen. Trink ein fünftes und bagger die da an, lacht Bernd. Erich zieht die Augenbrauen hoch, behält sie drei Sekunden in der Luft und sagt dann nichts. Warum kann ich mir die Frauen nicht schöntrinken, denkt Erich und bestellt sich das fünfte Weizen.


13. Jürgen auf der Couch

Sex, sagt Erich, beziehe seinen eigentlichen Reiz aus der Entjungferung. Quatsch, lacht Jürgen. Du guckst doch Pornos, so Erich. Ja, ich bin doch nicht krank, so Jürgen. Dann sag mir, warum die Typen am Ende den Frauen ins Gesicht spritzen. Jürgen weiß keine Antwort. Erich weiß: bei diesen Stuten setzt keiner mehr voraus, dass sie jungfräulich sind. Logisch, meint Jürgen, wenn sie in einem Porno mitspielen. Aber ihr Gesicht, meint Erich, dieses geschminkte geputzte Gesicht vermittelt immer eine Illusion der Unschuld, - und du, mit dem Willi in der einen und mit dem Taschentuch in der anderen Hand, identifizierst dich mit dem Typen. Ja, sicher, sonst würde ich nicht gucken, versichert Jürgen. Und als er ihn am Ende rauszieht und ihr ins Gesicht spritzt, rufst du da nicht innerlich: Erster! Jürgen findet es erstmal plausibel, sagt aber: am Anfang kommt immer der BJ - nix Gesicht. Gut, sagt Erich, was denkst du dir denn am Schluss? Na ja, gut, also, - gibt Jürgen zu - ich denke da immer, dass die andere, größere Frau ihr die Augen aufhält und lüstern flüstert: ja, komm, spritz in ihre süßen lieblichen Augen! Auch wenn keine zweite Frau im Film dabei ist, fragt Erich nach. Dann denke ich mir eine dazu, sagt Jürgen.


14. Orgien statt Sorgen

Mit nicht so schönen Frauen hat Erich nie Probleme gehabt, wenn es darum ging, sie anzusprechen, oder sich mit ihnen ganz normal über etwas Bestimmtes zu unterhalten. Smalltalk kann Erich recht gut, besonders nach zwei Bier (der mit dem Asperger-Syndrom, das war der elitär-arrogante Julius; Erich ist bloß ein Wenig schüchtern). Nun spricht er mit einer Studierkollegin (er kann, wie der Autor, das schwül-inzestuöse Wort Kommilitone nicht ausstehen) in der S-Bahn auf dem Weg zur Uni: ich schaffe es einfach nicht, sie anzusprechen, denke immer zu viel darüber nach, trau mich am Ende nicht, und wenn doch, kommt kein Wort aus mir raus. Deine Sorgen möcht ich haben, erwidert sie höhnisch. Sie lebt mit einem Doktoranden zusammen, hat einen zweijährigen Sohn. Das war ironisch gemeint, sagt Erich. Klar, sagt sie, oder bist du doof? Und wenn ich dir sage, dass ich deine Sorgen haben möchte, dann meine ich es nicht ironisch - verstehst du jetzt? Sie schweigt, dann sagt sie: naja, so ironisch wie es in deinen Ohren klingt, meinte ich es auch nicht: du kommst um vier Uhr morgens nach Hause, musst keine Windeln wechseln, dich um das Chaos nicht kümmern, nicht an die Einkäufe denken, die Krippe, der Kinderarzt, meine Eltern, seine Eltern, die Geburtstage nicht vergessen, sonst weiß du nicht wohin mit dem Balg falls du zwei Tage für dich allein sein willst, - Single sein ist doch schön; man lernt es erst zu schätzen, wenn man keiner mehr ist. Erich freut sich den Arsch ab, den ganzen Tag lang: Single sein ist also doch besser - und das hat nicht ein Mann wie er gesagt, der sich etwas schönreden wollte, das er nicht ändern konnte, nein, eine Frau hat das zu ihm gesagt. Geil, denkt Erich, und weiter: welche Verpflichtungen habe ich heute eigentlich? Oops, gar keine. Schön, ich fahr mal ans Meer, will zwei Tage für mich allein sein.


15. Wegen dem Neger

Voll in der Kneipe, aber Bernd hat vor Stunden das alte niedrige Sofa in der hellgrünen Ecke reserviert. Jürgen freut sich und sagt: Erich, komm schon, freu dich, wir haben einen saugeilen Platz erwischt! Als sie sich setzen und drei Jim Beam mit Cola bestellen, setzt sich ein langhaariger zotteliger Typ im selbstgestrickten grünen Pulli dazu: Oh, ist das die grüne Ecke? Habt ihr gelesen, 28%! Jim Beam mit Cola ist was für Schwuchtel, lacht der Kellner, ein Türke. Wer eine Schwuchtel bedient, fängt Bernd an, aber der ungebetene grüne Gast unterbricht ihn und bestellt eine Bionade.

Als Nächstes bestellen die Drei Jim Beam ohne Cola - da weiß der Kellner, was die erste Bestellung sollte: eine Limo, ein Durstlöscher. Guck, der Neger da trinkt diesen französischen Apfelwein, wie heißt er... Cidre, sagt der Kellner, wollt ihr auch? Der ungebetene grüne Gast  unterbricht ihn: was fällt euch frauenfeindlichen Rassisten ein? Geht sofort zu ihm und entschudigt euch! Der Türke darauf in Türkdeutsch: Hast du ein Problem, du Schwuchtel? Der eben noch Empörte entschuldigt sich höflich, - er hält den Türken offenbar für einen Japaner, macht diese alberne Verneigung.

Guck, sagt Jürgen, der Neger bestellt sich jetzt einen Negerkuss - den kann er doch auch zu Hause haben. Es ist ein Eis, weiß Erich. Der grüne Freund, verzweifelt (und nun auch jimstens gebeamt): Was seid ihr für Menschen? Eine Dicke kommt vorbei, gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Deine Frau, fragt Bernd. Er nickt, Bernd lacht, steckt auch Jürgen an. Erich - noch nicht betrunken genug - ist geistig abwesend. Ihr sitzt jeden Abend irgendwo rum, ihr Säufer, fängt der Beleidigte an. Hast du ein Problem mit den Jungs, kommt der Kellner zurück und bringt nun vier Weizen. Ich betreue ehrenamtlich Flüchtlinge, gehe jeden Sonntag gegen Atomkraft demonstrieren, setze mich für den Bau einer Moschee ein, engagiere mich für eine Quote von horinzontal gechallengten Frauen in Film und Werbung, - und ihr!? Und wir sitzen hier und saufen, sagt Bernd, absichtlich mit türkischer Aussprache - schallendes Gelächter.

Als der grüne Freund fast schon heult, fragt ihn Jürgen: man gönnt sich ja sonst nichts, was gönnst du dir denn, wenn du dir mal was gönnst? Völlig betrunken erzählt der ungebetene grüne Gast, wie er vor drei Monaten nach Bangkok reiste und für EUR 23000 ein vierzehnjähriges Mädchen zu Tode folterte: kennt ihr diesen Film, Hotel oder so, und diese Thai-Mädchen sehen ja viel jünger aus als sie sind, - ich hab mir so vorgestellt, es wäre die Leonie aus der 4. Klasse, die mich damals hänselte... hey, wo geht ihr denn alle hin, bleibt hier, hey...!


16. Die Begegnung

Erich schlich oft durch Passagen, Arkaden, stellte sich in die offenen Zeitschriftenläden gleich neben den Kosmetikstudios, um Blicke auf weiß nur Erich was zu erhaschen. Er wurde schnell rot dabei, weshalb er immer Pausen einlegte, in denen er sich den Zeitschriften widmete. Nun aber sah er einen Mann in seinem Alter in eine schicke Boutique hineingehen, ein kleiner Schlanker mit vollem schwarzen Haar, der sich von einer hübschen Frau über ein Kosmetikprodukt ausführlich beraten ließ. Schamrot schlich Erich hinzu - da war dieser Blick der Frau, als er wusste nur er wo hinguckte, und Erich wollte am Liebsten im Erdboden versinken, - der androgyne Teufel grinste breit und ließ sich das teuer Eingekaufte einpacken.

Komm, Sebastian, rief er Erich zu sich, wandte sich dann zu der Verkäuferin: diesen Kretins macht man einen großen Gefallen, wenn man sie abtreibt, aber seine arme Mutter hatte wohl zu viele Schnulzen geguckt. Komm, du Hund! Erich folgte Julius mit gesenktem Kopf in eine gehobene Bar. Auch dort behielt Julius seine eleganten schwarzen Handschuhe an, die wunderbar zu seinen Schuhen und zu seiner Haarfarbe passten. Was ist dein Problem, fragte er Erich, warum treibst du dich rundherum rum und gehst nicht rein? Draußen wunderten sich Bernd und Jürgen - was machte Erich in dieser Schickimickibar? Wer sind die Deppen, fragte Julius.

Erich hat nun seine Nummer. Soll er ihn anrufen, diesen Zwangsneurotiker, der sich offenbar vor Türklinken ekelt? Erich fühlt sich von Julius ertappt, vielleicht hat er denselben Fetisch. Er greift zum Hörer und seine Hände zittern, so als ob er eine hübsche Frau anrufen würde. Macht er´s? Macht er´s nicht? Bernd schmeißt heute Nacht eine Party - soll Erich hingehen? Warum, denkt er, gebe ich mich seit Jahren mit Leuten ab, die so viel dümmer und plumper sind als ich? Dieser schwarze Schwan ist verlockend. Durch das Androgyne wirkt dieser Bastard nur noch düsterer, gefährlicher, - es ist eine elegante Männlichkeit, die Erich als Kind gern zum Vorbild gehabt hätte. Leider wuchs er unter Leuten wie Bernd und Jürgen auf, - wird der Sog der Gosse obsiegen?



2011

Donnerstag, 9. Mai 2013

Der letzte Antisemit




2045.

Werbesprecher: Sensation! 100 Jahre nach der Befreiung Deutschlands wurde in einem Berliner Wohnsilo ein Antisemit gefunden! Sehen Sie bei "Sadistisch aber Sexy" eine aufregende Talkshow über die Aufarbeitung der Auseinandersetzung über die Aufregungsausbleibensklitterung gestern bei "Anne Kann".

Platzberg: Schön gunnabend, gunnabend und schmerzliches Kommen!

Kriegman: Haben Sie gestern bei der Landtagswahl als Einziger die NPD gewählt?

Antisemit: In Sachsen? Als Berliner? Sie sind ja schlau.

Kriegman: Wieder ein antisemitisches Vorurteil...

Platzberg: Ich Platzhirsch, ich Fragen stellen.

Anne Muss: Sie korrupter quotengieriger...

Aischberger: Hat er Geld bezahlt, ich meine, hat er mehr als ich geboten, damit er in seine Sendung kommt? Das ist ja unerhört!

Platzberg: Sitz!!! Danke. Ich habe mich vorsichtshalber gendern lassen, so dass ich stets zum diskriminierteren Geschlecht gehöre, und kann mir deshalb jede Frechheit erlauben. Anne, fass!

Kriegman: Mich?

Antisemit: Hey, ich bin der Antisemit, nicht der Platzberg.

Platzberg: Ich meinte den Auch.

Anne Muss den Auch beißen: Grrrr.

Auch: Beißt mich ruhig tot, aber der Antisemit wird nur exklusiv mit mir reden.

Platzberg: In meiner Sendung!?

Auch: Der Plan war, dass ich dich mitten in der Sendung aus deiner Sendung schmeiße und selbst weiter morderiere, aber bevor die Anne mir die beiden Mikros abbeißt, setze ich mich zu euch. Aische, mach Platz am Lagerfeuer!

Kriegman: Aber Sie wissen schon, dass Sie als Mann das einer Frau nicht sagen dürfen!

Hüller (stürmt hinein): Er hat Mann gesagt! Er hat Frau gesagt! Ich hab mir lange überlegt, ob ich Platzbergs Gäste nach Hause schicke und allein mit dem Antisemiten weitermache, oder ob ich dich, lieber Michel, rausschmeiße...

Antisemit: Er ist Jude. Du musst nett zu ihm sein.

Hüller: Weil er Jude ist?

Antisemit: Weil ich hier der Antisemit bin, du Schwachkopf!

Kriegman: Wieder ein antisemitisches Vorurteil...

Auch: Welches denn diesmal?

Kriegman: Nichtjude, also Depp.

Platzberg: Auch, machst du Sendung?

Auch: Bei dieser miserablen Beleuchtung kann ich nicht arbeiten. Sag deinen Tretsklaven, sie sollen in die Pedale treten. Danke. So, nun kommen wir zu Ihnen, lieber Antisemit. Sie sagen, Sie seien der letzte noch lebende Antisemit...

Antisemit (lacht): Nein, ich sage das nicht. Ihr sagt das.

Auch: Sind Sie der einzige Antisemit in dieser Runde?

Hüller: Das ist ja eine Fangfrage.

Auch: Was du kannst, kann ich auch, aber ich machs nicht.

Platzberg: Unsere Sendezeit...

Auch: Dann mach doch den Faktencheck.

Platzberg: Herr Sarah Zinn, wie viele Antisemiten gibt es in Deutschland?

Antisemit: Ich bin der Einzige, ich hab meine eigene Bildkolumne! Er wird gleich lügen, es gibt keine außer mir!

Sarah Zinn: Also es gibt also wie immer seit der frühen Steinzeit etwa 10% also Antisemiten in der Bevölkerung.

Kriegman: Schämt euch, Deutsche zu sein!

Sarah Zinn: Also Entschuldigung, aber also nein. Deutschland hat sich im Jahr 2039 also abgeschafft, und es gibt keine Deutschen mehr.

Antisemit: Ich muss mich nicht mehr schämen! Ist das geil!

Platzberg: Wir wollten, dass er sich bis zum Schluss dieser Sendung zu Tode schämt, und haben ihm stattdessen sein schlechtes Gewissen genommen. Toll gemacht.

Anne Kann: Sind Sie zufällig ein homophober Fleischesser mit einer negativen CO2-Bilanz, der nicht bei jeder Wahl die Grünen wählt und manchmal nichtöffentliche Verkehrsmittel ohne Condom benutzt?

Antisemit (schämt sich, bis er tot umfällt): Ja...

Sarah Zinn: Freu dich also, Michel, Deutschland ist nun antisemitenfrei!

Kriegman: Wieder ein antisemitisches Vorurteil...

Werbesprecher: Diese Khulthursendung war möglich dank Ihrer Gebüren.

 2011

Dienstag, 16. April 2013

Error Man




488976. Wir werden geliebt und gehasst für Dinge, für die wir nichts können - geliebt für das Aussehen, gehasst für die Herkunft. Wir schämen uns für Dinge, für die wir nichts können - Defekte, mit denen wir geboren wurden. Wir sind stolz auf Dinge, für die wir nichts können, die darauf hinauslaufen, ob man Glück hatte oder nicht. Die Leistungsgesellschaft ist ein Mythos.

488977. Und noch eine Runde drehen. Um den Schalter. Der Servicedienstleister ist eigentlich frei. Er guckt auch schon so. Aber nein, erstmal auf die Uhr gucken, so tun, als ob man... Egal. Vielleicht glückt es mir jetzt. "K-k-k-kö..." Nein. Diesmal nicht.

488978. Warum ich nie auf Parties gegangen bin? Na weil die Bücher so interessant waren, ist ja logisch. Ich bin so krank im Kopf, dass für mich auch kein Unterschied ist, ob ein Mädchen vorbeigeht oder ein Müllwagen vorbeifährt. Beides löst null an Emotionen aus. Ich glaube es, um selig zu werden. Nein, ich bin nicht krank. Ja, es macht mir etwas aus. Aber I-i-ich ha-ha-heisse nunmal nicht. Ich heisse.

488979. Ich sitze nun, da. Bin verdammt alt geworden für einen Dreizehnjährigen. Aber was soll ich machen - ich hatte nie die Chance, vierzehn zu werden.

488980. Ich schreibe stattdessen.

488981....

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....


542867. Kommunikation ist alles. Mir bleibt also nichts.

542868. Telefonieren versuche ich nicht einmal zu probieren. Entweder elektronisch posten oder direkt hingehen. Ein Handy habe ich nicht. Brauche ich sowenig wie ein Blinder ein Fernglas.

542869. Überhaupt, alles belanglos, und diese Belanglosigkeit selbst erst recht. Ist nur eine Frage der Zeit, bis man Alkoholiker wird. Man wird diesen Kampf verlieren.

542870. Gott verschwendet keine Schmerzen. Wer unsensibel ist, den lässt er auch nicht leiden. Eine flache Theogonie, nicht wahr? Alles Nonsens. Man will nur eine Begründung haben, wenn auch bloss irgend-eine.

542871. Andere haben es schwerer. Ich hoffe nur, für niemanden, erst recht für kein Kind, dieser Andere zu sein, der es schwerer hat, weswegen sich das Kind seiner angeblichen Wehleidigkeit schämen muss. "Guck, Kind, der hält es doch aus. Und du - du hast es doch so gut.."


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718021:  Ich schätze, ich st-st-sterbe. Ich verzichte auf Reinka-ka-karnation. Danke.



 2008

Montag, 15. April 2013

Sieger




Victor hatte in jedem Fach eine Eins, außer in Musik, da hatte er eine Eins Plus. Mit diesem Abitur konnte er sich an jeder Uni bewerben. Ein stiller Mittag, der letzte Schultag ging gerade zu Ende. Victor hatte bereits eine Zivildienststelle bei einem Naturschutzverein auf einer Insel gefunden, ein interessanter und durchaus romantischer Ort. Im Sommer aber wollte er endlich nach Australien fliegen, das wünschte er sich, seit er fünf war. Victor trank auf dem Heimweg noch einen Pfefferminztee in einer Imbissbude am Ende der Straße. Dann bog er ab, aber in die andere Richtung, anstatt nach Hause, wo seine Eltern bereits ein Festmahl vorbereitet hatten. Die ganze Verwandtschaft war eingeladen, und alle so stolz auf Victor.

Nach einer Viertelstunde war Victor am Fluss, er wollte ein Wenig allein sein, mit sich selbst und seinen Gedanken, vielleicht etwas hinauszögern, vielleicht nur selbst seinen Erfolg genießen, bevor er ihn mit so vielen Leuten teilen musste. Erster in der Schulmeisterschaft in Leichtathletik, großer Soloauftritt mit der Geige im Stadttheater zwei Wochen zuvor. Ja, Victor hatte in der Tat etwas zu feiern. Darüber hinaus war er seit einem Jahr Mitglied in einem Schützenverein, wo er im Frühling einen Wettbewerb gewann, und das Preisgeld der lokalen Krebshilfe spendete. Victor schaute sich lächelnd die Zeugnisse an, die Fotos vom Abschlussball, auf den er gestern mit dem schönsten Mädchen des Jahrgangs gegangen war. Victor seufzte und machte sich endlich auf den Weg.

Er fuhr langsam, doch nach einer halben Stunde war er da. Kurz vor dem Haus seiner Eltern beschleunigte er, warf nur die Schultasche in den Hof, und fuhr auf einen bewaldeten Hügel. Dort griff er in seine Hosentasche nach einer Kleinpistole, die mit nur einer Kugel geladen war. Er schaute die Wolkenfiguren am Himmel an, blickte auf seine Schulzeit zurück, lächelte, sagte ohne jeden sarkastischen Unterton: "Danke für alles!" und schoss sich in den Kopf.


2012

Freitag, 12. April 2013

Der Einsiedler und das Ehepaar




Der alte Einsiedler hob für das Ehepaar eine ganz besondere Flasche auf - einen 58-jährigen Single-Malt-Whisky aus den Highlands, älter als beide seiner Gäste. Die zwei Frauen verspäteten sich etwas - die Ärztin hatte einen Notfall. Der Alte war nicht im Geringsten verstimmt, denn sie hatten seine gesamte Whiskysammlung ersteigert und fuhren mit einem Minibus vor, um sie abzuholen. Die Lehrerin, 51, und damit ein Jahr jünger als ihre Frau, bemerkte die vielen Bilder an der Wand im Wohnzimmer des Einsiedlers - er sah als junger, und dann als nicht mehr so junger Mann stets fabelhaft aus, war erfolgreicher Kleinunternehmer mit überdurchschnittlicher Bildung und sehr charmant. Wäre nicht auf jedem Bild eine Frau im Arm des damals zwanzig-, dreißig-, vierzig-, fünfzigjährigen Greises, hätte sie ihn nicht gefragt, weshalb er nie geheiratet hatte. Der Alte seufzte: "Es war so schön. Ich bereue keine Einzige dieser Liebschaften. Ginge es aber nach mir, hätte ich sie" - zeigte er auf das älteste Bild, auf dem er und seine damalige Geliebte Anfang 20 waren, "geheiratet". "Und woran scheiterte es?" fragte die neugierige Ärztin. Der Alte erzählte dem Ehepaar daraufhin eine Geschichte: "Es war eine schöne Frau aus gutem Hause, und sie lebte in einer Stadt, in der es so viele hübsche, wohlhabende und charmante Kerle gab, und sie waren alle so romantisch. Immer wieder ließ sie sich mit einem der Männer ein, aber nie dauerte eine Liebschaft lange. Am Ende zog sie sich auf das Land zurück und hatte nie mehr mit Männern zu tun. Unfassbarerweise gingen all diese Männer einem seltsamen Vergnügen nach - sie töteten Menschen zum Zweck ihrer eigenen Unterhaltung. Es gab viele bevorzugte Tötungsarten und vielerlei Gründe, weshalb das Töten den Männern so gefiel, aber sie traf nie einen Mann, der sie nicht irgendwann dazu einlud, mit ihm gemeinsam einen Menschen zu töten". Die kluge Ärztin schwieg, die etwas naive Lehrerin verstand den alten Mann noch nicht. Daraufhin schaute er auf die Bilder all seiner Verflossenen und sprach: "Irgendwann wollte jede von ihnen Kinder haben".

Donnerstag, 11. April 2013

Der Sadist




Es war im Sommer 1943, als die junge zierliche Frau tief in der Nacht an seine Tür klopfte. Christian, ein junger Arier, machte der verängstigten Jüdin auf. "Kannst du Klavier spielen?" fragte er. Sie nickte und er ließ sie ins Haus. Der Vater war wenig begeistert, aber Christian erklärte ihm geduldig, dass der jungen Frau die Gaskammer drohte. "Sie wird das Geschirr spülen, das Haus reinigen, kochen und putzen", bestimmte die Mutter. "Nein, sie wird mit mir Klavier spielen", schmetterte Christian die dominante Mutter ab und ging mit der jungen Frau in den Keller. Dort spielte seine eigentlich dafür zu alte Schwester Heike mit den Puppen. "Mach Platz hier", befahl Christian, und richtete das Versteck ein. Heike beschwerte sich bei den Eltern, aber Christian war ein großes Talent, und die örtliche Naziprominenz mochte sein Klavierspiel. Man hätte ihm geglaubt, wenn er jemanden denunziert hätte.

Christian war fast 16. "Ach, die kleine Esther", dachte er über die zierliche Frau, und berührte sein Glied, streichelte es, schlief dann ein. Seine Gedanken waren nicht sehr phantasievoll, er dachte nur, dass er - kein besonders kräftiger Junge - die junge Frau locker mit einer Hand an ihren hinter dem Kopf im Liegen platzierten Händen festhalten könnte, und seine andere Hand hätte dann freies Spiel: er könnte ihr zum Beispiel die Finger in den Mund stecken, sie daran lutschen lassen, oder ihre Brustwarzen kneifen, oder ihre Schamlippen berühren. "Sie ist keine Sklavin", sagte Christian der Mutter beim Mittagessen und sah Heike an. Es sollte sich nichts ändern, dachte Christian, warum auch: ich arbeite im Garten, meine Schwester im Haus, und Esther ist unser Gast. "Das geht zu weit", schimpfte die Mutter, als er Heike dabei erwischte, wie sie Glassplitter Esther ins Essen mischte, und sie ohrfegte. "Nochmal, und schlitz dich auf", leckte er ein langes Messer und legte es auf den Küchentisch.

Bomben fielen, Menschen starben, Esther spielte Klavier, und Christian lernte noch besser Klavier spielen. "Diese Juden", schimpfte der Vater, "sind sich für jede körperliche Arbeit zu fein". Natürlich half Esther im Haus, nur ließ Christian nicht zu, dass man sie zur Sklavin machte. An seinem 16. Geburtstag machte die Mutter gewisse Andeutungen in der Art, Esther solle ihm auch was schenken. Fast hätte er seine Mutter eine Hure genannt. Drei Tage später entdeckte er, wie der Vater die junge Frau sexuell belästigte. Christian nahm ein langes Messer, hielt es an den Hals des Vaters, und sagte: "Ein Wort von mir, und ihr seid alle im Lager". Natürlich drohte Christian nebenbei auch, dem Vater die Eier abzuschneiden und sie ihm in den Mund zu stopfen. Man hätte Christian geglaubt, wenn er jemanden denunziert hätte.

Als es für Esther zu gefährlich wurde, in der Stadt zu bleiben, gab Christian seine Ersparnisse dafür aus, die junge Frau aus dem Land zu schmuggeln. "Sie hat mir viel beigebracht", bemerkte er lakonisch, als die Familie ihm vorwarf, die Jüdin nicht effizienter ausgenutzt zu haben. Die Mutter brach in Tränen aus: "Was bist du für ein Sadist!" Christian sagte weiter nichts, er musste am nächsten Morgen in den Krieg. "Diese Juden", schimpfte der Vater, "finden in jeder Situation raus, wie sie auf Kosten ehrlicher Menschen leben können".


2013

Mittwoch, 10. April 2013

Dammbruch




Ernst war es: das gesamte auf europäischem Boden gelagerte Arsenal der NATO ging für ein lächerliches Billiönchen korruptionsweise an Terroristen: die Gekauften gingen wohl fest von einem baldigen Dritten Weltkrieg aus, und wollten ihre letzten Tage ein wenig genießen. Man atmete auf: es war nicht Al Kaida. Evangelikale? Durchgeknallte Ökopsychopathen? Nein, am anderen Ende der Leitung sprachen die Humanisten mit dem Welttoblerone, und die Forderung der humanistischen Terroristen war: "Wir wollen endgültige Beweise sehen, dass der Holocaust so stattgefunden hat, wie wir es in der Schule gelernt haben". Was tun? Was sagen? Und was passiert dann? Die auf den Sprengköpfen sitzenden Humanisten klärten die Weltgipfler auf: "Sollte es sich erweisen, dass die Menschheit tatsächlich zu so etwas fähig ist, dann hat sie nicht verdient, weiterzuleben. Bevor sie sich selbst in langer Qual und das Leben auf diesem wundervollen Planeten endgültig zerstört, ziehen wir die Notbremse und geben nachhaltigerweise den Tieren eine zweite Chance, eine vernünftige Spezies hervorzubringen".

"Wir müssen den Holocaust leugnen", sagte der US-Kopf. "Erinnern wir sie doch an die schönen Seiten der Menschheit!" rief der Franzose aus. Der Engländer schwieg, der Russe wurde nur sarkastisch, trug aber nichts Brauchbares zur Lösung bei. Der deutsche Führer zürnte: "Das wäre der Dammbruch! Wir dürfen den Holocaust niemals, und ich wiederhole, niemals, leugnen, - ich sage das ganz bewusst!" Gerührt, sprach der Leader der humanistischen Terroristen, die die geheime Sitzung durch einen noch geheimeren Lauschangriff mitverfolgten: "Weil es noch Menschen gibt, die nicht um jeden Preis überleben wollen, sondern die Wahrheit höher als das eigene Leben schätzen, sind wir bereit, die Sprengköpfe abzugeben und unsere lebenslange Haft anzutreten".

Dienstag, 9. April 2013

Michail Karmanov




Flüchtlingslager.



- Name?

- Michail.

- Nachname?

- Nach Name Sie schon gefragt.

- Michail und weiter...?

- Weiter? Kann ich weiter?

- Nein. Wie heißen Sie?

- Michail.

- Und wie heißen Sie weiter?

- Ah, Sie wollen meine Familie?

- Niemand will Ihre Familie, keine Sorge. Wo ist Ihre Familie?

- In Passport.

- Wo ist das? In Russland?

- Hier in Passport meine Familie, Sie lesen: Karmanov.

- Sie heißen also Michail Karmanov? Und was sind Sie von Beruf?

- A wie heißt das... Wor, wor, wor, wie ist wor auf Deutsch...

- Beschreiben Sie es.

- A wie kann man... Steht Gitler. Hat in Hand Mein Kampf. Ich komme, Mein Kampf weg.

- "Mein Kampf" ist in Deutschland verboten.

- Ah, Sie verstehen? Das ist verboten, was ich von Beruf bin.

- Nein, das Buch "Mein Kampf" ist verboten. Wenn Sie eins dabei haben, muss ich es Ihnen entziehen.

- Sie nicht müssen ziehen, ziehen ich mache, was verboten ist. Steht Gitler, hat Mein Kampf, ich ziehen aus Hand, wenn hat in Tasche, ich ziehen aus Tasche.

- Aus der Tasche ziehen... Sind sie ein Dieb?

- Dip, was ist Dip? Ich weiß nicht, ich kann aus Tasche ziehen, ich kann aus Tresor ziehen...

- Sie stehlen also? Dann sind Sie ein Dieb.

- Nicht ich stelle. Steht Gitler, stellt Mein Kampf auf Tisch. Ich komme, Mein Kampf weg.

- Ja, das ist Diebstahl, kommen Sie, Sie sind also ein Dieb?

- Ah, Dieb ist Wor! Ja, ich bin Dieb. Wohin komme ich? In Diebstall? Ich will nicht in Diebstall, darum ich hier.

- Sie wollen nicht mehr Dieb sein, und sind deshalb nach Deutschland gekommen?

- Nein, ich will nicht in Diebstall. Polizei kommt und bringt mich in Diebstall, aber ich nach Deutschland, Polizei findet nicht.

- Sie sind vor der Polizei geflohen? Dann sind Sie kein Flüchtling, sondern ein Krimineller.

- A warum gleich wie Gitler? Kriminäääler, Kriminäääler, das ist wie Änpädä: "Kriminelle Ausländer raus!" Sie Änpädä?

- Nein, ich bin nicht in der NPD.

- A dann wo Probläm? Ich komme, ich krimineller Ausländer. Sie müssen rein lassen.

- Nein, ich muss Sie nicht reinlassen!

- A dann Änpädä, Faschisten. Ich denken, Deutschland gut, mein Kusän mir schreiben, Gitler kaputt, Deutschland schön, alles bezahlt Sozial.

- Ihr Cousin lebt in Deutschland? Ist er auch ein Dieb?

- Naaaaain. Wozu Dieb? Alles bezahlt Sozial.

- Was? Denken Sie, dass alle in Deutschland von der Sozialhilfe leben? Und wo soll das Geld dann herkommen?

- Deutschland erste kultiviert, Deutschland zweite zvilisiert, Deutschland dritte reich.

- Hören Sie auf mit Ihrem Dritten Reich! Sie waren also Dieb, und kommen nach Deutschland, um von der Sozialhilfe zu leben? Ihnen hilft jetzt nur ein Wunder, wenn Sie rein wollen.

- Wunder? Bitte. So, kann ich Gamburg? Dort lebt Kusän.

- Nein, Sie dürfen nirgendwohin.

- Warum? Ich Wunder-Wort gesagt: Bitte.

- Das ist mir egal.

- Geht auch Mirigal, wenn ist in Deutschland. A weit von Gamburg Mirigal?

- Herr Karmanov, wir müssen Ihren Antrag auf Asyl leider ablehnen.

- A wollen Sie ich wieder Dieb? Das Anstiftung ist zu Verbrechen!

- Na gut. Fahren Sie nach Hamburg zu Ihrem Cousin.

- Danke. Weil Sie so nett, ich ehrlich zu Sie: ich 100 Mark aus Tasche ziehen.

- Was?? Sie haben mir 100 Mark aus der Tasche gezogen? Geben Sie sie sofort zurück!

- Warum? Ich doch ehrlich gesagt, dass ich ziehen... A das war Spaaaaß, hier 100 Mark. Alfiedersähn.

- Auf Wiedersehen.



2011

Sonntag, 7. April 2013

Homo




Dügi blieb vor der Fotowand stehen, betrachtete ruhig die Bilder. Gack schaute, was Dügi so machte. Dügi schwieg. "Und so wurden hier 10000 Homosexuelle umgebracht, allein aus dem Grund, weil sie schwul waren", beendete der Touristenführer seinen Vortrag. "Ä, sack ma, wan kaina Läzbä dabaay?" fragte Göck. "Göktan, kannst du mal normal reden?" bat ihn der junge blonde  hochgewachsene Lehrer. "Na ick mejn Lezbo Honeys, Lez Cuties, Sapphic Erotica!" "Göktan, geh raus und warte vor der Tür", schüttelte der Lehrer mit dem Kopf. Den Mädchen gefiel, wenn der Blondschopf mit dem Kopf schüttelte. Das schulterlange Haar gefiel ihnen. Und sie sahen Dügi und Gack nun vorwurfsvoll an, den ganzen Weg zurück zum Bus.

"Ey, das ist wirklich traurig", sagte Dügi, und Gack nickte. "Watte? Is drinne jemand gestorbä?" lachte Göck. Gack ignorierte ihn und sprach mit frauenversteherischer Stimme: "Das ist wirklich schlimm, dass sie die Menschen dafür getötet haben". "Ja, was für Hurensöhne!" fing Göck den Geist der Stunde. Dügi hinterher: "Scheiß Nazis! So dumm und so intolerant". Die Mädchen waren immer noch nicht zufrieden und schauten Peter an, dessen Schwulsein seit zwei Jahren, seit der 9. Klasse, bekannt war. "Hast du nicht etwas vergessen, Dimitri?" fragte die mit dem Emanzenhaarschnitt. "Schuldige, Peta", sagte Dügi leise. Gack klopfte Peter auf die Schulter, Göck vermochte ihn nicht zu berühren, und klopfte ihm symbolisch auf die Schulter. Die Mädchen wandten sich wieder ihren Magazinen zu und stritten angeregt über Strandmode. "Wir werden nicht mehr so gemein zu dir sein, Peta", sagte Dügi. "Wir schwören", schwor Göck. "Ja, du alte Schwuchtel, was los?" pflichtete Gack ihnen bei. "Gunnar, warum nennst du mich dann Schwuchtel?" "Ey, S-Lutscher, der hat doch einen Spaß gemacht!" regte sich Dügi über Peters Undankbarkeit auf. Gack entblößte seinen rechten Unterarm: "So einen großen Dildo schenken wir dir, du bist jetzt unser Freund". Dügi und Göck lachten. "Ihr fangt ja schon wieder an", war Peter den Tränen nah. "Du Mädchen!?" rief Dügi aus mit sich wundernd anhörender Stimme. "Jetzt heult sie, die Peta", war Gack mit dem Mitgefühl zur Stelle.

Der Bus stoppte schließlich vor der Schule und die Schülerinnen und Schüler gingen heim. "Ey, Dügi!" schrie Göktan Dimitri hinterher. "Was!?" "Die Schwuchtel kommt nicht in unsere Mannschaft!" "Nie im Leben", schüttelte Gunnar mit dem Kopf, der mit seinem schulterlangen blonden Haar an den jungen Lehrer erinnerte, in den Peter verknallt war. Da kam schon der Lehrer, und bat Göktan um eine Versöhnungsgeste. Göktan fasste sich in den Schritt und gab Peter die Hand.


2012

Sonntag, 31. März 2013

Evilius Bösmann




Evilius Bösmann hatte eine furchtbare Tat begangen, doch vor Gericht konnte er nur gewinnen: er wollte die Todesstrafe, um sich nicht selbst umbringen zu müssen. Evilius war seit er denken konnte depressiv und lebensmüde. Solange ihn seine Kinderängste am Freitod hinderten, musste er weiter leben, durfte nicht selbstbestimmt sterben. Am ersten Verhandlungstag war Evilius Bösmann froh gestimmt, er sang auf dem Weg zum Gericht, präsentierte sich stolz den Journalisten, beantwortete ihre Fragen geduldig und freundlich, auch die als Fragen getarnten Beschimpfungen und Beleidigungen.

Die Richterin ließ den Staatsanwalt Evilius Bösmann anklagen, und seine Anklage hörte nicht auf. Er warf dem Angeklagten zuerst dessen Tat vor, dann aber sämtliche Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. Evilius Bösmann durfte nicht antworten, und sein Verteidiger saß nur teilnahmslos da und spielte auf seinem Laptop rum. Dann ergriff die Richterin das Wort. Sie wurde laut und warf Evilius Bösmann hohle Phrasen an den Kopf, die stets Wörter wie "immer", "nie" und "jedesmal" enthielten. Die Richterin sprach bis tief in die Nacht, ihre Tirade war gänzlich ohne Struktur und ohne jeden Sinn, sie wiederholte ständig nur das bereits Gesagte in anders formulierten Sätzen. Als sie zu reden aufhörte, schickte sie alle Anwesenden zum Schlafen nach Hause. 

Am nächsten Tag war Evilius Bösmann nicht mehr gesprächsfreudig, und sagte den Journalisten nichts, - vielmehr ging er mit einem Tunnelblick ins Gerichtsgebäude, um seine in der schlaflosen Nacht vorbereitete Erwiderung endlich vorzutragen. Als die Richterin die Verhandlung eröffnete, sprach sie von ihrem Hund und vom Wetter. Evilius Bösmann kam nicht mehr zu Wort, aber es wurde auch mit keinem Wort an seine Tat und an die gestrige Gerichtsverhandlung erinnert. Der Staatsanwalt bemängelte die Verschleißerscheinungen an seinem Auto, und deutete in einer halbstündigen monotonen Rede an, dass er eigentlich einen neuen Wagen bräuchte. Es wurde im Gerichtssaal gegessen, dann gab es Kaffee und Kuchen. Am Abend durfte Evilius Bösmann, müde vom Sitzen, nach Hause gehen. Während er mit einem niederschmetternden Gefühl der Hilflosigkeit und Ungewissheit durch die Straße schlich, zeigten Zeugen der Verhandlung mit dem Finger auf ihn und kicherten.



2012

Donnerstag, 28. März 2013

Was zum Dunkleosteus...





1. Thrinaxodon


Wenn ich Hunger habe, denke ich immer an dich, mein Thrinaxodon, und entscheide mich für Magersucht. Mein Perm neigt sich dem Ende, es ist fast schon Trias. Bald sterbe ich aus, die Rutiodon werden meinen Platz übernehmen. Diese Viecher sind nicht zimperlich: Fleisch ist für sie immer nur Fleisch, ob auf dem Teller oder im Bett. Doch du, mein Thrinaxodon, bist bei Frauen nicht gerade beliebt. Sie meiden dich, können dich nicht riechen. Sie fürchten sich, von anderen Frauen mit dir zusammen gesehen zu werden. Werde erstmal 16, lass dir Zeit. Junge, du hast noch nie ein Mädchen gesehen: immer nur Frauen, 15-jährige, 13-jährige, 11-jährige Frauen. Die Pubertät beginnt immer früher, die Rutiodon werden immer fetter. Ich bin ein einsamer halb verhungerter Gorgonopsid, aber ich zerfleische sie schon, wenn sie dir zu nahe kommen.

Der Trend geht zum Kriechen hin, und habe meine Beine nicht seitlich am Körper. Doch glaub mir, es werden ganz andere Viecher kommen. Lach mich aus, aber ich glaube, dass sich ein Tier auf zwei Beinen bewegen kann. Nennen wir sie Euparkeria: ihnen gehört die Zukunft. Nein, mein Thrinaxodon, das sind keine Reptilien. Wir Gorgonopsia erzählen uns gern Geschichten aus dem Carbon: ein 27-jähriges Mädchen hat es mal gegeben. So zart und bleich, jedes Haar an ihr war glaubwürdig. Sie hatte verdammt lange Haare, und wog Magersucht plus ein Unendlichstel. Sie ernährte sich von Licht und Schatten, nicht von Fleisch wie wir. Aber du bist kein richtiger Carnivore, mein Thrinaxodon, du küsst ja nur. Ich könnte richtig hinlangen, das liegt in meiner Natur. Aber ich hungere und bewundere diese Mädchenbilder, die du mir malst. Du bist auch verglichen mit einem Mädchen ein schöner Junge, und du malst, dichtest, musizierst, tanzt, bist Klassenbester in allen Fächern, und fürchtest dich sogar vor Libellen. Im Carbon hätte dich keiner dafür ausgelacht, aber in unserer Zeit schlagen in Tel Aviv wieder Raketen ein. Das 27-jährige Mädchen, so unschuldig und rein, arbeitete damals an einer todsicheren Verteidigung aller existierenden und noch kommenden Unschuld. Sie war talentierte Physikerin, und hätte eine neue Generation von Atomwaffen erschaffen können. Sie musste nicht leiden, als sie starb: der Asteroid, der ihre Stadt in einem 35-Grad-Winkel traf, war mit einem Bein noch in der Stratosphäre, als er den Boden berührte.

Haut verlangt nach Haut, das ist ihr weiches Schicksal, das so hart sein kann. Deine Nachkommen werden noch besser sein, als diese Euparkeria. Deine Kopfgeburten werden die Welt auf den Kopf stellen. Ich werde auch weiterhin nichts essen, denn so reiße ich nur ein Stück raus, und lasse den ganzen Kadaver liegen. Ich beiße zu und schlucke runter, zum Kauen fehlt mir der angeborene Sadismus. Ich bin ein einfacher ehrlicher Mörder, kein Tierquäler. Ich bin alte Schule, tiefes Mittelalter, meine Essgewohnheiten sind in dieser Zeit fast so lächerlich wie meine moralischen Prinzipien. Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen. Du, mein Thrinaxodon, musst dich nur sicher vor Ruß, Feuer und Lava verstecken. Warte ab, bis Weiß wieder Weiß ist, genauer gesagt, bis Weiß, das immer Weiß ist, und immer Weiß war und sein wird, wieder Weiß genannt wird. Es gab eine präkambrische Zeit, da war die ganze Erde ein einziger Schneeball. Manchmal wünsche ich mir diese alten Zeiten zurück. Manchmal will ich alle Prinzipien vergessen und endlich essen, aber dann kaufe ich mir doch wieder nur ein Eis.





2. Tiktaalik


Kennst du diesen kalten Schlamm, der nach Feigen riecht? Er wird wärmer, wenn du bis zu den Knien versinkst. Ich rauche, trinke, fluche noch auf, und komme hinab zu dir.

Du warst nie ein artiges Mädchen: du warst ein großartiges Mädchen. Du tatest keiner Fliege was, und führtest dich dennoch wie ein Elefant auf. Mit deinem Rüssel warfst du mit Haut nach Messern. Sie konnten tief schneiden, gar die Klingen brechen: wo hattest du nur all diese Häute her? Ihre Brüste so weiß, ihre Brustwarzen so rosa. Und du lässt sie da einfach sterben. Hohe Gräser wachsen über sie, und ich denke, was uns Savannah wohl in "Art of Desire" sagen wollte? Dass Gewalt nicht immer Verbrechen ist, und Verbrechen nicht immer Gewalt? Kein Galgen hinter dem Haus, keine Konsequenz für seine einvernehmliche, behutsame Unzucht. Und sie war eine Künstlerin, sie malte Lesben in neblige Phantasien. Die andere Seite des Pinsels passte prima wo rein.

Zwei Todesarten können wir am lebendigen Leib erfahren, und die erste, die edle, wollte ich mit dir teilen. Diese Unendlichkeit der Schönheit ist nicht auszuhalten: wenn ich etwas in meiner Hand halte, und es sich wie deine Hand anfühlt, und in drei Sekunden immer noch, und in fünzehn Minuten immer noch, dann versäume ich es, in deinen Blick zu blicken, der in drei Sekunden und in fünfzehn Minuten immer noch wie dein Blick aussieht. Darum wurde uns der Schlaf geschenkt. Wie an einer Asymptote können wir uns am Tod entlangschmiegen, und deine Hand liegt in meiner, und wir beide in Pyjamas unter zwei Decken; dein Kissen riecht nach Pfirsichen, meins nach Pflaumen. Die zweite Todesart wäre die Selbstzerstörung, ein langes Wort, das in schnellebigen Zeiten mit Sex abgekürzt wird.

Du nanntest mir den Namen eines Mädchens, das noch Kind war, und sobald es dir um den Hals fiel, konntest du dir nicht mehr vorstellen, wie es ist, dieses zierliche Kind eines Tages, einer Stunde, einer Minute nicht mehr festzuhalten. Vielleicht bringt dir ein Fluss dieses Mädchen zurück, denn sein Wasser ist Schlaf ohne Träume, und Tote träumen nicht. Menschen sagen deinen Namen, grübeln und rätseln über ihn, vielleicht kommt er ihnen bekannt vor, weil irgendwo abgeguckt und schlecht nachgemacht. Sag ihnen, wo die Leichen sind. In ländlichen Gegenden verwaisen die Bahnhöfe, und Metall wird gestohlen. Plötzlich sind all diese Leichen wieder so frisch wie vor gar nicht so geraumer Zeit, als du mit Kugelschreibern nach Mädchen warfst. Deine Kugeln trafen.

Und du bist doch nicht dieses Mädchen, denn der Spiegel wirft nichts zurück. Nein, sie ist nicht dieses Mädchen, aber du schon, denn du stehst wie immer hinter dem Spiegel. Du weißt genau, warum ich an deinem Hügel vorbeiging, als noch Winde wehten. Ohne Wind kann ich nicht abheben. Fliegen ist eine Sucht, und nur die Sehnsucht nach dir ist noch stärker, nur du fehlst mir mehr, als die kalten Lüfte. Sie werden über dich herfallen, wenn du eine von diesen Leichen geworden bist. Sie werden dich sezieren und interpretieren, doch sie werden chronostratigraphisch weit daneben liegen.





3. Gorgonopsid


 Der Drache atmet, die Welten entstehen. Er pustet, die Akkretionsscheiben drehen sich. Später bewegen sich Planeten, Sonnen, Monde und diese aberwitzigen Leuchtraketen mit abertausendkilomenterlangem Schweif. Jeder Mord ist ein Selbstmord - das weiß der Drache: bevor er das Feuer ausatmet, atmet er sein Herz ein. Der Kern implodiert, woraufhin der Stern explodiert. Jede Geburt ist ein Mord, dem ein Selbstmord vorangeht.

Ich war schnell und gnadenlos, aus meinem Maul glänzten die ersten Säbelzähne der Welt hervor. Ich konnte reißen, aber nicht zerfleischen, und es gab einfach keine Schokobons zu meiner Zeit. Wer warst du, dunkelblaugraues Lächeln? Warst du ein Cynognathus? Unmöglich, denn die kamen viel später. Vielleicht ein Thrinaxodon? Jedenfalls etwas Kleines, das überlebt hat. Es war höllisch heiß, die Luft war pures Gift, die Ozeane kippten um, und primitive Reptilien, Kaltbülter, nutzten all die Schwächen aus, zu welchen meine einstigen Stärken wurden.

Du weißt ja, ich komme aus Sibirien, direkt über diesen Trapps verbrachte ich meine Kindheit. Es war eine triste, permische Kindheit, ganz ohne Zierkatzen oder Leptictidien. So dachte ich mir alle möglichen Schneefeen aus, deren Zauberei darin bestand, das Leben sinnvoll erscheinen zu lassen. Dich kannte ich nicht, doch du warst immer bei mir: als Asymptote. Auch heute kommt nichts an dich heran, - hast du mich darum vernichtet, damit ich dieses Nichts sein kann? Ja, jetzt bin ich bei dir, und wir sehen von endlosen Gletschern auf die Welt herab. Von hier aus ist die Raumzeit so gekrümmt, dass uns alle Zeitalter zugleich gegenwärtig sind.

Bernsteinfarben kann der Whisky sein oder rot wie ein Rubin, doch nichts macht mich so betrunken wie dieses dunkle kastanienfarbene Zeug - allein beim Hinsehen. Nichts schmeckt aber wie dieses Konzentrat aus all den Schatten, die du jemals warfst. Es gibt so viele Eisplanten im Weltall, wir sollten unbedingt hin. Von einer gigantischen Gletscherzunge tropfen Sintfluten, bis großes Leid aus Kulturen Zivilisationen entstehen lässt. Heldentum, Moral, freier Wille: Errungenschaften des Wartens, das zur Verzweiflung wurde, zur Religion erwuchs, und in Gravitation kulminierte. Der  Rand des Universums ist der Ereignishorizont, und in der Mitte ist das Loch, in welches alle Fragen unbeantwortet fallen.

Auch die beschleunigte Expansion zerreißt schließlich alle Materie, sogar den Raum, die Zeit, so dass es im Grunde egal ist, ob man aufeinander zugeht, bis es schmerzt, oder sich unendlich lange vermisst und durch Sehnsucht immer weiter voneinander entfernt. Zirkusaffen äffen dich nach, und ich sehe ihre Schatten, und sehe dich darin, die Idee, das sonnige eisig frische Draußen. Ich bin der letzte Gorgonopsid, der sich vor den Supervulkanen in einem gewaltigen unterirdischen Höhlensystem gerettet hat. Ja, ich lebe noch, doch ich sehe kein Leben: ich sehe Fledermäuse, Schaben, Monster, - ich will hier raus, doch es ist ein Labyrith. Wartet am Ausgang nur ein Minotaurus oder vielmehr ein Minotaurasaurus? Ich fürchte nicht, durch ein noch größeres Tier umzukommen. Ich fürchte, dass meine Augen zu lange in der Dunkelheit waren, - und wenn ich dich nicht sehen kann, Schneeflockenmädchen, dann ist mir keine Finsternis dunkel genug.

Schönheit ist nur ein Symbol: des Guten, der Vollkommenheit? Mag sein, doch hier stehe ich, erhaben, und Erhabenheit ist auch ein Symbol: des Großen, des Vollkommenen. Und dennoch bin da, nicht nur abstrakt. Hieraus schließe ich, dass auch du da bist, kein bloßer Schein, keine Mirage. Sei eine Katze, ein Blatt, ein Eichhörnchen, eine Wolke, ein Komet, ein Mond, eine Sonne, ein Quasar, ein Pulsar, doch sei kein Mädchen, das nicht verdient hat, du zu sein. Begegne mir nie in einer menschlichen Gestalt, berühre mich nicht, zeig mir nicht dein Lachen, lass mich nie in deine Augen blicken, wenn du nur als Geisel von sadistischen Mördern und Psychopathen existieren könntest. Begeistere mich nicht, lass mein Herz kalt, lass meine Sinne verkümmern. Töte mich durch deine Nichtexistenz, und ich kann mich nicht glücklicher schätzen. Was sind wir? Wellenreiter auf pyroklastischen Strömen, Pollen, fortgespült vom Sonnenwind? Hier auf Erden tarne ich mich als ein unscheinbares menschliches Wesen, und du dich äußerlich als etwas, das mein Herz höher schlagen lässt, und innerlich als das was mein Herz überhaupt schlagen lässt.



11.2012

Dienstag, 26. März 2013

Kleinika




"Ich werde ausziehen". "Mach das...Warum will er ausziehen, das Haus ist so verdammt groß, zur Arbeit fährt er 15 Minuten mit dem Bus...". Erich lehte sich zurück und betrachtete die Sterne. Dieser Sturkopf ist tatsächlich von Zuhause ausgezogen. Erich wollte auch weit weg gehen, aber hatte einem Freund etwas versprochen. Er musste sie finden.

Der September 2024 überraschte mit winterlicher Kälte. Erichs Wagen hätte sich auf der glatten Straße auch überschlagen können. Vielleicht wäre es das Beste für alle gewesen. "Hochheim", las Erich vom Schild, und suchte die Straße. Das Licht braucht keine 15 Minuten von der Sonne zum Mars, dachte Erich. Er wäre gern Julius gefolgt.

Die alte Lehrerin schickte Erich zu einem Psychotherapeuten, aber nicht in Behandlung, sondern weil dieser in der 4. Klasse neben dem Mädchen saß. "Ich nannte sie Kleinika, weil sie so viel kleiner war", sagte er. "Ich beschützte sie immer, vielleicht weil ihre Blicke so verängstigt waren. Aber das war so komisch, denn keiner tat ihr was". "Wo ist sie jetzt", fragte Erich ungeduldig, und dachte dabei an Julius. Ich hole dich ein, dachte er. "Das weiß niemand", wurde Erich enttäuscht. 


Der Vater von Julius rief Erich immer wieder an: "Was sprichst du in Rätseln? Sag mir endlich, wo mein Sohn ist!" "Nun, er ist ausgezogen", sagte Erich immer, "er hat eine Arbeit gefunden, die ihn glücklich macht, und es geht ihm sehr gut". "Warum meldet er sich dann nicht mehr?" Darauf schwieg Erich nur, was hätte er denn sagen sollen, - er war einem Freund noch etwas schuldig.

"In Deckung, Erich!" rief der Verletzte, und Erich gehorchte, und kroch um sein Leben. Der blutüberströmte Mann richtete sich auf und ballerte auf den heranrückenden Feind. Er hatte Hunderte erwischt, bevor er von Hunderten von Kugeln durchsiebt wurde. Erich fing noch seinen letzten Blick, den Blick einen glücklichen Mannes, eines, der endlich erlöst wurde. Es schien, als würde sein Blick Erich genau zwei Worte zuwerfen, einen Vornamen und einen Nachnamen, und in dieser Kombination konnte doch nur ein großer Künstler die beiden Namen kombiniert haben. "Ich verspreche dir, sie zu suchen", flüstere Erich, als seine Kameraden den von einem einzigen Helden zerschmetterten Feind überranten.


Erich brach in alle relevanten Archive ein, fand aber nichts. Ein Notizbuch mit einer Gedichtreihe, die "An Kleinika" betitelt wurde, erwies sich als Fälschung in dem Sinne, dass es erst im Nachhinein geschrieben wurde. Erich stürmte das Haus der alten Lehrerin: "Es hatte sie nie gegeben, oder!?" Die Antwort war ein trauriges Nicken.

"Ich versichere Ihnen, dass ich soweit bin". "Erich, Sie sind nicht mehr der Jüngste, und was wollen Sie dort überhaupt? Sie hatten sich doch nie für Sterne interessiert". "Es geht nicht um mich, und auch nicht um die Sterne", sagte Erich, und rief einen besorgten alten Mann an, bevor er verschwand: "Julius wird nie zurückkehren. Sein Weg kennt nur eine Richtung". 


Erichs Rakete war deutlich leistungsfähiger. Es würde zwar Monate dauern, aber dann ist Julius eingeholt. Auch Erich flog allein, und auch er ließ den Bordcomputer eine Maschine sein, und keine Imitation eines menschlichen Gesprächspartners. "Diese Welt, Schall und Rauch", funkte er an Julius. "Es hat diese Welt nie gegeben", funkte Julius zurück. 


Als sie sich trafen, verstummte die Erde. Sie bauten das von Erich mitgebrachte Teleskop zusammen und blickten sich an, als wären sie von Hunderten von Kugeln durchsiebt worden: so glücklich, so erlöst. Ein Asteroid mit einem Durchmesser von mindestens 30 Kilometern schien den Planeten getroffen zu haben, völlig unerwartet, er kam wie aus dem Nichts. "Für mich hat Kleinika existiert, und für dich?" fragte Erich. Die Antwort war ein fröhliches Nicken.


 9.2012