Donnerstag, 13. Juni 2013

Nihilokratisches Gespräch



Heute, im verschneiten Tierpark irgendwo im Norden Europas, trifft der alte Grieche Hypothenus drei philosophisch unbegabte, aber gesinnungstechnisch hochgerüstete Perversönlichkeiten: einen radikalen Optimisten, einen radikalen Pessimisten und einen katholischen Priester.

Hypothenus: Wenn ich guten Tag sage, trage ich wahrscheinlich Eulen nach Athen...

Pessimist: Nein, Sie begehen mit dieser haarsträubenden Lüge ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!

Priester: Mäßigen Sie sich, Junger Mann! Der liebe Gott...

Hypothenus: Der Gott der Liebe bei euch Christen, ja...

Pessimist: Wenn es ihn gibt, ist er der Teufel persönlich.

Hypothenus: Sie schweigen, o Optimist?

Optimist: Das Leben ist schön. Man muss es nur richtig leben.

Pessimist: Alle töten, das wäre richtig.

Priester: Eine schwere Sünde!

Optimist: Nein, einfach eine traurige Lebenseinstellung. Sehen Sie, ich sitze im Rollstuhl, und früher war ich ein Leichtathlet, habe Preise gewonnen. Und bringe ich mich jetzt um? Nein. Finde ich jetzt alles beschissen? Überhaupt nicht. Ich genieße das Leben.

Priester: Was für ein Unglück. Wie kam es denn dazu?

Optimist: Dass ich das Leben genieße?

Priester: Dass Sie im Rollstuhl sitzen.

Optimist: Zivilcourage. Ich hatte immer felsenfeste moralische Prinzipien. Nun ja, ich habe Kinder beschützt...

Pessimist: Und die Kinder haben sich so bedankt?

Optimist: Die Kinder haben sich später bedankt. Der Mob wars, nachdem die Schurken von den Kindern abließen und rumschrien, ich würde sie sexuell belästigen. Sie stürzten sich auf mich und schlugen mich bewusstlos. Danach wurde ich der Belästigung angeklagt und verurteilt. Nachdem ich aus dem Knast raus war, wurde ich oft auf dem Rollstuhl von Kindern angegriffen und gedemütigt. Aber ich genieße das Leben.

Hypothenus: Haben Sie ein Geheimnis, das Sie keinem verraten?

Optimist: Nein. Das Leben ist doch schön. Das Leben, die Menschen, alles.

Pessimist: Ich muss kotzen! Die Menschen sind ein Haufen Dreck! Das Leben!? Ein Geschenk Gottes, nicht wahr? Soll er sich sein Geschenk in den Hintern schieben!

Priester: Sie kommen in die Hölle, wenn Sie so reden.

Pessimist: Ich bin bereits in der Hölle. Das Leben an sich ist die Hölle.

Hypothenus: Sie sind, o Pessimist, ein priviligierter Mann. Sie sind Beamter, unkündbar, und leben ganz schön epikureisch für mein Befinden.

Pessimist: Soll ich mich auch noch dafür bestrafen, dass alles Scheiße ist? Ja, ich fahre zweimal im Jahr in den Urlaub! Ja, ich gehe in die teuren Puffs! Ja, ich saufe die feinsten Brände, aber nur damit ich die Qual hier überhaupt aushalte und mich nicht erhänge.

Priester: Selbstmord ist eine Todsünde.

Optimist: Ich habe auch schon an Selbstmord gedacht, als die Frau meines Lebens mich verlassen hat. Sie hat sich in einen Anderen verliebt, traurige Geschichte. Aber nicht so tragisch.

Pessimist: Vielmehr komisch. Wann hat sie Sie denn verlassen?

Optimist: Ich war in Untersuchungshaft. Einen Tag nachdem die Ärzte feststellten, dass ich nie mehr werde gehen können...

Pessimist: Und nie mehr laufen, springen, Preise gewinnen, Kohle scheffeln. Liebe ist eine Lüge. Wer Liebe sagt will betrügen.

Hypothenus: Ich bewundere Sie, o Optimist. Aber eine Frage noch: womit verdienen Sie jetzt Ihren Lebensunterhalt?

Optimist: Ich drehe Filme.

Pessimist: Was denn für Filme? Behindertenfilme?

Priester: Sie ignorantes arrogantes diskriminierendes Arschloch!

Optimist: Folterpornos.

Priester (verdutzt): Wie bitte!?

Pessimist (leise): Jetzt verstehe ich ihn. Er ist einer von ihnen geworden. Genauso ein Teufel wie alle Anderen.

Hypothenus: Verdienen Sie jetzt mehr oder weniger?

Optimist: Deutlich mehr.

Hypothenus: Und was ist mit Ihren moralischen Prinzipien?

Optimist: Sie jucken mich jetzt die Hypothenuse. Ich habe verstanden, wie der Hase läuft. Das Leben ist schön, man muss es nur leben. Verweigerung bringt nichts. Kein Wunder dass das depressive Arschloch hier, das im Gegensatz zu mir auf zwei Beinen steht und alles in den Arsch geschoben kriegt, das Leben so unerträglich findet. Werde erwachsen, Junge!

Priester: Mit Empörung verlasse ich dieses Gespräch!

Pessimist: Eine typisch pfäffische Haltung. Wenn was nicht rosa ist - ignorieren, flüchten, Augen schließen.

Hypothenus: Und jetzt mal ohne den Priester. Finden Sie, o Optimist, das Leben wirklich schön?

Optimist: Ohne den Priester? Ich bin hier eigentlich der Priester. Ich zeige am eigenen Beispiel, wie man mit schweren Schicksalsschlägen lebt, sich nicht brechen lässt, verzeiht, auf Rache verzichtet und die Menschen so liebt wie sie sind...

Pessimist: Und genausoein Schwein wird. Ich geh was saufen sonst werfe ich mich noch vors Auto.

Hypothenus: Urteilt selber, o Gaffer, wer Recht hatte und wer Pflicht - die Pflicht, dem Anderen zuzustimmen.


 1.2010

Freitag, 17. Mai 2013

Der Achte Fünfte





1. Wer ist Deutschland


"Sozialer Aufstieg", murmelte Peter, "das bedeutet, dass es mindestens zwei Klassen von Menschen gibt. Eine höhere Klasse muss es geben, sonst könnte man nicht aufsteigen". Des Lachens konnte ich mich aber erst nicht enthalten, als Jürgen meine: "Klassengesellschaft, auch bekannt als Faschismus". Wir fuhren zu einer Veranstaltung nach Hamburg, Zug, zweite Klasse. Ein Linksextremist lud alle progressiven Kräfte des Landes ein, um den achten Mai auf seine besondere Art zu begehen; es gierte mich neu, denn so vertraut mir der Sowjetkommunismus auch war, war mir der westliche Linksextremismus immer ein Stück befremdlich.

"Ich war heute in einem Chat", berichtete Rolf, "Cocaine war mein Nickname. Eine junge Chatterin sagte: Hitler ist eine fette Sau. Ich berichtigte sie: Adolf Hitler (20.4.1889 – 30.4.1945) war ein eher schlanker, mittelgroßer Mann. Sofort wurde die Verbindung unterbrochen; ich wurde des Chatrooms verwiesen, weil ich Hitler sein Menschsein zugestand. Hitler darf nicht ein Mensch genannt werden; in Deutschland ist es strafbar, zu sagen, Adolf Hitler gehörte zur Spezies homo sapiens sapiens". "Nur ein Beispiel unter unzählig vielen", meinte Jürgen, "Und was denkt das junge Mädchen? Wahrscheinlich, dass der Chatter Cocaine ein Nazi ist. So bildet man sich in Deutschland seine Meinung", schleuderte Peter entgegen. "Apropos Meinungsbildung", wachte der fünfte im Bunde auf, "die Bild-Zeitung, die ich wenn kaufen würde, dann um sie im Zug auf dem gegenüberliegenden Sitz zu platzieren, damit ich meine Füße auf den Sitz legen kann, ohne diesen zu verschmutzen". "Wo in Deutschland gibt es so schöne Pfützen, dass die Schuhe dreckig werden?" war mir neu. "Verschmutzen - das ist die Funktion der Bild-Zeitung", unterbrach mich Jürgen, "sie ist ein Triumph der Dummheit im Lande der Dichter und Denker". "Viereinhalb Millionen Vollidioten „lesen“ jeden Tag die Bild-Zeitung, die zweitpopulärste Tageszeitung in Deutschland erreicht keine Million von Lesern", war Peter aus der Statistik klug. "Nun, wenn die Deutschen so blöd sind, wie sie nun mal sind, dann wundert es keinen vernunftbegabten Menschen, dass diese Nation den Holocaust verbrochen hat, dass Millionen Deutsche immer noch vom Dritten Reich schwärmen und es sich zurück wünschen", wurde der Fünfte etwas konkreter, vielleicht um zu erinnern, wo wir hinfuhren. Peter nicht faul: "Blöde kann man leicht manipulieren, und der Psycho aus Braunau konnte die Massen nun mal begeistern". Jürgen klagte: "Der Krieg ist nun sechzig Jahre her, und er ist allein schuld. Niemand fühlt sich schuldig, alle jammern, der Österreicher hätte sie verführt, hätte Deutschland ins Verderben gestürzt, und hassen ihn mehr dafür, dass er den Krieg nicht gewonnen hat, als dafür, dass er ihn, wie sie alle auch, gewollt hat".

Wir stiegen in Uelzen um, ein für meine Begriffe dekadenter Bahnhof, dörflicher und kümmerlicher, als für gleiches Geld mit deutscher Technologie machbar gewesen wäre. "Vergiss die Integration", meinte Jürgen zu mir, "bleib wie du bist, werde bloß nicht wie die Deutschen". "Wie bin ich denn?" fragte ich in die Runde. "Wie sind denn die Russen so? Unkompliziert, großherzig, optimistisch, saufsam, etwas prahlerisch, aber sehr sympathisch", lobte mich Peter. "Ich mag es aber verkopft, diskret, nüchtern, schüchtern, bescheiden, misanthropisch", stellte ich unverblümt fest. Peter kochte: "Solche Migranten wie dich zu tolerieren, ist am Schwersten, ihr wollt die besseren Deutschen sein, als die verdammten Deutschen!" "Ich bin nicht toleranzbedürftig", bemerkte ich. "Assimiliert?" sah mich Jürgen angewidert an. "Deutschland hat dich verdorben. Du hättest in Russland bleiben sollen", meinte Rolf. "Sprecht ihr ihm das Recht ab, hier zu sein?" lachte der Fünfte gut. "Auf solche Messerstecher in den Rücken können die Linken in Deutschland verzichten!" rief Peter. "Aufgrund welcher Lebensleistung spielst du dich so groß auf?" interessierte mich sehr. Es brachte mir ein unappetitliches Schimpfwort ein. "Deutschland, in das ich gekommen bin, das sind nicht die dicken Säue, die in den Wohlstand, für den sie nichts können, hineingeboren wurden, ihr Leben lang nichts getan haben, außer ihr Land zu verteufeln, und meinen, immer und überall im Recht zu sein, nur weil sie links sind", blieb ich ruhig. "Schon klar, du bist in das Land Goethes und Schillers gekommen", war Rolf beleidigt. "Komisch, dass dieses Land, das außer Künstlern auch Wissenschaftler hervorbrachte, die besten der Welt, nie nach diesen benannt wird - oder hört man einen je sagen: das Land Einsteins und Plancks?" schraubte ich die Beleidigungsspirale weiter fort. "Nicht unsere Schuld, dass der Kommunismus bei euch schiefgelaufen ist und ihr deshalb so verbittert seid!" rief Peter mir zu, und da war schon die Endhaltestelle Hamburg-Altona.



2. Du bist der Holocaust


Ein Hinterhof irgendwo in Hamburg, wir kamen an. Ausländisches Bier wurde gereicht, auf die Nachfrage worauf ich die Antwort bekam: "Kann sein, dass deutsches Bier besser schmeckt, aber es ist deutsch". Auf einer improvisierten Bühne hielt der Gastgeber bereits seine Rede: "Immer wieder wollen deutsche Politiker einen Schlussstrich ziehen. Sie sind Faschisten. Sie gehören allesamt ins Gefängnis. Hitler ist mir gar sympathisch, wenn ich sehe und höre, wie die Deutschen zu ihrer Geschichte stehen. Er ist mir sympathischer, als eine dreiundachtzigjährige Frau, die seinen Holocaust, die ihren Holocaust still mitgetragen hat, für die NSDAP gestimmt hat, deren Mann an der Ostfront uns Leben kam. Hitler ist ein Mann, wie es aussieht. Er trägt die Verantwortung. Alle schütteln ihre Schuld ab, alle wollen nichts gewusst haben, alle sind Opfer gewesen. Das Bekenntnis zu Hitlers Alleinschuld am Elend der Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert ist das höchste Heiligtum des deutschen Volkes". Ich war angesichts einer solch brennenden Hitlerverherrlichung nicht wirklich überrascht, kannte sie aber bisher nur von Rechtsextremisten.

"Ich bin stolz, kein Deutscher zu sein!" rief der Redner unter tosendem Beifall in die Menge. Nun war ich gespannt, zu welcher Nationalität er sich bekennen würde. "Die Deutschen sind eine Schicksalsgemeinschaft von scheinheiligen Pseudohumanisten, eine Irrenanstalt in politischer und moralischer Hinsicht", hörte ich weiter zu. Rolf setzte sich zu mir, sein Ärger war vergangen. Jürgen und Peter setzten sich demostrativ dorthin, wo die geographische Entfernung zu mir am Größten war. Der Redner donnerte indes weiter: "Alles, was je einer über die Deutschen gesagt hatte, stimmt, solange es nichts Gutes ist. Es hat seinen Grund. Es gibt Namen, die wie Links im Internet auf den Grund hinweisen, sehr präzise, sehr einleuchtend. Natürlich nicht für blöde Schwachköpfe, die die Bild-Zeitung lesen, aber auf deren intellektuelles Niveau würden uns Hitler und ich niemals begeben. Sepp Herberger. Konrad Adenauer. Die Stunde Null. Mit der Gründung der BRD wurde die Welt erschaffen, davor war nichts. Alles schnell verdrängen. Wir sind Fussball-Weltmeister, wir sind ein Wirtschaftswunderland, wir sind alle 1949 auf die Welt gekommen, mit dem Davor haben wir nichts zu tun". Rolf sah mich fragend an, ich nickte. Rolf fragte zur Sicherheit nach: "Hier hat er doch Recht, oder?" Ich schwieg, der Redner sprach: "Ach, es hat einen Krieg gegeben? Welchen Krieg? Davon steht in der Bild-Zeitung nichts. Holocaust? Was für ein dreckiger Jude hat sich dieses perverse Wort ausgedacht? Was bedeutet es überhaupt? Ich sags dir, du Hurensohn. Es bedeutet deine Mutter. Es bedeutet: dein Vater, dein Grossvater, deine Grossmutter, alle deine Onkel, alle deine Tanten, und wenn das schon alles ist, was es dazu zu sagen gibt, dann kann ich dir nur gratulieren. Gut weggekommen, noch mal Glück gehabt, du Nazischwein. Für die Meisten gilt aber: Du bist der Holocaust. Wir sind ja im Jahre 1949. Noch vor 4 Jahren hattest du jüdische Kinder zu Tode getreten, polnische Frauen erschossen; und nun willst du davon nichts wissen, nun ist der Hund aus Braunau allein an Allem schuld, nun sind die Russen wieder die Bösen, und vielleicht hast du der freien Welt sogar etwas Gutes getan, als du vor 8 Jahren mit deinen Kameraden - die auch am neunten Mai 45 plötzlich nichts mehr wussten, sich an nichts mehr erinnern konnten, ein zerstörtes Deutschland vorfanden und Opfer einer weltweiten Verschwörung gewesen sind, nicht wahr - russische Familien in Ställe eingepfercht und sie angezündet hast, beim lebendigen Leib verbrannt, die Welt von den Untermenschen gesäubert". Vielen Zuhörern blieb die Luft weg, der Redner setzte noch den Deckel drauf: "Jeder wusste was er tat, jeder wollte es, jeder tat es gern. Dummheit ist keine Entschuldigung, Feigheit ebenso wenig. Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust".

Pause. Die Gemüter kochten, und es war schwer abzulesen, ob vor Zustimmung oder vor Ablehnung. "Adorno war der Meinung, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch", setzte sich der Fünfte zu uns. Rolf nickte bejahend. "Nach Auschwitz Fussball-Weltmeister zu werden? Nach Auschwitz mit Schwäbisch Hall Eigenheime bauen? Nach Auschwitz „Wetten Dass“ gucken?" fragte der Fünfte. "Grausam", meinte Rolf. "Gut, das Leben geht weiter, und die Kinder können für die Gräueltaten ihrer Eltern nun mal nichts", wurde der Fünfte rhetorisch, "aber nach Auschwitz die NPD wählen? Nach Auschwitz in die DVU eintreten? Nach Auschwitz Nazi sein?" "Unverzeihlich", urteilte Rolf, "alles andere, als die Betreffenden mit dem Tode zu bestrafen, ist eine bodenlose Frechheit... eine Unverschämtheit, die das deutsche Volk für immer moralisch disqualifiziert".
Wir drei gingen auf die Straße, die Pause war etwas länger geraten als geplant. "Kennst du den Redner?" fragte Rolf den Fünften. "Nein, noch nie gesehen". "Aber dass einer, den den Krieg nicht erlebt hat, so redet, ist doch bewundernswert", wollte Rolf bejaht wissen. "Ich kann mir nicht vorstellen, was jetzt noch kommt", tat ich meine politische Phantasielosigkeit kund.



3. Die Dichte des Denkens


Die Sitzplätze waren bei unserer Rückkehr neu verteilt, wir setzten und ganz rechts zu einem sehr hellhäutigen blonden Mädchen. "Kommst du aus Hamburg?" fragte Rolf. Sie nannte eine kleinere Ortschaft in Schleswig-Holstein, die von uns drei nur ich, der Migrant, heimatkundlich erschlossen hatte. Auf die Frage des Fünften, was sie auf der Veranstaltung zu suchen hatte, gab sie an, als Reporterin für eine rechtskonservative Schülerzeitung vor Ort zu sein.

Der Redner begann in alter Frische: "Es ist nun eine Straftat in Deutschland, den Holocaust zu leugnen, seine Zunge so zu bewegen, dass aus dem Mund rauskommt: „Den Holocaust hat es nicht gegeben“. Sehr klug, bravo. Wie wäre es damit, ein tätliches Leugnen des Holocaust unter Strafe zu stellen? Ein Alptraum für jeden Deutschen, denn der Deutsche tut jeden Tag, wenn er zur Arbeit geht, wenn er die Bild-Zeitung liest, wenn er Fussball guckt, nichts Anderes, als den Holocaust zu verdrängen, zu relativieren, zu leugnen, denn darauf kommt es im Endeffekt hinaus. Schwer vorstellbar, wenn in Deutschland auf einmal jeder Deutsche hinter Gitter kommt. Inkonsequenz ist daher zu einer Tugend geworden, Inkompetenz zum Lernziel, sobald es um einen intellektuellen Beruf geht". "Das Bildungssystem darf natürlich nicht zu kurz kommen", kommentierte ich, als er sprach: "Der Geschichtsunterricht in Deutschland - arme Anne Frank! Die Meisten denken wohl, dass sie eine Deutsche war, und von den Russen ermordet wurde". Der Fünfte brachte meine Alltagserfahrungen aus fernen sprachunkenntnisbedingten Hauptschulzeiten zum Ausdruck: "Es ist kein Geheimnis, dass Millionen erwachsener deutscher Menschen glauben, die Russen hätten sie überfallen". Mir bleib die Antwort im Halse stecken, als ich vom Rednerpult hörte: "Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Hitler und Adenauer?" Es gab eine kurze rhetorische Pause, in der ich genüsslich zusah, wie die schlake Hand des hellen blonden Mädchens durch das lange Haar  desselben Mädchens fuhr, damit das hübsche Gesicht eine freie Sicht bekam. "Nur diesen: der eine Verbrecher wird gehasst, der andere zum Gott gemacht. Die größte deutsche Persönlichkeit der gesamten Geschichte, des ganzen Jahrtausends der Existenz des Deutschtums, das, so hat die Mehrheit der Anrufer gestimmt, soll Adenauer sein. Warum nicht gleich Hitler? Da wäre man wenigstens bei der Wahrheit geblieben, wenn es schon um die Intelligenz so düster bestellt ist. Max Planck gehörte nicht einmal zu den 100 besten Deutschen - wen wundert das bei einem Volk von Bildzeitungslesern?" wurde der Redner nun medienkritisch. "Der Bildungsstand der Deutschen ist leicht rückläufig, aber immer noch weit über dem Weltdurchschnitt", provozierte ich Rolf. Der Redner wurde von einem Zwischenrufer "Nestbeschmutzer" genannt, worauf er diesem, allerdings nicht vom Pult und ohne Mikro, ausführlich und ausufernd antwortete. Wieder eine Pause. "Woran denkst du?" fragte mich Rolf, und erwartete einen klugen politischen Einwurf. "Wie kann man mit einer so zierlichen Hand so schnell schreiben?" meinte ich das Mädchen. Rolf wütete: "Du bist so pervers, du verfluchter Privatier! Sich einfach aus der Politik raushalten, nur an den eigenen Egoismus denken!" "An sich selbst denken, das ist Egoismus", korrigierte ihn der Fünfte, "an den Egoismus denken, das ist Psychoanalyse".

"Was wird eigentlich in den deutschen Familien so geredet", kam der Redner zurück, " - über den Krieg, über den Opa, über den Holocaust? Was erzählen deutsche Eltern ihren Kindern über die Ausländer? Die Türken sind doch alle kriminell, nicht wahr? Die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion - alles russische Mafia, die Polen ein Volk von Autodieben, und die Juden... Schnell die Pfote aufs Maul, bevor man sagt, was man sagen wollte; bevor man sagt, was man wirklich denkt". Rolf erblasste: "Das ist selbst mir zu links". "Wetten, es wird gleich rechts?" scherzte das helle blonde Mädchen, und der Gastgeber sprach: "Wenn nicht die reiche jüdische Lobby in den USA - hätten die Juden ein besseres Schicksal als die Türken? Nun, die Juden sind vorne gut bestückt, und nehmen Deutschland von hinten. Die Weltmacht heißt USA, und die Interessen der Juden fallen mit den Interessen des zweiten Römischen Reiches heute zufälligerweise zusammen". Rolf stutzte: "Die Türken? Was haben die Türken denn für ein nach Vergeltung schreiendes Schicksal?" "Vielleicht meinte er die Kurden", bemerkte der Fünfte humorlos. "Ein Glück, das dem geschundenen jüdischen Volk zu gönnen ist. Israel hat circa 50 Atombomben. Gut so. Zur Selbstverteidigung; wer weiß, ob morgen Ahmadinedschad oder übermorgen - wie hieß diese Fettsau von der CDU noch mal – es freut mich, dass Israel in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass jeder, der noch mal versucht, das jüdische Volk auszurotten, einen Atompilz vor die Haustür gestellt bekommt", täuschte der Redner einen philosemitischen Orgasmus vor.



4. Unpolitische Macht


"Ich sehe nach, was da los ist", flüsterte Rolf, "Peter hat Jürgen eben eine reingehauen". Auch vor dem Rednerpult gab es eine moderate Schlägerei, auch da ging es um dasselbe wie bei Peter und Jürgen, um den Vorwurf des Antisemitismus, wobei keiner anschließend wusste, wer wen warum einen Antisemiten genannt hatte oder wer was weshalb als einen Antisemitismusvorwurf interpretierte, und darum losboxte. "Komischer Russe: Eine Schlägerei, und du nimmst nicht Teil", scherzte der Fünfte.

Die Gemüter beruhigten sich und der Gastgeber setzte seine Rede fort: "Willy Brandts Kniefall von Warschau war die einzige gute Tat, die ein deutscher Politiker im zwanzigsten Jahrhundert vollbracht hatte. Wenn ich die Partei all der Opfer ergreife, so aus Humanität, aus der jedem gebildeten Menschen zugänglichen Überlegung, dass es das Normalste auf der Welt ist, dies zu tun, und ich erweise damit nicht den geschundenen Völkern, sondern meinem eigenen Selbstverständnis als Mensch eine Wohltat". "Am Ende die obligatorische Gefühlsduselei", zeigte sich der Fünfte enttäuscht. "Wo sind Peter und Jürgen?" fragte ich Rolf. "Nach Hause gefahren", schulterzuckte dieser. "Von den Deutschen erwarte ich bedingungslose Dankbarkeit dafür, was hier sage", sprach der Redner, als ein alter Mann links von uns ihn erkannte: "Das ist doch der Urenkel von diesem Helden von der Ostfront, ...Bahr oder ...Behr". Dieser sprach indes: "Wem es schwer fällt, mir zu danken, etwa weil ich ein Russe bin, und man ja bekanntlich den Russen nicht dankt, sondern sie hinter Stacheldraht verhungern lässt oder in Ställen verbrennt, der suche ein Holocaust-Mahnmal in seiner Stadt auf, falle auf die Knie und kapituliere bedingungslos. Falle mit dem Gesicht auf die Erde, in die dein Grossvater, dein Vater, oder vielleicht du selber Blut vergossen hast, weil du in deinem Hass auf die Juden, auf die Zigeuner, auf die Russen Hitler zugejubelt hast, ihn gelobt und mit ihm gefeiert hast. Verdamme ihn nicht dafür, dass eure von der katholischen und manch anderen Kirchen geheiligte Mission gescheitert ist, verfluche dich selbst dafür, dass jedes Wort, das Hitler in seinen Tiraden hinausrief, aus der Tiefe deines Herzens kam, dass du derjenige warst, der ihn an die Macht brachte und in seinen Krieg zog, in deinen Krieg, den du wolltest, du, Deutscher! Schuldspruch, Deutschland, Hitler ist ein falsches Alibi - das Gericht des Gewissens ist tief geschockt über den rigorosen Unwillen zur Einsicht, und im Namen der Menschheit ergeht das moralische Urteil: Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust!"
Ich schämte mich fremd. Er war so deutsch, wie dieses blonde Mädchen schön, gab sich aber für einen Russen aus. "Ich verrate dir gleich, was hier läuft", revidierte der Fünfte seine Aussage vom Nichtkennen des Redners. Rolf ging in die Büsche, und der Fünfte verriet mir: "Er ist Schauspieler und Mitglied in einem rechtsextremistischen Geheimbund". "Kommt das in deinen Bericht?" fragte ich das Mädchen. Sie sah mich unpolitisch an, worauf ich den Fünften, der gebürtiger Hamburger war, nach einer bürgerlicheren Gegend als jener hier fragte. Vorbei an der graffitographischen Aufschrift "Unpolitisch macht hirntot" spazierte ich Hand in Hand mit dem hellen blonden Mädchen in ein gutbürgerliches Café. Sie war so direkt, mir die Eigenschaften solgleich zu benennen, aufgrund derer ich ihr sympathisch war: ich sei klug, diskret, nüchtern, schüchtern, bescheiden, misanthropisch. Da an diesem Abend mit gewaltsamen Ausschreitungen zu rechnen war, begleitete ich sie mit dem Zug bis nach Hause, fuhr dann auf die Reeperbahn, wo ich Rolf und den Fünften traf.

"Gemütlich hier", stellte der Fünfte fest. "Zu steril", verneinte Rolf, "hast du sie flachgelegt?" "Das hat noch niemand, vermute ich, und das Mädchen ist 19". "Eine von der patriarchalen Sexualmoral unterdrückte junge Frau", kommentierte Rolf. "Ein Mädchen", korrigierte ihn der Fünfte. "Was?" "Er sprach von einem Mädchen". Eine Schweigepause, die nicht allen bekam. Während Rolf mit den Tränen kämpfte, klopfte der Redner dem Fünften von Hinten auf die Schulter und lachte: "Wie war ich, du alter Kommunist?" "Ich muss neidlos anerkennen: du warst geil", zog der Fünfte den Hut. Rolf musste sich übergeben, ich ging mit ihm in eine Bartoilette. "Politik, scheiß Politik, scheiß auf die Politik!" wischte er sich das Maul ab. Wir tranken in der Bar einen Apfelsaft und fuhren heim, ohne den Fünften.



2010

Donnerstag, 16. Mai 2013

Fremdschämen, sich




1


Der Whisky roch nach Leder und gerösteten Früchten. Kuzma setzte sich zu uns, kletterte etwas unbeholfen auf den hohen Stuhl. Ich erzählte gerade von einem Fall des Fremdschämens, als Stoiber Anfang 2007 bei einer dreistündigen Rede unbemerkt den Versprecher vom amerikanischen Präsidenten Breshnew produzierte. "Das ist gar nichts" lachte Kuzma. Er klopfte auf die Zigarettenschachtel, bis eine auf den Tisch fiel. Erwin reichte ihm die brennende Kerze vom Nachbartisch. Kuzma bedankte sich und nahm seinen Doppelten unter die Lupe. Er trank den Whisky schnell, es hätte auch Vodka sein können.

Ich machte es mir bequem, ließ den Whisky im Glas zirkulieren, roch an ihm und dachte, ich sei zu betrunken, um dieses Gefühl, das ich bei Stoibers Versprecher empfand, Kuzmas Erzählung folgend empfinden zu können. "Er hieß Sebastian. Er heißt immer noch Sebastian, tot ist er ja nicht. Er hasste seinen Namen, wie vermutlich jeder Stotterer seinen Namen hasst. Die Wahrscheinlichkeit lag bei 0,8 dass er sich mit Se-se-sebastian vorstellte. Etwas seltener sagte er S-s-s-sebastian zu sich, aber es kam auch vor, dass er, hochmütig lächelnd, die erste Silbe seines Namens ausgesprochen zu haben, dann mitten im Wort stotterte: Seba-ba-bastian". "S und A sind gemein, aber auch F", so ich. "K, B und D sind hart, aber nicht so listig. Bei denen weiß man ja, dass man sie nicht packt, und findet Synonyme, die mit anderen Buchstaben beginnen".

"Also kam der Sebastian zu diesem Klassentreffen, setzte sich still in die Ecke, knabberte ein Bisschen, trank ein Bisschen, wollte sich schon verabschieden, da kam dieses Mädchen. Sie hieß wie die Kidman, Michelle". "Nicole", so Erwin. "Und sie guckte so, wie eine arrogant-verführerisch guckende Michelle Kidman". "Nicole". "Ach ja, Nicole". Kuzma rief den Kellner, ließ sich noch einen Doppelten bringen. "Er war schon sehr lange in sie verknallt. Natürlich hatte er sie niemals angesprochen. Als er gehen wollte und in der Tür stand, da packte sie ihn am Arm und stellte ihm eine Small-Talk-Frage. Aufgefordert zu reden, sprach er fließend. Übermut überkam Sebastian. Er begab sich auf ein Eis, so dünn, wie die Figur von Michelle. Er übernahm die Initiative, gab ihr einen Drink aus und fragte sie, ob er sie nach Hause begleiten dürfe. Sie war überrascht, denn Sebastian war schüchtern, aber sie war einverstanden. Sie gingen nach Draußen. Sebastian zitterte, wollte sich aber nichts anmerken lassen, und zitterte umso mehr. Er versuchte, sein Sprechen zu kontrollieren, aber das Stottern kam in jedem Satz mehr und mehr in den Wortfluss. Die Minute, die ihm vergönnt war, bei sich zu Hause sein Fahrrad abzustellen - er hatte sein Fahrrad dabei, und somit etwas zum Festhalten -,  die nutzte er, um durchzuatmen und etwas Kleines in die Hosentasche zu stecken."

Erwin hustete. Kuzma zündete eine Zigarette an und fuhr fort: "Nun, ohne Fahrrad, war er noch nervöser, konnte seine Sätze nicht mehr beenden. Als er eine Frage mit Ja beantworten wollte, stotterte er beim Ja und sprach nach dem halben J nicht weiter. Michelle lud ihn ein, bei ihr zu Hause etwas zu trinken, und nebenbei die Hausaufgaben in Mathematik und Chemie für sie zu machen. Da war Sebastian wieder souverän und erledigte alles routiniert in zehn Minuten. Michelle ging in die Küche. Sie kam ins Wohnzimmer zurück, und da kniete Sebastian mitten in ihrem Wohnzimmer und hielt etwas Kleines in der ausgestreckten Hand. Er begann: Ih-i-i-i-i... Michelle sah den Ring, tat so, als sähe sie ihn nicht. Sie setzte sich an den Tisch und wartete. Er, rot wie eine Erdbeere, versuchte es diesmal mit Mh-m-m-m-mi-mi... und kroch auf Knien auf sie zu, er wollte den Ring ja nicht der Luft überreichen. Sie versuchte ihn zu ignorieren, und er sah nur kurz in ihre Augen, wonach er aufsprang, sich auf das Sofa warf, die Augen schloss, fünf Sekunden bewegungslos verharrte, wieder aufsprang und murmelte, er sei eingeschlafen und wo sie so lange war. Sie sagte nichts. Er äußerte die Absicht, nach Hause zu gehen, sie begleitete ihn zur Tür. Als sie seine Hand an der Türklinke berührte, nahm er all seine Verzweiflung zusammen, schraubte den Kopf durch die Luft zu ihr, machte den Kussmund. Sie erschrak und driftete von ihm weg, fuchtelte mit den Händen in der Luft, sich schützend, und er fuchtelte auch mit seinen Händen, wobei er wirres Zeug murmelte und wie ein Irrer in schnellen Zuckungen mit dem Kopf schüttelte".

Erwin nahm die Kerze vom Nachbartisch und zündete Kuzma die nächste Zigarette an. Alle schauten auf Kuzma, aber der betrunkene Germanistikstudent war fertig mit seiner Rede. "Was ich als Chemiker nicht verstehe" , fing Erwin an und beendete den Satz mit wirrem Unfug. Das Fremdschämen hatte vollends Besitz von ihm genommen, und ich unterbrach ihn, weil er mit den Blicken darum bat. "Woher weißt du denn, dass es sich genauso zugetragen hat?" fragte ich. "Sein Nebenfach ist Germanistik. Er sitzt oft neben mir. Verarbeitet, was er erlebt, in Kurzgeschichten, und gibt sie mir zum Korrekturlesen". "Ist er Legastheniker?" "Er tut manchmal so, - das ist sein Vorwand, um mir seine Geschichten zum Lesen zu geben. Er kann es niemandem erzählen, aber ist furchtbar einsam. Und ich tu so, als wären sie fiktiv, korrigiere sie, gebe sie ihm, und er bedankt sich für die Korrektur, wobei ich weiß, wofür er in Wahrheit dankbar ist. Dafür, dass jemand ihn wahrnimmt".


Ich trank meinen Whisky und wir gingen nach Draußen. Kuzma griff nach der Schachtel - keine Zigaretten mehr drin. Wir gingen an einem Kiosk vorbei, dort arbeitete Michelle. "Ein G-g-gruss von Se-se-sebastian", scherzte Erwin. Michelle wurde rot wie eine Erdbeere und schlug das Fensterchen zu.



2



Kuzma schlich an Erwin heran und erschreckte ihn. Ich schmunzelte. Als Kind hatte ich eine Verschwörungstheorie, welche besagte, dass ich zu stottern begann, nachdem ein Mädchen mir laut ins Ohr geschrieen hatte. Erwin schlug vor, in ein Lokal zu gehen, in dem man sich zum Flirten traf. Da die anderen Bars alle zu waren, kam ich mit. Ich setzte mich in die Ecke, schimpfte über das Nichtvorhandensein schottischer Whiskys und bestellte mir ein dunkles Weizenbier. Es herrschte Rauchverbot, aber das betrübte weder Erwin noch Kuzma, da der Kauf einer weiteren Zigarettenschachtel vor einer halben Stunde von mäßigem Erfolg gekrönt wurde.


Zwei junge Frauen setzten sich zu uns in die gemütliche Ecke. Erwin mimte Sebastian, daraufhin wandten sie sich vom gutaussehenden Erwin ab und Kuzma und mir zu. Kuzma sagte höflich, wir würden auf unsere Freundinnen warten, nur Erwin wäre Single. Sie gingen. Erwin lachte zuerst. Sie unterhielten sich mit einer anderen Gruppe, lachten, zeigten auf unsere Ecke, kamen aber wieder, als sie merkten, dass Erwin sich einen Scherz erlaubt hatte.

"Ich war also mit Ron und zwei anderen werdenden Lehrern, deren Namen ich nich mehr weiß, auf dieser Geburtstagsparty" erzählte Kuzma, "Alle Damen waren sofort um Ron versammelt, er war witzig, geistreich, charmant, malte Bilder, schrieb Theaterstücke - eins davon führten wir gestern wieder auf, schade, dass ihr nicht da wart - , aber die Damen interessierte erwas Anderes. Das sei alles doch nicht die Wahrheit, meinten sie. Wie ist Ron denn in Wahrheit so? Das erfuhren sie, als er seinen epileptischen Anfall hatte. Das befriedigte sie zutiefst, und die Herren noch tiefer, denen sich die Damen wieder zuwandten". "Was ist mit dir?" fragte eine der jungen Frauen Kuzma. "Du bist doch normal, oder?" Kuzma lachte, sagte aber nichts. Ich erzählte eine alte Geschichte, vielleicht aus dem Jahr 1989: "Es war Kasachischunterricht und ein Junge musste nach Vorn gehen und die Vokabeln aufsagen. Er sah nervös aus, riss sich aber zusammen, stellte sich gerade, fand den Tunnelblick und begann die Vokabeln aufzusagen: Nan - Chleb". "Chleb heißt auf Russisch Brot", bemerkte Kuzma. "Da stand er eine weitere Sekunde, zwei, drei, wiederholte: Nan - Chleb, und es verging wieder eine Sekunde, und noch eine, und er war rot wie eine sowjetische Fahne, hielt die Spannung nicht aus und begann von Vorn: Nan - Chleb. Und wieder: Nan - Chleb, bis die Kasachischlehrerin ihn erlöste. Er durfte sich setzen". "Eine Zwei?" fragte Kuzma. "Nein, keine Zwei. Die Lehrerin meinte, es hätte an seiner Nervosität gelegen".

Aus dem Lokal, in die frische Winterluft. "Die Beiden waren doch nett?" fragte Kuzma. "Ich fand sie nicht nett" so Edwin, "ich hätte auch Sebastian sein können". "Ein Wenig bewundere ich Sebastian. Ich hätte mich nicht getraut, in diesen Schaumbad der Scham zu steigen" begann ich zu meinen, aber Kuzma sagte mir die Wahrheit: "Du hast zu früh begriffen, dass es keinen Sinn hat, krampfhaft zu versuchen, normal zu sein". Ich schwieg. Hätte ich dieses Mädchen damals a-a-angesprochen, wäre ich wenigstens wahrgenommen worden. So aber weiß sie nicht einmal, dass es mich gibt, was für uns Beide letzlich auch besser ist.



3


"Es war Biologiestunde, die Lehrerin stellte eine Frage, ich meldete mich, stand auf und blieb mit offenem Mund stehen. Eine halbe Minute, vielleicht länger. Ich versuchte zu sprechen, aber es kam nichts. Die Lehrerin ignorierte mich daraufhin und fragte einen anderen Schüler". "Ich hätte das gern erlebt. Ich meine, am eigenen Leib" so Erwin. "Wieso?" fragte Kuzma. "Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist, und auch nicht, wie es ist, manisch-depressiv oder schizophren zu sein. Vor zwei Jahren tippte ich kurz vor der Pfüfung eine SMS, verschickte sie, ging zur Prüfung. Nach fünf Minuten überkam mich das Gefühl, dass etwas schwer nicht in Ordnung war. Ich wurde nervös, aber nicht wegen der Prüfung. Ich schwitzte. Ich nahm die Professoren kaum noch wahr, als sie mir meine 1,7 gaben. Ich rannte aus der Uni, schaltete mein Handy wieder ein - das war eine sehr persönliche SMS. Und ich habe sie ausversehen jemandem geschickt, der... Ich meine, ausgerechnet ihr habe ich sie geschickt! Ich sah den Boden an, bat ihn, mich zu verschlucken". "Wir sind wieder beim Kiosk" erinnerte ich Kuzma. "Geh du kaufen. Dein Gesicht hat sie nicht gesehen". 


Ich und Michelle, da war ich gespannt. Ich sagte höflich wenn nicht sogar zärtlich, ich wollte eine Packung Marlboro. Sie sah mich an und fragte: "Stotterst du?" Aus dem Aussprechen meines Satzes kam das keineswegs hervor, also fragte ich nach. Michelle meinte, mein Satz sei so glattpoliert, und die Augen verrieten es, auch wenn das Mundwerk wie eine Schweizer Uhr funktionierte. "Nicht mehr so wie früher" sagte ich. "Ich war früher schön" sagte sie. Sie sah immer noch gut aus, aber ich verstand, was sie sagen wollte: früher sah sie nicht gut aus, sondern war schön.

Michelle ging mit uns zum zugefrorenen Fluss, flirtete mit Erwin, und er mit ihr. Sie bestand darauf, uns in Sachen Trunkenheit einholen zu wollen, wir gewährleisteten dies. Auf dem Eis sitzend, erzählte sie von der peinlichen Szene mit Sebastian, merkte aber, dass diese uns allen bekannt war. "Das war gar nichts" sagte Michelle. "Dennis, mein erster Freund, wollte, dass ich für ihn strippte. Was ich nicht wusste war, dass überall hinter Sofas und Schränken seine mit Gucklöchern bewaffneten Freunde warteten. Ich tat mein Bestes, strippte, stöhnte, und auf einmal kamen alle aus ihren Verstecken und applaudierten". "Peinlich", bemerkte Kuzma trocken. Erwin hustete. Wir erinnerten uns, dass er kürzlich eine Lungenentzündung hatte. Kuzma rief ein Taxi und fuhr Erwin heim; ich begleitete Michelle nach Hause.

Ich wurde nervöser, als wir gingen, denn ich wurde nüchterner. Ein Fahrrad hatte ich nicht dabei, nur meine Hausschlüssel, die ich auf dem Weg hochwarf und fing. Michelle lud mich zu einem Kaffee ein, ich nahm die Einladung an. Als sie in der Küche verschwand, kniete ich im Wohnzimmer und streckte die Hand, in der ich etwas Kleines hielt, nach Vorn aus. Michelle tat so, als sähe sie mich nicht, stellte den Kaffee auf den Tisch, ging dann aber rückwärts auf mich zu. Ich überreichte ihr den USB-Stick mit Sebastians Texten. Diese Aktion wurde vor knapp einer Stunde mittels kuzmasebastianischen Telefongesprächs autorisiert; Kuzma gab mir den Stick, als er mit Edwin in ein Taxi stieg. Wir tranken Kaffee, unterhielten uns, ich sah ihre Fixervenen. Ich sah Michelle nicht wieder, aber Kuzma erzählte mir am nächsten Freitag, dass sie und Sebastian nun zusammen seien; er dachte über eine Therapie in einem logopädischen Zentrum nach und sie habe sich in einer Entzugsklinik angemeldet.



2010

Samstag, 11. Mai 2013

Julius und Erich




1. Julius (28)

Es war Klassenfahrt, und am Lagerfeuer saßen sie alle, und da kam das schönste Mädchen vorbei. Das reiche Söhnchen prahlte mit teurem Spielzeug, der Leichtathlet mit dem Oberkörper, der Dealer mit Lockerheit und etwas Gras. Julius guckte nach Unten und war sehr nervös. Das schönste Mädchen konnte sich aussuchen, also dachte es: wer ist denn hier der Schüchternste, Sensibelste und so weiter, und setzte sich zu Julius und sie wurden ein Paar. Nein, natürlich nicht. Sie hat das reiche Söhnchen mit dem genetischen Defekt geheiratet, hat nun zwei Bälger: eins mit Mukoviszidose und eins ohne Großhirn geboren. Was kann Julius dafür?


2. Weiße Maus

Schon in der Grundschule wollten die Mädchen neben Julius sitzen, denn sie dachten sich: wer ist denn der Schönste hier - und das war natürlich Julius. Julius benahm sich ja wie ein gut erzogenes Mädchen - hatte Angst, ekelte sich, passte gut auf sein Körperchen auf, ebenso auf sein Seelchen. Er wollte des schönen Mädchens würdig sein, das ihm irgendwann über den Weg laufen sollte und wie die anderen Mädchen dachte: welcher Junge ist denn der Romantischste, Zärtlichste und Geistreichste, ach, natürlich Julius, und schon damals wurde der Kleine schnell rot und lief weg. Keins der Mädchen hatte von ihren Jungs nur 5% von dem rausgeholt, was die eigene Schönheit wert war, sprich, keine war die ihr geschenkte Schönheit wert.


3. Schabenfutter

Kein Kind will, dass die Tante es küsst, auch der Onkel nicht. Der Opa ist lieb, aber seine Haut... warum wird das Kind nicht stattdessen von dieser jungen frischen älteren Cousine am Arm und an der Wang berührt? Die Oma ist nett aber so fett... Die Türklinken fasste Julius nie mit der Hand an, er wollte schließlich mit einem Mädchen händchenhalten, wobei er nur Pfötchen sah und nie Händchen. Das neue langhaarige feingliedrige Mädchen mit schimmernd weißer Haut kam in den Klassenraum und dachte natürlich: so, welcher von den Jungs fühlt sich am Angenehmsten an, wenn er mich fängt und kitzelt? Dachte Julius. Das Mädchen ließ sich vom Dicken dort begrabschen, der sich nach dem Pausenbrot nie die Hände wusch. Das Mädchen ist Hure geworden, steht jeden Abend am Hackeschen Markt, und der Dicke - hat abgenommen - ist Bankkaufmann und ihr Stammkunde.


4. Julius und Innere Werte

Du fragst, warum sich Julius immer in die schönsten Mädchen verknallte? Moment, war Schönheit bei dir nicht relativ, war sie nicht Geschmackssache, lag sie nicht im Auge des Betrachters? Wenn es so ist - welchen Sinn hat also deine Frage? Julius verknallte sich in die Mädchen, in die er sich eben verknallte. Seltsamerweise verknallten sich alle Jungs in dieselben Mädchen, in die sich Julius verknallte. Und diese Mädchen dachten immer: so, wer von den Jungs hat die geilsten inneren Werte? Wenn es so war, dann hängt der Wert der inneren Werte davon ab, wessen Sohn man ist. Nicht wie versaut oder wie blöd oder gewaltbereit, denn Julius ging ja aufs Gymnasium, wo die guten Mädchen waren. Sagte ich Waren? Nein, waren sagte ich.


5. Grausamkeitskitzeln

In der Grundschule da war ein Mädchen verrückt nach der jungen hübschen Lehrerin, welche eines Tages einen rohen garstigen Mann verführte. Das Mädchen bekam es mit und weinte selbstverständlich und sprach was hast du getan und ging nie wieder zu der Lehrerin nach Hause zum Spielen wie früher. Wirklich? Nein, das Mädchen hatte nur ein komisches Kitzeln im Bauch und spielte weiter mit der Lehrerin. Julius ging zum Schuldirektor und erzählte ihm, dass die junge Lehrerin kleine Mädchen verführte, und die Lehrerin flog von der Schule. Dieses sonderbare Gefühl, das du hattest, was war das, fragte Julius das Mädchen zehn Jahre später. Es kam davon, dass ich wusste, dass du mich magst, und leiden würdest, wenn ich weiter mit ihr spiele, sagte das Mädchen.


6. Selbstmordvermeidungsherzkühlung

Julius war in der zehnten Klasse, als eine große Party war, und er wieder mal in der Ecke stand. Da kam ein Mädchen herein, so niedlich und süß wie zehn Kätzchen, und fragte sich: so, welcher von den Jungs ist noch Jungfrau und hat den größten Respekt und die tiefste Ehrfurcht vor einem Mädchen? Nein, das konnte es nicht sein, denn um danach zu urteilen, welchen Jungen das Mädchen auswählte, konnte es nur gedacht haben: so, wer ist hier der frauenverachtendste respektloseste und widerlichste Eber, dem muss ich unbedingt einen blasen! Julius wurde später oft Kaltherzigkeit vorgeworfen, worauf er erwiderte: hätte ich mein Herz nur ein wenig wärmer gehalten, wäre ich längst von einer Brücke gesprungen.


7. Das egoistische Gähnen

Die Evolution meinte es eigentlich gut mit Julius, und so malte er die schönen Mädchen im Kopf noch schöner und beachtete die anderen nicht. Diese aber dachten: so, welcher von den Jungs ist denn an inneren Werten interessiert... Tatsächlich? Immer, wenn es einem nicht so schönen Mädchen gelang, so ein richtiges Arschloch noch mit Scheißklümpchen auf den Arschhaaren ans Land zu ziehen, kündigte es die Beziehung zu seinem Frauenversteherchen (per SMS oder ähnlich) und freute sich die Titten aus der Brust. Nächstes Versuch. Die nicht so schönen Mädchen dachten: wer ist denn den inneren Werten nach der Allerbestensbesteste Junge, am Wenigsten an Äußerlichkeiten interessiert? Und sie dachten sich ein Loch - nein nicht in Julius - in den leeren Stuhl, auf dem dieser Niemand saß, der überhaupt nicht an Äußerlichkeiten interessiert war.


8. Erich (30)

Erich liegt auf dem Sofa und träumt vor sich her, während die Sonne zu einem für andere romantischen Sonnenuntergang langsam dahinsinkt. Seine Gedanken sind schwer: nie, nicht nur ein einziges Mal. Dann springt er auf: aber Erich, wie viele Männer, ja wie viele Menschen denn überhaupt waren in ihrem ganzen Leben mal mit einer schönen Frau zusammen? Für die Frauen ist es sicherlich leichter: die Mädchen halten miteinander in der Schule Händchen, ohne sich für die Jungs damit unattraktiv zu machen (umgekehrt scheint es verdammt unattraktiv zu sein, dem Erich übrigens genauso wie den Mädchen), - und nach der Schule wer weiß? Aber komm schon, Erich, wie viele Männer? 3%? Zu hoch geschätzt? Aber nur ein einziger Kuss! Hm, dann wohl noch weniger. Es gibt mehr Ungeküsste als Ungeleckte. Fürs Lecken kann man eine bezahlen, aber wo kann man Küsse kaufen? Bei denen, die Sex verkaufen, will man ja nicht: die halten einen solchen Wunsch - einfach schön zärtlich küssen, alles bleibt an - für genauso pervers wie Anpissen oder was weiß Erich. Er zieht sich eine warme Jacke an und geht hinaus. Bald 30, denkt Erich leise vor sich hin. Bald 30, und immer noch nichts, kein einziges Mal.


9.  Gute Idee

Erich steht ja auf schöne Frauen. Sei doch nicht so engstirnig, sagt Jürgen. Erich lässt sich überreden, geht mal wieder aus. Guck doch, sagt Jürgen. Warum lächelt er, denkt Erich, und wo soll ich hingucken? Erich langweilt sich. Willst du wieder gehen, fragt Jürgen, und fügt vorwurfsvoll hinzu: du machst dir alles selbst kaputt! Erich geht ein Licht auf: du hast Recht, Jürgen. Jürgen lächelt und guckt zu den mäßigen Damen hinüber. Erich folgt aber überhaupt nicht seinem Blick, weshalb Jürgen ihn irritiert anstarrt. Es muss doch nicht gleich Sex sein, feiert Erich seine Horizonterweiterung, und es muss auch nicht Liebe sein, - es wäre zum Beispiel schön, mit einer schönen Frau befreundet zu sein, am Besten mit einer Lesbe, da muss man sich den Brechreiz nicht verkneifen, wenn man ihr auf die Lippen guckt. Jürgen schüttelt mit dem Kopf: Erich, ist es denn dein Ernst? Erich weiß, wie Jürgen es meinte, schweigt ein Bisschen, guckt dann zu den Damen rüber, seufzt und sagt: gut, vielleicht nicht befreundet sein, aber eine zu kennen, so als lockere Bekanntschaft, das wäre auch schön.


10. Erich muss etwas beichten

Jürgen erzählt von einem knackigen Po. Ärsche, das mag Jürgen. Und Bernd, der mag Brüste. Je voller umso besser. Genüßlich erzählt er von den Brüsten seiner Neuen. Erich will auch etwas sagen, weiß aber nicht, wie er anfangen soll. Vielleicht: Ein Freund von mir... Aber wer? Wen soll ich auf Nachfrage nennen? Vielleicht: Ich kenne jemanden... Ja, und? Warum muss ich ausgerechnet von ihm erzählen? Oder: Neulich war ich amüsiert, als ich gelesen habe, dass es einen sehr interessanten Fetisch gibt... Hört sich komisch an. Warum nicht: Im Bus hörte ich gestern Abend, wie jemand sagte, er sei ganz verrückt nach... Warum bist du so rot geworden, fragt Jürgen. Stimmt etwas nicht, fragt Bernd. Es gibt Fetische, die sind so richtig durchgeknallt, aber komischerweise nicht peinlich. Erich hat es andersrum erwischt. Alles muss stimmen, sagt Erich, alles bis ins kleinste aber auch klitzekleinste Detail.


11. XS

Erich mag kleine, zierliche Frauen. So dünn wie möglich, aber nicht magersüchtig. Keira Knightley findet er hässlich - sie hat, sagt er, zu breite Knochen. Erich, sagt Bernd immer, so eine kannst du doch gar nicht... Ich will sie auch gar nicht ..., sagt Erich immer, ich will sie verwöhnen, auf Händen tragen, auch wörtlich. Ich kann mit keiner Frau was anfangen, die nicht kochen und putzen kann, lacht Bernd. Erich findet sowas frauenfeindlich. Letzte Nacht hatte Erich einen Traum: er sah im Vorhof zu seiner Studierhölle eine zierliche süße Frau, sprach sie an, nahm sie mit nach Hause. Dann wusste er aber nicht mehr, was er tun oder sagen sollte, bedrohte sie subtil, ja fast schon zärtlich, fesselte ihre Hände und Füße, trug sie auf sein großes weiches Bett. Er setzte sein diabolisches Grinsen auf, machte Andeutungen, dass er sie gleich küssen würde, dann ihren BH ausziehen und ihre hübschen kleinen Brüste berühren, hatte für alle Fälle noch ein S/M-Peitschchen dabei. Zärtlich, fast schon liebend, flüsterte er ihr zu, er könnte ihr vielleicht weh tun, aber sie guckte ihn nur an wie eine Kuh auf der Wiese und donnerte ihm schließlich ins Gesicht: "Fick mich endlich und lass mich gehen, ich muss heute Abend noch die Küche sauber machen!" Da wachte er auf und hatte so ein Gefühl, das er immer hatte, wenn ihn im Traum diese schrecklichen großen haarigen (oder auch nackten schwarz glänzenden) Monster verfolgten. 


12. Deckel drauf

Der Spruch, dass jeder Topf seinen Deckel finde, passt rein physiologisch eher zu Frauen, meint Jürgen. Es ist Hohn, weiß Erich. So ist es, Leute, kommt Bernd mit dem Bier an den Tisch, wer in der Schule keine gekriegt hat, bekommt nie wieder eine Chance. So schlimm ist es doch nicht, wiegelt Jürgen ab. Erich nickt und schüttelt mit dem Kopf. Wen kennst du denn, der in der Schule keine hatte und später eine gekriegt hat? Jürgen denkt nach, er hat viele Freunde: der hat eine Flüchtlingsbraut gekauft, der da geht regelmäßig ins Bordell, der bekommt reihenweise Körbe in der Disco, dieser hat es mit alleinerziehenden Müttern versucht, was immer am Ex gescheitert ist. Siehst du, freut sich Bernd. Was soll ich jetzt machen, verzweifelt Erich nach dem vierten Weizen. Trink ein fünftes und bagger die da an, lacht Bernd. Erich zieht die Augenbrauen hoch, behält sie drei Sekunden in der Luft und sagt dann nichts. Warum kann ich mir die Frauen nicht schöntrinken, denkt Erich und bestellt sich das fünfte Weizen.


13. Jürgen auf der Couch

Sex, sagt Erich, beziehe seinen eigentlichen Reiz aus der Entjungferung. Quatsch, lacht Jürgen. Du guckst doch Pornos, so Erich. Ja, ich bin doch nicht krank, so Jürgen. Dann sag mir, warum die Typen am Ende den Frauen ins Gesicht spritzen. Jürgen weiß keine Antwort. Erich weiß: bei diesen Stuten setzt keiner mehr voraus, dass sie jungfräulich sind. Logisch, meint Jürgen, wenn sie in einem Porno mitspielen. Aber ihr Gesicht, meint Erich, dieses geschminkte geputzte Gesicht vermittelt immer eine Illusion der Unschuld, - und du, mit dem Willi in der einen und mit dem Taschentuch in der anderen Hand, identifizierst dich mit dem Typen. Ja, sicher, sonst würde ich nicht gucken, versichert Jürgen. Und als er ihn am Ende rauszieht und ihr ins Gesicht spritzt, rufst du da nicht innerlich: Erster! Jürgen findet es erstmal plausibel, sagt aber: am Anfang kommt immer der BJ - nix Gesicht. Gut, sagt Erich, was denkst du dir denn am Schluss? Na ja, gut, also, - gibt Jürgen zu - ich denke da immer, dass die andere, größere Frau ihr die Augen aufhält und lüstern flüstert: ja, komm, spritz in ihre süßen lieblichen Augen! Auch wenn keine zweite Frau im Film dabei ist, fragt Erich nach. Dann denke ich mir eine dazu, sagt Jürgen.


14. Orgien statt Sorgen

Mit nicht so schönen Frauen hat Erich nie Probleme gehabt, wenn es darum ging, sie anzusprechen, oder sich mit ihnen ganz normal über etwas Bestimmtes zu unterhalten. Smalltalk kann Erich recht gut, besonders nach zwei Bier (der mit dem Asperger-Syndrom, das war der elitär-arrogante Julius; Erich ist bloß ein Wenig schüchtern). Nun spricht er mit einer Studierkollegin (er kann, wie der Autor, das schwül-inzestuöse Wort Kommilitone nicht ausstehen) in der S-Bahn auf dem Weg zur Uni: ich schaffe es einfach nicht, sie anzusprechen, denke immer zu viel darüber nach, trau mich am Ende nicht, und wenn doch, kommt kein Wort aus mir raus. Deine Sorgen möcht ich haben, erwidert sie höhnisch. Sie lebt mit einem Doktoranden zusammen, hat einen zweijährigen Sohn. Das war ironisch gemeint, sagt Erich. Klar, sagt sie, oder bist du doof? Und wenn ich dir sage, dass ich deine Sorgen haben möchte, dann meine ich es nicht ironisch - verstehst du jetzt? Sie schweigt, dann sagt sie: naja, so ironisch wie es in deinen Ohren klingt, meinte ich es auch nicht: du kommst um vier Uhr morgens nach Hause, musst keine Windeln wechseln, dich um das Chaos nicht kümmern, nicht an die Einkäufe denken, die Krippe, der Kinderarzt, meine Eltern, seine Eltern, die Geburtstage nicht vergessen, sonst weiß du nicht wohin mit dem Balg falls du zwei Tage für dich allein sein willst, - Single sein ist doch schön; man lernt es erst zu schätzen, wenn man keiner mehr ist. Erich freut sich den Arsch ab, den ganzen Tag lang: Single sein ist also doch besser - und das hat nicht ein Mann wie er gesagt, der sich etwas schönreden wollte, das er nicht ändern konnte, nein, eine Frau hat das zu ihm gesagt. Geil, denkt Erich, und weiter: welche Verpflichtungen habe ich heute eigentlich? Oops, gar keine. Schön, ich fahr mal ans Meer, will zwei Tage für mich allein sein.


15. Wegen dem Neger

Voll in der Kneipe, aber Bernd hat vor Stunden das alte niedrige Sofa in der hellgrünen Ecke reserviert. Jürgen freut sich und sagt: Erich, komm schon, freu dich, wir haben einen saugeilen Platz erwischt! Als sie sich setzen und drei Jim Beam mit Cola bestellen, setzt sich ein langhaariger zotteliger Typ im selbstgestrickten grünen Pulli dazu: Oh, ist das die grüne Ecke? Habt ihr gelesen, 28%! Jim Beam mit Cola ist was für Schwuchtel, lacht der Kellner, ein Türke. Wer eine Schwuchtel bedient, fängt Bernd an, aber der ungebetene grüne Gast unterbricht ihn und bestellt eine Bionade.

Als Nächstes bestellen die Drei Jim Beam ohne Cola - da weiß der Kellner, was die erste Bestellung sollte: eine Limo, ein Durstlöscher. Guck, der Neger da trinkt diesen französischen Apfelwein, wie heißt er... Cidre, sagt der Kellner, wollt ihr auch? Der ungebetene grüne Gast  unterbricht ihn: was fällt euch frauenfeindlichen Rassisten ein? Geht sofort zu ihm und entschudigt euch! Der Türke darauf in Türkdeutsch: Hast du ein Problem, du Schwuchtel? Der eben noch Empörte entschuldigt sich höflich, - er hält den Türken offenbar für einen Japaner, macht diese alberne Verneigung.

Guck, sagt Jürgen, der Neger bestellt sich jetzt einen Negerkuss - den kann er doch auch zu Hause haben. Es ist ein Eis, weiß Erich. Der grüne Freund, verzweifelt (und nun auch jimstens gebeamt): Was seid ihr für Menschen? Eine Dicke kommt vorbei, gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Deine Frau, fragt Bernd. Er nickt, Bernd lacht, steckt auch Jürgen an. Erich - noch nicht betrunken genug - ist geistig abwesend. Ihr sitzt jeden Abend irgendwo rum, ihr Säufer, fängt der Beleidigte an. Hast du ein Problem mit den Jungs, kommt der Kellner zurück und bringt nun vier Weizen. Ich betreue ehrenamtlich Flüchtlinge, gehe jeden Sonntag gegen Atomkraft demonstrieren, setze mich für den Bau einer Moschee ein, engagiere mich für eine Quote von horinzontal gechallengten Frauen in Film und Werbung, - und ihr!? Und wir sitzen hier und saufen, sagt Bernd, absichtlich mit türkischer Aussprache - schallendes Gelächter.

Als der grüne Freund fast schon heult, fragt ihn Jürgen: man gönnt sich ja sonst nichts, was gönnst du dir denn, wenn du dir mal was gönnst? Völlig betrunken erzählt der ungebetene grüne Gast, wie er vor drei Monaten nach Bangkok reiste und für EUR 23000 ein vierzehnjähriges Mädchen zu Tode folterte: kennt ihr diesen Film, Hotel oder so, und diese Thai-Mädchen sehen ja viel jünger aus als sie sind, - ich hab mir so vorgestellt, es wäre die Leonie aus der 4. Klasse, die mich damals hänselte... hey, wo geht ihr denn alle hin, bleibt hier, hey...!


16. Die Begegnung

Erich schlich oft durch Passagen, Arkaden, stellte sich in die offenen Zeitschriftenläden gleich neben den Kosmetikstudios, um Blicke auf weiß nur Erich was zu erhaschen. Er wurde schnell rot dabei, weshalb er immer Pausen einlegte, in denen er sich den Zeitschriften widmete. Nun aber sah er einen Mann in seinem Alter in eine schicke Boutique hineingehen, ein kleiner Schlanker mit vollem schwarzen Haar, der sich von einer hübschen Frau über ein Kosmetikprodukt ausführlich beraten ließ. Schamrot schlich Erich hinzu - da war dieser Blick der Frau, als er wusste nur er wo hinguckte, und Erich wollte am Liebsten im Erdboden versinken, - der androgyne Teufel grinste breit und ließ sich das teuer Eingekaufte einpacken.

Komm, Sebastian, rief er Erich zu sich, wandte sich dann zu der Verkäuferin: diesen Kretins macht man einen großen Gefallen, wenn man sie abtreibt, aber seine arme Mutter hatte wohl zu viele Schnulzen geguckt. Komm, du Hund! Erich folgte Julius mit gesenktem Kopf in eine gehobene Bar. Auch dort behielt Julius seine eleganten schwarzen Handschuhe an, die wunderbar zu seinen Schuhen und zu seiner Haarfarbe passten. Was ist dein Problem, fragte er Erich, warum treibst du dich rundherum rum und gehst nicht rein? Draußen wunderten sich Bernd und Jürgen - was machte Erich in dieser Schickimickibar? Wer sind die Deppen, fragte Julius.

Erich hat nun seine Nummer. Soll er ihn anrufen, diesen Zwangsneurotiker, der sich offenbar vor Türklinken ekelt? Erich fühlt sich von Julius ertappt, vielleicht hat er denselben Fetisch. Er greift zum Hörer und seine Hände zittern, so als ob er eine hübsche Frau anrufen würde. Macht er´s? Macht er´s nicht? Bernd schmeißt heute Nacht eine Party - soll Erich hingehen? Warum, denkt er, gebe ich mich seit Jahren mit Leuten ab, die so viel dümmer und plumper sind als ich? Dieser schwarze Schwan ist verlockend. Durch das Androgyne wirkt dieser Bastard nur noch düsterer, gefährlicher, - es ist eine elegante Männlichkeit, die Erich als Kind gern zum Vorbild gehabt hätte. Leider wuchs er unter Leuten wie Bernd und Jürgen auf, - wird der Sog der Gosse obsiegen?



2011

Montag, 15. April 2013

Sieger




Victor hatte in jedem Fach eine Eins, außer in Musik, da hatte er eine Eins Plus. Mit diesem Abitur konnte er sich an jeder Uni bewerben. Ein stiller Mittag, der letzte Schultag ging gerade zu Ende. Victor hatte bereits eine Zivildienststelle bei einem Naturschutzverein auf einer Insel gefunden, ein interessanter und durchaus romantischer Ort. Im Sommer aber wollte er endlich nach Australien fliegen, das wünschte er sich, seit er fünf war. Victor trank auf dem Heimweg noch einen Pfefferminztee in einer Imbissbude am Ende der Straße. Dann bog er ab, aber in die andere Richtung, anstatt nach Hause, wo seine Eltern bereits ein Festmahl vorbereitet hatten. Die ganze Verwandtschaft war eingeladen, und alle so stolz auf Victor.

Nach einer Viertelstunde war Victor am Fluss, er wollte ein Wenig allein sein, mit sich selbst und seinen Gedanken, vielleicht etwas hinauszögern, vielleicht nur selbst seinen Erfolg genießen, bevor er ihn mit so vielen Leuten teilen musste. Erster in der Schulmeisterschaft in Leichtathletik, großer Soloauftritt mit der Geige im Stadttheater zwei Wochen zuvor. Ja, Victor hatte in der Tat etwas zu feiern. Darüber hinaus war er seit einem Jahr Mitglied in einem Schützenverein, wo er im Frühling einen Wettbewerb gewann, und das Preisgeld der lokalen Krebshilfe spendete. Victor schaute sich lächelnd die Zeugnisse an, die Fotos vom Abschlussball, auf den er gestern mit dem schönsten Mädchen des Jahrgangs gegangen war. Victor seufzte und machte sich endlich auf den Weg.

Er fuhr langsam, doch nach einer halben Stunde war er da. Kurz vor dem Haus seiner Eltern beschleunigte er, warf nur die Schultasche in den Hof, und fuhr auf einen bewaldeten Hügel. Dort griff er in seine Hosentasche nach einer Kleinpistole, die mit nur einer Kugel geladen war. Er schaute die Wolkenfiguren am Himmel an, blickte auf seine Schulzeit zurück, lächelte, sagte ohne jeden sarkastischen Unterton: "Danke für alles!" und schoss sich in den Kopf.


2012

Dienstag, 9. April 2013

Michail Karmanov




Flüchtlingslager.



- Name?

- Michail.

- Nachname?

- Nach Name Sie schon gefragt.

- Michail und weiter...?

- Weiter? Kann ich weiter?

- Nein. Wie heißen Sie?

- Michail.

- Und wie heißen Sie weiter?

- Ah, Sie wollen meine Familie?

- Niemand will Ihre Familie, keine Sorge. Wo ist Ihre Familie?

- In Passport.

- Wo ist das? In Russland?

- Hier in Passport meine Familie, Sie lesen: Karmanov.

- Sie heißen also Michail Karmanov? Und was sind Sie von Beruf?

- A wie heißt das... Wor, wor, wor, wie ist wor auf Deutsch...

- Beschreiben Sie es.

- A wie kann man... Steht Gitler. Hat in Hand Mein Kampf. Ich komme, Mein Kampf weg.

- "Mein Kampf" ist in Deutschland verboten.

- Ah, Sie verstehen? Das ist verboten, was ich von Beruf bin.

- Nein, das Buch "Mein Kampf" ist verboten. Wenn Sie eins dabei haben, muss ich es Ihnen entziehen.

- Sie nicht müssen ziehen, ziehen ich mache, was verboten ist. Steht Gitler, hat Mein Kampf, ich ziehen aus Hand, wenn hat in Tasche, ich ziehen aus Tasche.

- Aus der Tasche ziehen... Sind sie ein Dieb?

- Dip, was ist Dip? Ich weiß nicht, ich kann aus Tasche ziehen, ich kann aus Tresor ziehen...

- Sie stehlen also? Dann sind Sie ein Dieb.

- Nicht ich stelle. Steht Gitler, stellt Mein Kampf auf Tisch. Ich komme, Mein Kampf weg.

- Ja, das ist Diebstahl, kommen Sie, Sie sind also ein Dieb?

- Ah, Dieb ist Wor! Ja, ich bin Dieb. Wohin komme ich? In Diebstall? Ich will nicht in Diebstall, darum ich hier.

- Sie wollen nicht mehr Dieb sein, und sind deshalb nach Deutschland gekommen?

- Nein, ich will nicht in Diebstall. Polizei kommt und bringt mich in Diebstall, aber ich nach Deutschland, Polizei findet nicht.

- Sie sind vor der Polizei geflohen? Dann sind Sie kein Flüchtling, sondern ein Krimineller.

- A warum gleich wie Gitler? Kriminäääler, Kriminäääler, das ist wie Änpädä: "Kriminelle Ausländer raus!" Sie Änpädä?

- Nein, ich bin nicht in der NPD.

- A dann wo Probläm? Ich komme, ich krimineller Ausländer. Sie müssen rein lassen.

- Nein, ich muss Sie nicht reinlassen!

- A dann Änpädä, Faschisten. Ich denken, Deutschland gut, mein Kusän mir schreiben, Gitler kaputt, Deutschland schön, alles bezahlt Sozial.

- Ihr Cousin lebt in Deutschland? Ist er auch ein Dieb?

- Naaaaain. Wozu Dieb? Alles bezahlt Sozial.

- Was? Denken Sie, dass alle in Deutschland von der Sozialhilfe leben? Und wo soll das Geld dann herkommen?

- Deutschland erste kultiviert, Deutschland zweite zvilisiert, Deutschland dritte reich.

- Hören Sie auf mit Ihrem Dritten Reich! Sie waren also Dieb, und kommen nach Deutschland, um von der Sozialhilfe zu leben? Ihnen hilft jetzt nur ein Wunder, wenn Sie rein wollen.

- Wunder? Bitte. So, kann ich Gamburg? Dort lebt Kusän.

- Nein, Sie dürfen nirgendwohin.

- Warum? Ich Wunder-Wort gesagt: Bitte.

- Das ist mir egal.

- Geht auch Mirigal, wenn ist in Deutschland. A weit von Gamburg Mirigal?

- Herr Karmanov, wir müssen Ihren Antrag auf Asyl leider ablehnen.

- A wollen Sie ich wieder Dieb? Das Anstiftung ist zu Verbrechen!

- Na gut. Fahren Sie nach Hamburg zu Ihrem Cousin.

- Danke. Weil Sie so nett, ich ehrlich zu Sie: ich 100 Mark aus Tasche ziehen.

- Was?? Sie haben mir 100 Mark aus der Tasche gezogen? Geben Sie sie sofort zurück!

- Warum? Ich doch ehrlich gesagt, dass ich ziehen... A das war Spaaaaß, hier 100 Mark. Alfiedersähn.

- Auf Wiedersehen.



2011

Sonntag, 31. März 2013

Evilius Bösmann




Evilius Bösmann hatte eine furchtbare Tat begangen, doch vor Gericht konnte er nur gewinnen: er wollte die Todesstrafe, um sich nicht selbst umbringen zu müssen. Evilius war seit er denken konnte depressiv und lebensmüde. Solange ihn seine Kinderängste am Freitod hinderten, musste er weiter leben, durfte nicht selbstbestimmt sterben. Am ersten Verhandlungstag war Evilius Bösmann froh gestimmt, er sang auf dem Weg zum Gericht, präsentierte sich stolz den Journalisten, beantwortete ihre Fragen geduldig und freundlich, auch die als Fragen getarnten Beschimpfungen und Beleidigungen.

Die Richterin ließ den Staatsanwalt Evilius Bösmann anklagen, und seine Anklage hörte nicht auf. Er warf dem Angeklagten zuerst dessen Tat vor, dann aber sämtliche Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. Evilius Bösmann durfte nicht antworten, und sein Verteidiger saß nur teilnahmslos da und spielte auf seinem Laptop rum. Dann ergriff die Richterin das Wort. Sie wurde laut und warf Evilius Bösmann hohle Phrasen an den Kopf, die stets Wörter wie "immer", "nie" und "jedesmal" enthielten. Die Richterin sprach bis tief in die Nacht, ihre Tirade war gänzlich ohne Struktur und ohne jeden Sinn, sie wiederholte ständig nur das bereits Gesagte in anders formulierten Sätzen. Als sie zu reden aufhörte, schickte sie alle Anwesenden zum Schlafen nach Hause. 

Am nächsten Tag war Evilius Bösmann nicht mehr gesprächsfreudig, und sagte den Journalisten nichts, - vielmehr ging er mit einem Tunnelblick ins Gerichtsgebäude, um seine in der schlaflosen Nacht vorbereitete Erwiderung endlich vorzutragen. Als die Richterin die Verhandlung eröffnete, sprach sie von ihrem Hund und vom Wetter. Evilius Bösmann kam nicht mehr zu Wort, aber es wurde auch mit keinem Wort an seine Tat und an die gestrige Gerichtsverhandlung erinnert. Der Staatsanwalt bemängelte die Verschleißerscheinungen an seinem Auto, und deutete in einer halbstündigen monotonen Rede an, dass er eigentlich einen neuen Wagen bräuchte. Es wurde im Gerichtssaal gegessen, dann gab es Kaffee und Kuchen. Am Abend durfte Evilius Bösmann, müde vom Sitzen, nach Hause gehen. Während er mit einem niederschmetternden Gefühl der Hilflosigkeit und Ungewissheit durch die Straße schlich, zeigten Zeugen der Verhandlung mit dem Finger auf ihn und kicherten.



2012

Sonntag, 24. März 2013

Cxiette




1. Icher als du

Der späte Sommerabend kühlte hormonell belastete Gemüter. Icher trank die Luft, sah zu den Sternen. Museum: Treppe und Vorbau. Da hat er sie sitzen sehen. Er ging zu ihr. Er konnte sie vom Weiten sehr schlecht erkennen, und es wurde nicht besser. Ihre Stimme aber beruhigte ihn. Er atmete erleichtert auf und setzte sich daneben. "Trügt die Stimme?" fragte er. Sie negierte. "Dann bist du ungefähr 15, durch und durch und durch und abermals durch schlank, hast wunderschönes langes Haar, nach dem jeder Wind verrückt ist, wegen dem allein er schon zu wehen bereit ist...". "Das ist wahr. Und ich bin bewaffnet". "Es war kein Kompliment, also musst du es nicht als Drohung empfinden. Ich wollte mich nur versichern, dass du kein Antidiskriminierungsfall bist", sagte Icher mit sanfter Stimme. "Wie heißt du?" fragte sie. "Ich heiße Icher", sagte Icher. "Und ich bin Cxiette". Icher dachte über ihren Namen nach. Noch nie so einen Namen gehört. "Und was bedeutet dein Name?" fragte sie. "Schwer zu erklären", murmelte Icher. "Mir leicht", lachte Cxiette. "Also gut. Als ich klein war, da guckte ich mir jeden Abend eine Fliege aus und dachte: Diese Fliege hält sich für ein Ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie etwas, das Ich zu sich sagt, tot sein kann. Jeden Abend tötete ich eine Fliege". "Ohne Erkenntnisgewinn", konstatierte Cxiette. "Genau. Dann begann ich damit, die Luft anzuhalten, um zu sterben. Und zurückzukommen". "Und warst bestenfalls ohnmächtig, aber nie tot". Eine nicht geringfügig menschenbestückte Gäng nahte. "Meine Waffe ist leider nicht mehr geladen", flüsterte Cxiette, "aber erzähl weiter". Die Gäng war laut, einige ihrer Glieder erreichten bereits die Treppe vor dem Museum. "Nutte, komm fickööhn!" schrieen die Gängglieder das Mädchen an. Icher nahm ein langes Messer und stach sie alle wie Schweine ab, und das Messer glitt wie Butter durch die gräßlichen Leiber. Cxiette setzte sich weiter oben hin, das Blut war eklig. "Dann sprang ich von einem Hochhaus", sagte Icher. "Polizei!" rief er und schnitt seinen Kopf auf. Cxiette machte einen Salto in der Luft, schrumpfte und sprang in sein Hirn. Icher schloss seinen Kopf wieder. "Haben Sie diese... 79, 80, diese 81 Menschen ermordet?" fragte der Kommissar. "Das trifft zu", postulierte Icher. "Da haben Sie meinen Ausweis. Und hier meine Todesurkunde". Der Kommissar leuchtete mit der Taschenlampe auf die Papiere und überzeugte sich telefonisch von deren Richtigkeit. "Alles klar, gehen wir!" rief er die Kollegen. "Gehen wir woanders hin, da kommen schon die Aasfresser", sagte Icher zu dem Mädchen in seinem Kopf und ging.


2. Am Ichsten

"Du, nicht du da, du dort, die du auch du bist, von mir aus gesehen!" "Ich heiße Mi". Am Ichsten kam näher. Das Mädchen war gerade 14, hellblond, auf natürliche Weise ultraschlank und sehr niedlich. "Bläst du?" fragte ein grober Kerl im Vorbeigehen. "Nur Kohlendioxid in die Luft", antwortete Mi. "Soll ich den Penner töten?" war Am Ichsten so freundlich. Mi bejahte dies. Am Ichsten tötete den Penner, was mit einer Schusswaffe geschah.
Mi und Am Ichsten fuhren mit der U-Bahn, beide autolos. Nicht der Armut zuschulde, wegen dem schlechten ökologischen Gewissen. Da kamen drei Werber für die Partei "Die Grünen" und gaben an: "Wir haben diesen Monat durchschnittlich 15% CO2 gespart, und ihr?" Am Ichsten sah sie nicht an, sondern wandte sich zuvorkommenderweise zu Mi: "Soll ich diese Sozialschmarotzer töten?" Mi nickte und sie waren tot, was durch gekonnt platzierte Kopftreffer geschah.
Am Ichsten lud Mi in ein schickes Eiscafé ein, Mi lehnte ab. Sie rechnete etwas im Kopf aus und stimmte dann wiederum zu. Im Café musste Am Ichsten pissen, er ging, poss kurz und konzentriert,  machte seinem Freund da unten Druck, wollte das zierliche Mädchen nicht länger als eine Minute allein lassen, denn da waren überall Leute. Als er zurückkam, fand er eine Vierjährige, wo Mi gesessen hatte. "Hast du das Mädchen gesehen, das eben hier war?" fragte er das Kleinkind. Im Hirn eines vierzigjährigen Politiklehrers am Gymnasium klingelte Folgendes: "Den Mann beschuldigen, das Kind belästigt zu haben, dann gibt es unter dem Schutzmantel des Schutzes bis zu drei Quadratmetersekunden Hautkontakt mit diesem bildschönen Kind, bis es in symbolische Sicherheit gebracht ist". Er schaltete schnell, tat, was er dachte, bevor andere Hautkontaktgierige dachten, dasselbe zu tun. Das kleine Mädchen schaute Am Ichsten mit großen Augen an und wunderte sich: "Warum fragst du mich nicht?" Am Ichsten fragte, sie bejahte. Er tötete den Gymnasiallehrer, was durch eine schnell wirkende Giftinjektion geschah. "Ich habe mir schon gedacht, dass du deine Altersphasen wechselst", kommentierte Am Ichsten die Beinaheverwechslung. "Eigentlich sogar regelmäßig", sagte Mi, "aber bei Süßigkeiten und Eis manchmal spontan". Mi und Am Ichsten verließen das Café. "Du bist immer noch klein". "Noch elf Stunden", lachte Mi. "Was bist du am Ältesten?" "Das was du am Ichsten". "Jetzt?" fragte Am Ichsten, und Mi bejahte zum ersten nein zweiten Mal an diesem Tag etwas anderes als eine Tötung.


3. UnendlICH

Amallerichsten pfiff auf einer Parkbank auf das Verbot illegalen Waffenbesitzes, als eine Gruppe Jugendlicher ein gleichaltriges Mädchen einholte und rumzuschubsen begann. Die weiblichen Gruppenmitgleider zeigten Titten und lachten mit den anderen - nein nicht über das eigene affenhafte Betragen - über das Mädchen, dem sie sie zeigten. Amallerichsten wunderte sich und hörte den Beschimpfungen nun zu: "Lesbe". Er ging hin und fragte: "Und das berechtigt euch, ihre Privatsphäre zu verletzen?" Er zählte der ausgestreckten Mittelfinger ganze sieben und schoss sie alle mit seiner herrlichen langen Beretta ab. Ein Jugendlicher starb, als er über den abgeschossenen Finger seiner Freundin stolperte und mit dem Kopf gegen einen Stein knallte. Vierzig Leute waren bei der Beerdigung, viele Tränen flossen. Krokodilsquote: 34%.

Amallerichsten ging eine Tiefkühlpizza kaufen, da sah er, wie an der Nachbarkasse ein hilflos wirkender Junge als vermeintlicher Dieb beschämt wurde. Er stotterte schon aufgrund seiner Schüchternheit, aber er stotterte noch dazu mit extra eingebautem Sprachfehler. Amallerichsten sah drei lachende junge Männer, und ihm war klar, dass sie dem Jungen etwas in die Tasche gesteckt hatten. So forderte er die Ordnungshüter auf, diese zu fassen, was jene verweigerten. Daraufhin stieß er sie weg von dem Jungen, begleitete ihn aus dem Supermarkt und schoss die hinterhältigen Verbrecher nieder. Achtundneunzig Leute waren bei deren Beerdigungen, viele Tränen flossen. Krokodilsquote: 52%.

Amallerichsten war nach einem langen Fußmarsch müde und wollte mit der U-Bahn heimfahren. Da kamen vier große Gestalten auf ihn zu und forderten die Brieftasche, das Runterziehen der Hose und eine demütige Geste. Amallerichsten nahm sein Menschenrecht nach Artikel 1 des Grundgesetzes wahr und verweigerte ihnen dies. Da schlugen sie zu, er fiel auf den Boden und erschoss sie im Liegen. Von den Kameras überführt, saß er nun vor Gericht und konnte nicht beweisen, dass er angegriffen wurde. "Hätten sie die Pistole nicht dabei gehabt, hätten Sie denen gehorcht, hätten Sie sich totprügeln lassen, dann hätte ich Ihnen geglaubt, dass es Notwehr war", urteilte der Richter. Während auf den Beerdigungen der vier Erschossenen hunderteinundneunzig Leute zu 38% Krokodilstränen vergossen, bedankte sich Amallerichsten höflich für das Urteil, hob ein Maschinengewehr unter dem Tisch hervor und erschoss alle im Gerichtssaal Anwesenden.

Und so ging die Geschichte von Amallerichsten weiter: er pflanzte Bäume, arbeitete ehrenamtlich in sozialen Einrichtungen, engagierte sich politisch für Rechte der Minderheiten, war nett und hilfsbereit, lieh Nachbarn Geld - auch denen, von denen er wusste, dass sie es nie zurückzahlen würden - , setzte sich geduldig für den Tierschutz ein - ohne provokante Gleichsetzungen von Massentierhaltungen mit Konzentrationslagern - , vertrat seine politischen und weltanschaulichen Ansichten in toleranter und unaufdringlicher Weise und nahm seine verfassungsgemäß verbrieften Rechte wahr. Als er starb, waren exakt neun Leute auf seiner Beerdigung anwesend, und die Krokodilsquote ihrer Tränen betrug lächerliche 11%.


 2010-2011

Samstag, 23. März 2013

Der Brief




Ich hörte, als ich noch zur Schule ging, eine Geschichte, die während meiner Schulzeit an meiner Schule stattgefunden hatte, und von der ich, während sie sich ereignete, nichts mitbekam, und die ich, nachdem sie sich ereignete, nicht glauben konnte. Solche menschlich-unmenschlichen Abgünde gibt es, dachte ich, höchstens in skandinavischen Kinofilmen, und der tiefste Abgrund, in den ich zu jener Zeit geschaut hatte, war, dass eine Mitschülerin öffentlich herumposaunte, dass ich noch nie mit einer Frau geschlafen habe, und ich war immerhin 18, das war also eine große Schande, - doch anstatt im Boden zu versinken, fragte ich sie, was das sollte, und sie gab zu, es von jemandem erfahren zu haben, der eigentlich darüber nicht hätte reden dürfen, und es rumerzählt zu haben, um meinen Ruf zu schädigen, weil ich ihr unnahbar und unangreifbar erschien. Sie meinte es gar nicht böse mit mir, sie wollte einfach nicht länger ertragen, dass sie Luft für mich war, und ich war nunmal seit langer Zeit in ein anderes Mädchen heimlich und unerschütterlich verknallt. Sie wollte auch nichts von mir, aber sie wollte, dass ich etwas von ihr wollte, oder mich jedenfalls bedürftiger, abhängiger, manipulierbarer machen, denn diese Leute, denen alles am Arsch vorbei geht, diese Leute mit sozialem Tunnelblick und einem festen oder aber gar nicht vorhandenen Ziel, gehen in diesem Alter nunmal so gut wie allen auf den Sack, denn man ist in diesem Alter gewöhnlicherweise extrem unsicher.

Der freundliche und beneidenswert witzige Leon, der in einer Parallelklasse war, hatte dasselbe nennen wir es ruhig Problem wie ich, und dazu noch eine Behinderung, die nicht offenschtlich war, aber sie war bekannt. Ich sah ihn oft mit dieser Hanna, eine Klasse unter mir, ein wenig hübsch, ziemlich eingebildet, und mit Leon befreundet. Leon hatte großes Mitgefühl mit allen und immer ein offenes Ohr. Hanna sagte ihm, er würde sie als einziger Mensch auf der Welt verstehen, und er fühlte sich ein großes Stück für sie verantwortlich. Er, die 18-jährige Jungfrau, mochte wohl ihre kindliche und unvoreingenommene Art, sonst mied er eher die Mädchen. Eines Tages bekam Hanna einen anonymen Liebesbrief, und jemand flüsterte ihr zu, der Brief wäre von Leon. Man sagte mir, dass Leon, als man ihn darauf ansprach, nur lachte, und sofort Hanna aufsuchte, aber sie hatte plötzlich keine Zeit für ihn. Leon ging davon aus, dass er Hanna nur die Wahrheit sagten musste, nämlich dass er diesen Brief nicht geschrieben hatte, aber dazu bot sich ihm in den folgenden Tagen keine Gegelenheit mehr. Schließlich ging er auf Distanz zu Hanna, weil es auf einmal aussah, als würde er ihr nachstellen; unverschuldet befand er sich nun in einer sehr erniedrigenden Situation, aus der er keinen Ausweg wusste. Er schrieb Hanna einen Brief, in dem stand, dass er den Liebesbrief nicht geschrieben habe, aber von da an würdigte ihn Hanna keines Blickes mehr. Und so waren sie nicht mehr Freunde, nein, das war jetzt undenkbar. Schließlich fand Hanna, obwohl sie unbegreiflicherweise niemals wirklich an der Wahrheit interessiert war, durch einen Zufall heraus, dass der Brief ein dummer Streich eines Jungen aus ihrer Klasse war, - der Junge hatte sich überhaupt nichts dabei gedacht, es war seinerseits nur ein Scherz. Ein ziemlich harmloser Scherz, der sich gleich am ersten Tag in einer heiteren Runde gemeinsamen Lachens hätte auflösen können, ja eigentlich müssen.

Als ich von der Geschichte erfuhr, dachte ich wieder an diese Mitschülerin, die mich nicht leiden konnte, und aus Frust etwas über mich rumerzählt hatte, was sie gar nicht so meinte. Ich fand es trotzdem hinterfotzig von ihr, bis ich eben Leons Geschichte hörte. Hanna hätte nie etwas Gemeines zu Leon gesagt oder über Leon erzählt, sie war stets nett, höflich, ein durchaus liebenswerter Mensch. Nein, sie hätte niemals gesagt, dass sie Leon für minderwertig hielt, und Leon hätte es auch niemals erfahren, hätte es diesen Streich mit dem Brief nicht gegeben. Es gab da diesen einen Kerl aus dem Abschlussjahrgang, der auf einer Party jemandem Drogen ins Bier getan hat, und sie anschließend vergewaltigt, - ihm konnte nichts nachgewiesen werden, aber er wurde bis zum Schulabschluss wie ein Aussätziger gemieden. Er hat jemanden vergewaltigt. Und Leon hat diesen Brief nicht geschrieben. Neulich sah ich Hanna weinen, sie saß allein da, und warf mit hilflosen Blicken um sich. Auch Leon kam nie wieder gut gelaunt zur Schule.



3.2013

Mittwoch, 20. März 2013

Fuck





"Fuck!" dachte Bob, der sich gerade noch vor dem Sergeant gebrüstet hatte, wie ihm die neue Blondine vom Stützpunkt doch noch einen blies. Nun lag Bob immer noch in diesem an einen Kabelsalat angeschlossenen Sarg, aber niemand war mehr da, auch nicht der kleine dürre Arzt, den Bob einen Loser nannte, weil dieser noch nie mit einer Frau geschlafen hatte. "Hallo!?" rief Bob, doch niemand antwortete. Er kroch aus dem Sarg und ging aus dem Versuchslabor hinaus, den Stützpunkt erkannte er nicht wieder - hier war nun eine Stadt. Bob musste mal, wurde aber von einem Wächter vor einer blitzblanken öffentlichen Toilette aufgehalten: "Hierhin nicht!" "Wieso?" wunderte sich Bob, "das ist doch eine Männertoilette, und ich bin ein richtiger Mann, wie du siehst, du uniformiertes Schwein! Wie viele Weiber hast du denn schon flachgelegt? Ich vermute mal, gar keins". "Richtig geraten", sagte der Wächter emotionslos, und zeigte Bob die andere Tür, die zu einer heruntergekommenen Toilette führte. "Was ist los, Mann?" wunderte sich Bob. "Sie sind unkeusch, Sie dürfen keine saubere Toilette benutzen".

Bob ging durch die Stadt und dachte darüber nach, wie viele Jahre er wohl in diesem Gefriersarg gelegen hatte. Passanten wechselten die Straßenseite, in den Kantinen wurde er nicht bedient, in Restaurants und Gaststätten nicht hereingelassen. Aus Geschäften und öffentlichen Einrichtungen wurde Bob verwiesen. Er verschaffte sich per Fausthieb den Zugang zu einer Bank, um Geld abzuheben, und während ein Polizist den Niedergeschlagenen nach dem Flüchtigen befragte, konnte Bob das ganze Geld von seinem Konto abheben und aus dem Gebäude flüchten. Nun wurde es aber bitter für Bob: er bot dem Taxifahrer eine große Summe an, doch dieser lachte nur, und nahm das Geld nicht. "Das ist Spielgeld", erklärte er. "Was laberst du da, du Schwuchtel?" wunderte sich Bob. "Mit diesem Geld bezahlen nur die Ficker", erklärte der Taxifahrer höflich und öffnete dem Bob verfolgenden Polizisten die Tür.

Der Cop schmiss Bob auf den Rücksitz mit den Worten: "Unfassbar, dass es euch Abschaum noch gibt! Mein ganzes Leben muss ich mich mit euch Ungeziefer rumschalgen! Man sollte eine hohe Mauer um euch rum machen!" Bob verstand die Welt nicht mehr - ein gepflegter 35-jähriger Offizier wurde wie Dreck behandelt. Er fragte zur Sicherheit nach: "Träume ich vielleicht? Oder bin ich tot?" "Wie gern würde ich euch Hurensöhne alle tot sehen!" seufzte der Polizist. Er stoppte den Wagen außerhalb der Stadt und zeigte Bob eine Mauer, die sich bis zum Horizont erstreckte: "Nach dem nächsten Referendum werdet ihr alle hinter dieser Mauer leben. Diesmal werden zwei Drittel für eine totale Segregation stimmen, da bin ich mir so was von sicher". "Warum hassen Sie uns so?" senkte Bob seine Birne. "Euch Ficker?" "Ja... wieso Ficker? Haben Sie denn keinen Sex?" "Niemand hat Sex, wir sind doch keine Tiere! Und einer wie du hat meine Schwester vergewaltigt, darum hasse ich euch alle, ihr seid doch alle gleich!"

Im Gefängnis verirrte sich Bob zunächst, als er zu einem Waschbecken mit der Aufschrift "keusch" wanderte, wofür er von einem Schließer eine Kopfnuss bekam. Bob ging zum dreckigen Waschbecken mit dem kaum lesbaren Schild "unkeusch" und wusch sich mit Abwasser das Gesicht. Als Handtücher benutzten die unkeuschen Insassen die fünf Tage getragenen Unterhosen der keuschen Gefangenen. "Na, war es nicht mal andersrum?" fragte ein stämmiger Bursche Bob nach vergangenen Zeiten. "Du weißt, dass ich..." "Dass du einer der aufgetauten Hurensöhne bist? Ja, und du bist nicht der Einzige". "Warum werden wir nicht gleich getötet?" schluchzte Bob, worauf ein freundlicher Schließer erwiderte: "Leute wie du werden im Zoo gehalten. Scheiß Dekadenz, sage ich dir, aber die Kunden zahlen viel Kohle dafür, um zu sehen, wie ihr Drecksschweine fickt, so wie die Hunde oder Karnickel". "Gibt es auch aufgetaute Frauen?" "Die dienen anderen Zwecken. Aber ihr Schweinlein werdet doch nach zwei Wochen ohne Fick so geil, dass ihr auch Kerle vögelt! Wenn deine Strafe vorbei ist, wer würdest du gerne sein, der Schwanz oder der Arsch?" Alle lachten, Bob weinte. Er legte sich auf die Bodenmatratze in seiner Zelle und schlief ein in der Hoffnung, es sei alles nur ein böser Traum, aber ein heftiger Fusstritt in den Bauch weckte ihn um fünf Uhr morgens auf: "Amnestie, Hurensohn! Glückwunsch zum Abendarsch im Hauptstadtzoo, dein Hintern ist ja richtig knackig!"



2.2012

Dienstag, 19. März 2013

Freitod 2010




Montag, 3.8.2009. Heute werde ich die Welt verändern!

Donnerstag, 6.8.2009. Gerade an diesem Tag sage ich und wiederhole: diese Welt ist eine gute Welt!  Ja, es gab Hiroshima, aber es gab auch Anne Frank, und ich bin stolz, in die 11. Klasse einer Anne-Frank-Schule zu gehen!

Freitag, 7.8.2009. Hihi.

Montag, 10.8.2009. Es ist weiß Gott nicht mein Niveau, aber nochmals HIHI!

Dienstag, 11.8.2009. Mag sein, dass ich gestern zu euphorisch war.

Mittwoch, 12.8.2009. Liebe! Hoffnung! Ich bin dennoch zuversichtlich. Jeder mensch ist fünf Mal am Tag ein peinlicher Idiot, - diese Grenze nicht zu überschreiten, ist Coolness.

Freitag, 14.8.2009. Natürlich hoff ich!

Freitag, 21.8.2009. Hoffentlich hat sie nicht die Schule gewechselt.

Montag, 24.8.2009. Es ist kindisch, pessimistisch zu sein. Diese Welt ist die beste aller Möglichen, sonst gäbe es sie doch gar nicht. Diese Eins in Religion, ach, das ist eine Kleinigkeit des Lebens. Ich bin froh, auf der Welt zu leben! Diese eins, ich widme sie ihr, ohne sie hätte gar nicht den Mund aufgemacht. Das war ihre Inspiration. Nur weil sie so geguckt hat, habe ich das Richtige gesagt.

Sonntag, 30.8.2009. Es müsste langsam. Nicht, dass ich ungeduldig wäre.

Montag, 31.8.2009. Es ist exakt 24 Tage her. Nun erwarte ich den nächsten Level.


Dienstag, 1.9.2009. Leibniz ist brilliant!

Donnerstag, 3.9.2009. Ich weiß, dass alle in meinem Alter Sex wollen, und das sofort, aber mit IHR- nicht! Ich will mit IHR bis Weihnachnten nur unschuldig kuscheln. Könnte Anne Frank uns bloß sehen!

Freitag, 4.9.2009. Jedes gesagte Wort verändert die Welt. Und IHRE Worte klingen so rein, wie mein Herz sie liebt. Ich werde bis Montag nicht mehr schlafen, ich will nicht, dass der Klang ihrer Worte in mir vergessen wird.

Montag, 7.9.2009. Wahrscheinlich wird das eine Fünf. Aber die Welt ist nicht Mathematik! Und ich war gehandicapt. Was für eine widerliche insektliche Kleinigkeit, diese Fünf! SIE war heute nicht da, das ist wirklich katastrophal!

Freitag, 11.9.2009. Was für respektlose Schweine! Behaupten allen Ernstes, die Amis hätten es selbst getan! Haben die keinen Respekt vor den Opfern und deren Angehörigen? Und sowas nennt sich Referat! Und was ist das für ein Lehrer, der "zumindest eine logische Stringenz" darin erkennt? Verschwörungstheorie, nur dumme, dämliche Verschwörungstheorie!

Sonntag, 13.9.2009. Hm, das war wahrscheinlich Einbildung. Der Kuss an der Ampel ist aber auch ein bekannter Archetyp. Das war doch nicht SIE! wie lächerlich, dies überhaupt anzunehmen!

Dienstag, 15.9.2009. Gier ist die Ursache der Finanzkrise! Alles sofort! Schnelle Rendite! Keine Geduld! Ich warte gern, denn meine Gefühle sind echt. Ich will nicht bloß Spaß, ich liebe unendlich sehr, und spätestens Ende Oktober werden wir Hand in Hand durch den Park spazieren.

Freitag, 18.9.2009. Streit. Wer ist schuld? Natürlich Jan. Immer Jan.

Samstag, 19.9.2009. Das ist aber schon komisch, das zuerst ich bezichtigt werde, und erst dann objektiv geguckt wird, wer angefangen hat.

Sonntag, 20.9.2009. Streit gehört zum Leben wie Warten zum Lieben.

Montag, 21.9.2009. Ich brauche etwas Zeit für mich.


Freitag, 16.10.2009. Las Schopenhauer. Wie konnte ich so naiv sein, und diesem dämlichen Leibniz zustimmen? Natürlich ist diese Welt die SCHLECHTESTE aller Möglichen, denn wäre sie noch schlechter, wäre sie nicht mehr da. DAS ist Logik! Und Leibniz - das ist Philosophie! Demagogie!

Montag, 19.10.2009. Auf dieser Welt kann uns nur noch die Liebe retten. Und wer aus so reinem Herzen so ehrlich liebt wie ich, üssiert in jeder Welt re!

Dienstag, 20.10.2009. Ich kann - was soll ich sagen - nur noch stolz auf mich sein.

Mittwoch, 21.10.2009. Wahrscheinlich Burnout, sonst hätte ich heute an der Ampel nicht halluziniert.

Donnerstag, 22.10.2009. Ihr heult! Ich dagegen weine! Man kann nur stolz sein auf Tränen, die unschuldige Wangen entlang kullern. Liebe ist heilig! Ich bin heilig!

Sonntag, 25.10.2009. Wenn es Gott gibt, wird sie mich morgen ansprechen.

Montag, 26.10.2009. Was für ein Idiot bin ich doch! Gott eine Pistole vor die Brust setzen! Ich darf doch Gott keine Fristen vorschreiben. Aber das wäre schon ein Gottesbeweis, wenn...

Mittwoch, 28.10.2009. Gott weiß, was er tut. Etwas zu einem bestimmten Termin von Gott zu erwarten, ist lächerlich, aber NICHTS wäre doch ein Beweis seiner Nichtexistenz!

Samstag, 31.10.2009. Nicht umsonst hat Luther reformiert. Vielleicht hat er aber nicht weit genug gedacht. Eine interessante Doku gesehen, die auch mal die andere Seite beleuchtet! Wie war denn Hitlers Kindheit so? Das steht komischerweise in keinem Geschichtsbuch. Man leugnet die Wahrheit, tut so, als sei nichts gewesen, und gibt ihm für alles die Schuld!


Montag, 2.11.2009. Warum verdrängt sie so, dass sie mich liebt? Wird sie von ihrem Vater sexuell missbraucht? Ist das der Grund? Ich warte noch eine Woche, vielleicht zwei, dann schicke ich ihrer Mutter einen Brief!

Dienstag, 3.11.2009. Jaja, der böse Jan. Was hab ich denn gesagt? Dass Anne Frank nur ein Mensch aus Fleisch und Blut war - ist das etwa nicht wahr? Ich habe sie sehr bewundert, aber es gibt Grenzen.

Mittwoch, 4.11.2009. Wie kann man überhaupt nach einem KIND, das gar nichts geleistet hat, eine Schule benennen!!?

Freitag, 6.11.2009. Nicht, dass ich glauben würde, die Mondlandung sei gefälscht, aber das hat was. Wenn man tiefer nachdenkt, und nicht nur oberflächlich bleibt, wie alle Menschen und gewisse Mädchen, kann man sogar deutlich sehen, dass eine Fälschung wahrscheinlicher ist - zum Beispiel SIE, sie verhält sich mir gegenüber IMMER falsch. Verallgemeinern wir das: sollte die Mondlandung echt gewesen sein, dann wäre es eine AUSNAHME! Und ausgerechnet in diesem heiklen Fall soll eine Ausnahme die Wahrheit sein? Tut mir leid, Freunde, aber die Welt ist Mathematik! Solange es keine Beweise gibt, halte ich mich an das Wahrscheinlichere.

Montag, 9.11.2009. Ein Schicksalstag, auch für mich. Wird das meine persönliche Pogromnacht?

Dienstag, 10.11.2009. Was kommt als Nächstes? Elterngespräch: die Parallelen sind erstaunlich! Als wäre das so eine Art Wannseekonferenz. Jan ist böse! Jan ist der Quell allen Übels in der Schule, in der Familie, warum nicht gleich auf der ganzen Welt!? Jan muss vernichtet werden!

Mittwoch, 11.11.2009. Zum Kotzen!

Donnerstag, 12.11.2009. Es gibt einen Schwanz, der sehr bald sehr tief gelutscht wird, das verspreche ich euch!

Sonntag, 15.11.2009. Habe meine Tränen Gott anvertraut. Es war wirklich meine Schuld, ich war Egoist. Ich habe meine Fehler eingesehen und bereut. Ich danke Gott, dass er mir vergibt und mich nicht im Stich lässt!

Mittwoch, 18.11.2009. Ich dachte, Gott würde mich nicht im Stich lassen. Als hätte ich am Sonntag zu der Wand gesprochen!

Freitag, 20.11.2009. Klappt die Tafel auf, kritisiert mein Gedicht. Es war an SIE, du Depp! Steck dir deine Literaturkritik in deinen faulen Lehrerarsch! Die ganze Romantik versaut! Eichmann!

Samstag, 21.11.2009. Ich werde der Linken auf ewig meine Stimme geben. Das ist keine Politik mehr, das ist WAHRHEIT. Lafontaine ist ein Heiliger. MIT SEKUNDÄRTUGENDEN KANN MAN AUCH EIN KONZENTRATIONSLAGER LEITEN!!! Ich glaube, ich bin in einem.

Montag, 23.11.2009. Die freuen sich schon auf Weihnachten. Ich hoffe, es gibt bis dahin noch einen Atomkrieg.

Donnerstag, 26.11.2009. Hoffentlich greifen die bald den Iran an. Hoffentlich fliegt gleich hier alles bald um die Ohren! 

Freitag, 27.11.2009. Objektiv Einsplus. Subjektiv Vierminus. Hure! Nicht mal das arithmetische Mittel zwischen der objektiven Wertung meiner Arbeit und ihrer subjektiven nuttigen Meinung! Nein, das Allerschlechtestmöglichste! Jan muss ja bestraft werden!

Samstag, 28.11.2009. Celan ist ein Hochstapler. ICH bin der UNGLÜCKLICHSTE Mensch der Welt!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Montag, 30.11.2009. Ich bringe mich um, wenn Weihnachten NICHTS passiert!


Mittwoch, 2.12.2009. Gott und die Welt haben noch Zeit bis Heiligabend. Dann kann ich nichts mehr versprechen.

Donnerstag, 3.12.2009. Anne Frank ist eine Phantasiefigur so wie Shakespeare oder Gott.

Montag, 7.12.2009. Die Welt ist einfach nur eine Wüste, nein, eine Wüste stinkt ja nicht, die Welt ist einfach nur eine Kugel SCHEIßE!

Dienstag, 8.12.2009. Ich verachte alle Menschen gleich tief. Wie konnte dieser Hurensohn meinen, ich würde die RAF verteidigen? Genauso Schwanzlutscher, wie alle.

Mittwoch, 9.12.2009. Ich würde das nicht Schwänzen nennen. Jeder hat das angeborene Recht, Übel von sich fernzuhalten.

Donnerstag, 10.12.2009. Eine Entschuldigung soll ich schreiben? Und wer entschuldigt sich bei mir? Ihm ist egal, dass auf dieser schönen Welt Kinder gefickt werden, aber dass der böse Jan gestern die Schule geschwänzt hat, ist schlimmer als der Holocaust! Ich wundere mich nur noch, warum mich Gott nicht gleich in der Hölle "erschaffen" hat.

Sonntag, 13.12.2009. Morgen die letzte Chance!

Montag, 14.12.2009. Morgen die LETZTE Chance!

Dienstag, 15.12.2009. Von den Menschen erwarte ich nichts mehr. Aber ich FREUE mich auf Weihnachten! Gott ist HEILIG und nicht korrupt und verlogen!

Mittwoch, 16.12.2009. Ich weiß nicht, was ich von dieser Eins halten soll. Zynismus pur. So, als hätte ein Aufseher im KZ einen ausgehungerten Schriftsteller in seinem Drecksloch aufgesucht und gesagt, ihm hätte sein (längst verbranntes) Buch gefallen!

Donnerstag, 17.12.2009. Ich werde keine Biographie schreiben. Mein Leben ist in menschlier Sprache nicht zu erfassen.

Dienstag, 22.12.2009. Das an der Ampel - das war sie, jedesmal. Mein Herz ist mehr als nur gebrochen. Wer leugnet, was ich gerade erleide, sollte mit dem Tode bestraft werden.

Donnerstag, 24.12.2009. 21:53. Noch zwei Stunden. 22:58: Nur noch eine. 23:50. Zehn Minuten. 23:51. Neun. 23:52. Acht. 23:59: eine Minute noch. Bin gespannt, was jetzt passiert. 0:01. Vielleicht geht meine Uhr vor. 0:10. NICHTS!!!??? Vielen Dank auch. Um Zwei springe ich vom Balkon. 2:10. Ich wusste ja, dass ich euch allen egal bin, aber dass ich euch SO egal bin, selbst dem ach so lieben Gott!!! 2:30. Ich danke meinen Eltern für alles und gehe erhobenen Hauptes in den Tod.



 2011

Mittwoch, 13. März 2013

Trilobit



1


Man kann es monologisch nicht äussern.

- Hallo?
- Hallo. Kommst ungelegen. Löcher.
- Du weisst, das das verboten ist.
- Darum solltest du es nicht sehen.
- Mach es wieder weg.
- Nein. Ich mache die Restlichen zu.
- Du weisst, dass das verboten ist.

Wir fuhren nach Irgendwasfelde, eine Kleinstadt, im Rathaus feierlich ein Terrarium, herum gut gekleidete Leute.

- Einen Scotch?
- Gern.
- Coldman? Junge, lange nicht gesehen, komm in die Hall, da sind...
- Wenn du wüsstest wie weg ich muss.
- Was starrst du die Wände an?
- Du weisst, dass das keine Wände sind.
- Wenn schon. Komm.

Möge mein Name mein Schicksal werden. Ich stand neben mir, wie immer, grüsste die wichtigen Leute nicht, die an mir vorbei. Mein Reisepartner, Steinman, war nervös, er sah es auf uns zu kriechen, es war chitingepanzert und hatte einen Rüssel. Ich liess es an uns vorbeikriechen, er verpasste dem Ding unbeholfene Schläge, bis es stehen blieb und seinen Rüssel einzog. Ruhig, sagte ich, es genügt nur einer, es kommt darauf an, wohin. Es war hellbraun, zwei Meter in der Länge, einen Kopf breit, eine Art Hundertfüssler. Ich machte es kaputt. Der Vorhang hebte sich, ein Ganzwandterrarium, dort verästelte Kunstbäume, auf denen sein Nachwuchs, weiss, seidig, acht bis zehn Zentimeter lang, in tausendfacher Ausführung, als ob das Trennglas gar nicht da wäre. Ich warnte Steinman, so dass er sein Gesicht abwenden konnte, ich sah halb hin, mir war halb schlecht, aber ich war noch bei mir, und in meiner Wohnung, dieser gebigbrotherten Zelle, waren, soweit ich mich erinnern konnte, alle Tuben - so hiessen hunderte Löcher in der Wand, durch die Wand, ins Nirgendwo, ins Irgendwo, wo ich nicht sein wollte - waren vorschriftsungemäss verstopft.

- Steinman, musst du brechen?
- Es geht.
- Wir müssen bei Lichte bleiben.
- Es gibt nicht viele Plätze an diesem Ort, wo Licht.
- Werbung, guck.

Ich sah sie alle so freundlich, überall Gesichter, solch herzliches, gewinnendes Lächeln, man konnte sich dem nicht entziehen, es gab keine schlecht gelaunten Menschen, es gab gar nichts, was diese Kirmesatmosphäre trüben konnte, vielleicht nur mich und Steinman. Den Leuten versuchten wir, soweit es bei Lichte ging, aus dem Weg zu gehen, ihre Freundlichkeit war so ansteckend, ihre Augen so verschlingend, kommt, seid unsere Freunde. Steinman fand eine Absteige am Rande der Stadt, da war niemand, ausser Pennern vielleicht, Penner, Alkoholiker, extreme Alkoholiker, wenn nicht, dann mussten wir sofort wieder weg. Aber unser Glück: regelrechte Alkoholjunkies. Wir setzten uns in ihre Mitte, gaben ihnen Geld, so dass sie um uns blieben, und schliefen gute fünf Stunden.



2




Der Traum war warm wie die Luft, der Wärme konnte man nicht entkommen, sie war in allen Löchern, in allen Gliedern, in Gesichtern und in der Luft.

- Fertig?
- Fahren wir.
- Wer ist unser Freund?
- Xilincia.
- Ihr Vorname?
- Ja.
- Ich will keine Vornamen wissen. Sind ihre Hände kalt?
- Weiss nicht.

Sie neigte sich zu mir, von Hinten auf den Beifahrersitz. Nein, nicht die Handschuhe ausziehen, einfach sagen, ob ihre Hände den Umständen entsprechen kalt sind. Sie bejahte dies. Gut. Wann mich zum letzten Mal eine Wurst von Mitmensch anfasste, wann war das, das war lange her, das war als damals dieses Mädchen am Strand, vielleicht Ende 15, sich zu mir setzte, und ich mich wunderte, warum sie mich so freundlich angrinste, da gab ich ihr die Hand, und es war wie fester Brei, nicht fest, nicht flüssig, sah dabei normal aus, keine anatomischen Auffälligkeiten, beim Allsehenden war das Mädchen schön, beim Allahnenden musste ich die ganze Nacht brechen. Genug davon, das war nun Vergangenheit.

Wir fuhren - eigentlich, soweit uns die verbotenen Götter beistehen konnten, die kalten, die unfreundlichen, Götter eben - nach Inii, nördlicher war nur der Pol. Der Morgen war staubtrocken, das gefiel mir gut, aber die Hitze, schon um acht Uhr morgens war die Luft heisser als die Leber, gut das wir Klimaanlage hatten, gut, dass Xilincia nie Schockbäder nahm, und es wert war, mit uns zu reisen. Sie war ganz verhüllt, ein beiges Kopftuch, eine Taucherbrille. Handschuhe, - so erkannten wir uns. So lernte ich Steinman kennen. Wir waren die einzigen, die auf der Party in Hann- oder Gameover, oder wo das war, nicht einmal die Handschuhe auszogen. Steinman entrann dem Tode nur knapp, als ich ihn in der Badewanne unterkühlt fand, im Eisbad, in der Szene Schockbad genannt - eine Firewall für Körper und Geist, so sprachen die Iceball-Earth-Jünger, die uns die Vorsichtsmassnahmen lehrten. Die verstopften Tuben, und die Luft muss zirkulieren, wird der Automat an der Wand spätestens in 16 Stunden melden, wie weit sind wir schon weg, wo werden sie uns suchen? Achtung, Smile Police, direkt auf uns zu, konnte ich noch, bevor.

Nein, verliere niemals das Bewusstsein. Wir wachten nicht irgendwo im Nirgendwo auf, wir fuhren weiter. Steinman, der beste Autofahrer meines Wissens überhaupt, nahm eine Abkürzung. Er wechselte die Spur so schnell, und dabei so elegant, dass unser Wagen sie glauben liess, dass wir ebendiese Ausfahrt nehmen wollten. Weiter, weiter nach Osten.

- Steinman, kannst du noch fahren?
- Fahr du.



3




Bald sind wir in Djed. Wie ein Mantra. Bald, bald sind wir in Djed.

- Das war Perm!
- Was?
- Das war Perm... das war mal Perm.
- Wo sind die Flüchtlingslager?
- Hundert Kilometer nördlich, aber da ist alles verstopft.
- Weiter nach Osten?
- Ja.
- Schläft Xilincia?
- Ja.

Perm, Permafrost, dieser Dung war nur die Kornkammer der Welt. Irgendwo nördlich davon, wo eine halbwegs gemässigte Klimazone begann, warteten - ich lüge nicht - vier bis acht Milliarden Flüchtlinge auf die Einreise in das einzige Land, in dem es noch Schnee gab. Im Winter. Kraftlos, hungernd schliefen wir ein. Es war an einer rund um die Uhr beleuchteten Landebahn für Hubschrauber, wir wussten nicht, wie hoch frequentiert. Der Punkt war erreicht, an dem alles, auch der Tod, endlich egal war, weil der Körper nur noch schlafen wollte; auch der Hunger bliebt nur abstrakter Gedanke, der Magen spürte nichts.

- Wach?
- Ja, Steinman. Ich bin wach.
- Noch vier Tausend.
- Das ist gut.
- Das sind fünfzig Stunden, wenns gut geht.
- Xilincia schläft.
- Ja.
- Bis du sicher...
- Nein, sie ist nicht tot.

Ich setzte mich zu ihr, als sie aufwachte. Unsere Jacken berührten einander, ich legte meinen Regenmantel um sie. Falls wir Djed nicht erreichen, und ich weiss dass du und Steinman sauber seid, gehe ich los und hole irgendeine Maschine, ein Flugzeug, ein Hubschrauber, irgendwas, und ihr müsst euch mit dem Tod abfinden, es ist gar nicht so schwer, aber falls ihr überlebt - dazu besteht immerhin eine dreiprozentige Chance, bleibt nicht dort, ihr müsst sofort nach Inii. Keinen Tag verlieren. Ich werde verseucht sein, das steht fest. Schüttelfrost, bis ich den vierzigsten Breitengrad erreiche. Muskelkrämpfe, permanente Übelkeit, Hautausschlag, Blut aus allen Löchern - vielleicht ist es gar nicht so schlecht, ich gehe einfach zu Fuss nach Norden, bis ich vor Schmerzen zusammensinke und quallvoll sterbe.



4




- Du hustest Blut? Seit wann?
- Seit zwei Stunden. Aber ich habe noch Alkohol.
- Gut. Aber du musst in den Kofferraum.
- Vielleicht ist es was Anderes.
- Was denn!?
- Sieh mich nicht so an, Steinman. Es kann doch was Anderes sein, oder?
- Coldman, entweder steig aus oder geh in den Kofferraum.

Der Kofferraum, ein Uterus. Ich fühlte mich wie seit vor der Geburt nicht. Vielleicht lag es nicht an der gemütlichen Enge des Raums, sondern an der enormen Menge Alkohol, die ich durch den Strohhalm in meinen Körper beförderte. Die Strasse war immer noch eben, also trennten uns noch Stunden von Djed. Wie wir da rein gelangen wollten, frag mich was Leichteres. Vier bis acht Milliarden Flüchtlinge. Die Grenzübergänge werden so vollgestopft sein wie meine Tuben. Ich fürchte, wir schaffen es nicht, dachte ich, aber fühlte nicht, durch den Alkohol war es mir angenehm egal.

- Steig aus.
- Warum? Wo sind wir?
- Steig aus. Smile Police.
- Versteck Xilincia. Ich töte sie und hole Benzin. Ihr wendet bei New Awdaghost, da ist ein Flughafen. Der Mann, von dem ich dir erzählte, sein Name ist Bernstein. Er will seine Tochter sehen. Lebend. Und zwar so lebend, wie wir beide es meinen, wenn wir von lebend sprechen.
- Wird er uns glauben, dass Coldman uns geschickt hat?
- In seiner Verzweiflung ja. Aber bleibt nicht in Djed. Fahrt weiter nach Norden.

Ich ging auf die Buddies zu, sie lächelten mich an, so gewinnend, so entwaffnend, doch ich zog eine Waffe und leerte das Magazin. Ich liess Steinman den Wagen herfahren, er tankte das restliche Benzin aus dem Fahrzeug der Smile Police und fuhr mit Xilincia weg. Ich ging in die Überwachungskabine, konnte das Gleichgewicht kaum halten, fiel schliesslich hin. Eine Ratte lief auf mich zu, und ich empfand ein Wohlwollen, eine Zärtlichkeit, welche ich seit Langem für ein Wesen nicht mehr empfand. Bloss kein Hautkontakt, sonst ist die Ratte hin. Aber wenn sie hier bleibt, lebt sie auch nicht mehr lang. Nicht so, wie Steinman und ich leben verstehen.

Ein Strand. Ich lief hin, mein Alkoholbehälter war leer. Jetzt helfen nur Erinnerungen. Ich dachte an das Mädchen. Die Hülle, perfekt fürs Auge, versteckte einen widerlichen Kern, mehr noch eine Entkernungsvorrichtung, in wenigen Monaten wird der Infizierte ohne Wirbelsäule sein, so jedenfalls Professor Doktor Bernstein.



5




Jetzt beginnen die Schmerzen. Gott schütze dich, Steinman. Und Gott schütze Xilincia. Ich bin zwar verrückt, wenn ich daran denke, aber ich denke tatsächlich daran, irgendwann vielleicht ihr Gesicht zu sehen. Das Mädchen mit dem Minirock, mit dem sie dann auch direkt ins Wasser ging. Es war ein Strand wie dieser. Werde ich mich auch so anfühlen wie sie? Werde ich bald auch nur noch lächeln. Hilf mir, Alkohol, aber du bist nicht da, ich habe dich getrunken.

"Sascha, hast du den Regenwurm? Wird ihn jetzt ins Glas. Was passiert, Kinder? Richtig, im Alkohol stirbt er. Alkohol ist ein tödliches Gift, für alle Lebewesen". Als ich noch zur Schule ging, repräsentierte der Regenwurm unsere menschliche Existenz, wir alle Lebewesen waren in unserer Biosphäre vereint. Und Sascha lebte in Perm. Er starb später an einer Alkoholvergiftung.

Ein Meer war hier früher nicht, hier war Tundra, hier war Permafrost. Ihr kalten Götter, ich verende hier, dabei hatte ich noch so viel Nördliches vor. Ich werde den Schnee von der Strasse lecken, falls ich in Inii ankomme. Ein Bus. Aber ich kann nicht aufstehen. Und da, im Wasser, es schwimmt auf den Strand, direkt auf mich zu - ein Trilobit. Aus dem Bus steigen Terroristen, Touristen aus, ich rufe ihnen etwas zu, sie hören mich nicht, der Strand ist schier endlos, sie gehen ins Wasser. Die Erstgenannten nicht, sie eröffnen einfach das Feuer. Der Trilobit kehrt um, schwimmt auf die blutigen Gliedmassen zu, bald sind viele da. Zehn Tausend, eine vorsichtige Schätzung. Ich kann immer noch nicht aufstehen. Es ist etwas mit meinem Körper los, und die Alkoholvergiftung ist tertiär, wenn nicht quartär. Sekundär ist der Hunger. Ich verhungere...

Gierig bissen meine Zähne ins rohe Fleisch der Zerfetzten, Erschossenen, die Trilobiten um mich herum, zwanzig Zentimeter bis so gross wie ein Wagen der A-Klasse, liessen mich in Ruhe. Ich war kein Fremdkörper für sie. Diese Trilobiten, wie aus dem Lehrbuch, genau so, exact so sahen sie aus.  Ich hatte vorher nie rohes Fleisch gegessen. Aber nun, nun werden andere Zeiten kommen. Ich werde Schlimmeres tun. Das ist mir bewusst.



6




Von hier bis zur früheren Mongolei, das ist die Thedée. Ein Bundesstaat mit nur elf Milliarden Einwohnern, der flächengrösste Bundesstaat der Globalen Föderation. Noch ein Bus. Ich steige ein, man stellt mir keine Fragen. Es sind die Jünger des Tempels des Ewigen Winters, eine grausame Sekte. Es waren ihre Freunde, die den ersten Bus entführt und die Touristen erschossen haben. Warum tun sie mir nichts? Warum fragen sie mich nichts? Ich lehne mich zurück, bald schlafe ich ein. Die wichtigste Regel gebrochen - in der Gegenwart von Mitmenschen das Bewusstsein verloren.

Ich fragte mich, warum es so dunkel war, und warum ich nicht angekettet war, bis ich verstand, dass dieser Raum hermetisch abgeriegelt. Ein nachter Mann brachte mir Essen. Ein grosser Teller unter einer Keramikkuppel. Was werde ich dort vorfinden? Das, worauf ich Heisshunger habe? Werde ich das Gegessene sofort wieder auskotzen oder Augen schliessen und schmecken? Du bist so elitär, sagte mir Damman vor zwei Wochen, so elitär. Du willst nur aus dem Grund nicht, dass eine Trillion Menschen auf der Erde leben, weil du dich vor dem Essen ekelst. Vor dem einzig möglichen, einzig vernünftigen Essen, das auf einem kleinen Planeten für eine grosse Anzahl von Menschen in kurzer Zeit produzierbar ist. Ich hob die Keramikkuppel. Nein, da waren bloss Kekse. Sie schmeckten mir nun wie Holz, ich musste sie runterwürden. Dann kam ein bekleideter Mann zu mir. Er führte mich in einen anderen Raum und setzte mich auf einen Stuhl. Ein Team fesselte mich und brachte mir Elektroden an.

- Wo sind sie?
- Wer?
Elektroschock. Füsse. Schmerz.
- Wo ist Steinman? Wo ist Bing?
- Ich weiss es nicht.
Elektroschock. Bauch. Nochmal Schmerz.
- Ich schneide dir die Arme ab. Willst du ein Fisch sein, hähä!
- Vall, ich will kein Blut sehen.
Elektroschock. Hoden. Hoden. Hoden.
- Erschiessen wir ihn, er wird uns nichts sagen.
- Wirf ihn auf die Strasse, aber zuerst Hirnmassage.
- Wartet. Sie sind in Inii.
- Inii? Du lügst. Niemand schafft es bis nach Inii.
Elektroschock. Hirnmassage.



7




Die Gxorée, in deren Hauptstadt Ghittox 2,5 Milliarden Menschen leben, eine mittlere Grosstadt, dort wurde ich hingebracht. Die Kleinstadt, ich weiss nicht wie sie hiess, zehn Kilometer von Ghittox entfernt, dort bekam ich eine verriegelte Zelle, vier Quadratmeter, zwei Meter hoch. Dort sollte ich bis zu meinem Lebensende bleiben. Doch die nordischen Götter erhörten meine sterbenden Hoffungen, und am siebten Tag befreiten mich die Jünger des Tempels des Ewigen Winters, die mich zuvor gegen einen Terroristen ausgetauscht hatten. Sie flogen mich nach Xhigget, die grösste Stadt der Welt mit 600 Milliarden Einwohnern. Früher war dort so etwas wie Tibet.

- Ich bin Bing. Du hast mich vor exakt vier Monaten nicht verraten. Deine Freiheit ist mein Dank.
- Warum bist du nicht in Djed?
- Ich bin Bing. Vielleicht darum. Und du, kalter Mann, hast du nicht dein Leben für zwei andere Menschen geopfert?
- Freunde.
- Steinman war dein Freund. Du hattest ausser ihm keine Freunde.
- Weisst du wo sie sind?
- Genausowenig wie du, und das ist verdammt gut für uns wie für sie.
- Wo gehen wir hin?
- 760-ster Stock, der Dritte Kambrische Turm. Dort ist ein Café, in dem es Essen gibt für Parasiten wie dich. Corn flakes, all das Kaninchenfutter, das du so gern frisst... Wir sind da.
- Bing, hast du ein Implantat?
- Ich habe neun Implantate, eine Titanlegierung. Ich habe keine natürlichen Knochen mehr. Leg deine Hand auf den Tisch. Hat es Weh getan?
- Ja.
- Du bist gesund. In den ersten Wochen müsstest du gar nichts spüren.
- So wie die Zombies?
- Genau.

Ich rätselte lange, was es mit diesen Sonderlingen auf sich hatte, die scheinbar keinen Schmerz spürten und die verrücktesten Sachen anstellten; sie brachen sich Arme und Beine, lagen auf dem Beton und lachten herzlich. Sie waren in der Transformationsphase. Nach fünf bis acht Wochen spürten sie wieder Schmerz. Und lächelten gewinnend.



8




Das Kaninchenfutter hatte mir durchaus geschmeckt. Die Folter hat mir wohl gut getan. Die Elektronenschwärme, die durch mein Nervensystem gepeitscht wurden, sie haben eine Hirndrüse kaputt gemacht. Besser gehts nicht. Ich bin ein Mensch, - ich bin das, was Steinman und ich meinen, wenn wir Mensch sagen.

- Taxi!
- Steig ein, Bruder.
- Bruder?
- Bist du kein Kreuzritter des Nordpols?
- Tut mir leid..?
- Schon gut. Du bist grimmig, darum dachte ich, du wärst einer von uns.
- Fahr mich aus dieser Hölle, egal wohin.

Er fuhr mich nach Xhursin, mit etwas weinger denn 10 Milliarden eine angenehm kleine Stadt. Er hatte ein Steinhaus am Meer. In einem weit verzweigten Bunkersystem pflanzte er Kartoffeln an; er hielt sich Hühner, Enten, Gänse. Alles geheim, alles unter dem Schutz der Sekte. Im Haus begrüssten uns nur zweihundert Leute, vielleicht sogar weniger. Ein langhaariger natürlich lächelnder Mann meines Alters, also knapp unter dem Alter des Gekreuzigten, geisselte den Hausbesitzer. "Fleisch, fleisch, willst du Menschen.. würdest.. würdest du Menschenfleisch essen?" erging er sich in seiner Wut. "Das einzig effektive Nahrungsmittel, du musst es doch einsehen. Pflanzen sind nicht effektiv. Algen sind nicht effektiv. Aber diese Dinger fressen unsere Leichen, entwickeln sich innerhalb von zehn Stunden von einem mikroskopischen Ei zu einer vollen Mittagsportion, und du willst Kannibale werden, nur weil du dich ekelst!?" "Ich ekele mich nicht" sprach der Taxifahrer ruhig. "Ich will bloss ein Mensch bleiben". "Mein Gott! Iss sie gebraten, du musst sie nicht roh essen wie die Anderen!" - Ich ging in den Keller, dort war es angenehm kühl. So gut wie niemand hatte, und niemand brauchte eine Klimaanlage. Sie waren an die Hitze angepasst. Nur die Terroristen, die sich in gewalttätigen Sekten zusammenfanden, pflegten Extrawürste zu braten. "Auf der Erde sollten maximal 200 Millionen Menschen leben. Das ist meine Meinung" flüsterte der Taxifahrer mir zu und gab mir eine rohe Kartoffel, die ich geniessenden Mundes ass, bevor wir in den kühlen frischen Kellerpool sprangen.

- Du weisst, dass wir dich hier behalten werden?
- Ich nehme es an.
- Du weisst, wieso?
- Weil ich immun bin?
- Wir wissen nicht, ob du immun bist. Wir wissen so gut wie gar nichts über all die Dinge, wie sie wirken, wie sie die menschlichen Gene verändern, was für Drüsen sie im Hirn wachsen lassen. Wir wissen es nicht. Aber du bist infiziert und veränderst dich nicht. Du könnstest uns nützlich sein.
- Ich will nach Inii. Ich werde alles tun, um dorthin zu gelangen.
- Wer war der schlimmste Mörder der Geschichte?
- Der.. der den Fusionsreaktor in der Nigxorée gesprengt hat. Er tötete 75 Milliarden Menschen.
- Du, Coldman. Du wirst es sein. Und du wirst ihn bei Weitem übertreffen.
- Was habt ihr vor?
- Ein Bisschen Platz schaffen. Wir und die Winterkavaliere haben uns auf 30 Milliarden geeinigt. Immer noch zu viel, wie ich finde. Aber jemand muss arbeiten, jemand muss die Trümmer wieder zusammensetzen. Unsere Obergrenze lag bei zehn Milliarden, deren Untergrenze bei 50.
- Ich habe gesehen, wie sie Menschen erschossen haben. Wie Tiere abgeschlachtet.
- Ich nehme an, das werden sie mit den Überschüssigen tun, sobald der Wiederaufbau vollendet ist.

Wann hat sich die Welt so verändert? 2290, da war sie noch in Ordnung. Mein Urgrossvater hatte eine Villa, eine Yacht, zehn Hektar Land,die Umwelt war weitgehend entgiftet. Und jetzt, 400 Jahre später ist unsere Welt eine Kloake, und die Menschheit degeneriert je mehr die Wissenschaft fortschreitet. Ich will kein Mörder sein. Ich will nach Inii.



9




"Die Langlebigkeit war unser grösstes Problem. Im Vier- und Fünfundzwazigsten Jahrundert betrug die durchschnittliche Lebenserwartung 210 Jahre, aber wir hatten noch keine Bevölkerungsexplosion" - der Taxifahrer hielt einen Vortrag vor der Sekte. Er war die Nummer drei in deren Rangordnung, der Ranghöchste in Xhursin. In der tiefen Nacht gingen wir an den künstlichen Strand in seinem Kellerlabyrinth, sogar der künstliche Vollmond sah echt aus. "Es möcht kein Hund so länger leben" zitierte er Goethe.

- Es ist mir rätselhaft, warum die plötzliche Bevölkerungsexplosion in der Mitte des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts stattfand.
- Genfood.
- Nein, so einfach ist das nicht.
- Alles wurde vertuscht, aber die Getreidearten, die damals entwickelt wurden, führten zu  Veränderungen im menschlichen Erbgut, so dass die schlimmste Mordwaffe aller Zeiten ihr Werk unlimitiert verrichten konnte. Frauen konnten bis zum zweihundertsten Lebensjahr schwanger werden und setzten unzählige Kinder in die Welt. Ganze Völker verloren die Kindheit, das Leben fing gleich mit der Pubertät an. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, war sie drei.
- Es fällt schwer, das alles zu glauben.
- Das glaube ich dir. Du bist behütet und isoliert in der Thedée aufgewachsen, du grösster Mörder aller Zeiten hähä, in spe hähä.

Bernstein empfing Steinman kühl, aber Xilincia erinnerte ihn an seine verschollene Tochter. So half er ihnen, über die Grenze zu kommen, und in das Land des Winters zu gelangen. Sie hielten sich in Djed nicht lange auf, sie fuhren sogleich nach Norden, nach Djedendjed, erst dort blieben sie für mehrere Tage.

Dort, wo es dunkel war, konnte man jederzeit auf Arthropoden treffen. Sie waren - für Tiere - beängstigend intelligent. Sie waren von der Weltregierung geduldet. Sie frassen Leichen und fütterten die Menschen mit ihrem Nachwuchs. Einige von ihnen waren so gross wie nie zuvor in der Erdgeschichte, doch die grossen waren harmlos. Die von der Grösse eines mittleren Hundes die am meisten Verbreiteten, die von der Grösse einer Ratte - in unseren Zeiten wahrhaft ein edles Tier - die gemeingefährlichsten, denn sie passten durch die offen zu haltenden Tuben hindurch, krochen in die Wohnungen und legten in schlafenden menschlichen Organismen ihre Eier ab. Die Wissenschaftsreligion dieser Zeit besagte, dass sie sich nur die Todgeweihten als Madenkrippen aussuchen würden, doch das war beim Pol nicht der Fall. Sie spritzten wahllos ihre Eier unter die Haut, mit ihnen gleichsam natürliche Analgetika, und die Menschen wurden im Schlaf von Maden zerfressen. Dieselbigen wurden von den Ernteteams abgeholt und später von anderen Menschen verspeist. Das war grausam, aber wann war die Menschheit schon nicht grausam, nein, das für mich Grausame war, wie sehr den Menschen ihr neues essen schmeckte, und so gut wie alle verspeisten sie lebend.

- Steak. Vom Kalb. Das esse ich als Erstes, wenn alles vorbei ist. Hörst du, Coldman?
- Wie kannst du ans Essen denken?
- Meine beiden anderen Grundbedürfnisse sind zufriedenstellend befriedigt. Essen, Coldman. Ein glücklicher Mensch denkt ans Essen. Wer an Sex und ans Überleben denkt, ist ein leidendes Wesen.



10




Ein letztes Mal noch an die schwüle Luft, bat ich meinen Gastgeber. Er gewährte mir eine Stunde, um mich auf meinen Mordanschlag vorzubereiten. Ich ging den - diesmal natürlichen - Strand auf und ab, wagte mich schliesslich in die Dunkelheit und liess mich von einem Trilobiten ins offene Meere tragen. Sein Rückenpanzer war von beachtlicher Grösse, doch das nutzte mir wenig, als er sich entschied, in die Tiefe zu tauchen. Weit ins offene Meer getragen, konnte ich nur noch ertrinken.

Es waren keine Fischer, die mir halfen. Es war ein Trilobit. Er schleppte mich auf eine überschaubare Insel, von der aus die Stadt gut zu sehen war - Gebäude bis zum Horizont, soweit das Auge reicht. Auf der anderen Seite der Indische Ozean. Das Schicksal meinte es gut mit mir. Vielleicht aber nur die Trilobiten. Ich fand Kokospalmen, brach Nüsse, pisste in den Dschungel und dacht nach. Ich bin hier, im Süden. Inii ist auf demselben Längengrad, aber im Norden. Der Breitengrad von Inii ist 89. Dort gibt es im Winter Schnee. Auf mich krochen Arthropoden zu: gigantische Tausendfüssler, alle in ihren prächtigen Chitinpanzern, so gefielen sie mir. Ich sah, dass sie hungrig waren, aber sie krochen an mir vorbei. Ein Tausendfüssler, hellbraun, fünf Meter lang, das Kopfglied wie ein Gymnastikball, nach Hinten die Breite etwas bescheidener, stolperte unbeholfen über meine Füsse. Ich klopfte ihm auf den Panzer, er sammelte sich und fand den ursprünglich genommenen Weg sogleich wieder. Ich sah wie am Strande der Stadt eine Schiesserei mit Hunderten von Toten stattfand; Boote steuerten auf mich zu, und ich liess mich festnehmen. Die Terrorzelle von Xhursin wurde an diesem Morgen neutralisiert.

- Wasser?
- Ja, gern.
- Oder Substanzsaft?
- Nein, Wasser.
- Aber Sie sind hungrig.
- Dann bringen Sie mir doch was zu essen.
- Wir haben ausser... nur Menschenfleisch.
- Frisch?
- Ja. Gerade geschlachtet.
- Wenn er schon tot ist, was solls, bringen Sie´s mir.
- Es.
- Was!?
- Es. Ein Kind. Ein Kleinkind.
- Warum sehen Sie mich so an? Wer hat es getötet, ich oder Sie?
- Hier, guten Appetit.
- Und da sind wirklich...
- Nein, keine Maden drin.



11




Die Laugh Police, der globale Geheimdienst, verhörte mich.

- Hat ihnen der Junge geschmeckt?
- Vortrefflich.
- Wissen Sie etwas, was wir auch wissen sollten?
- Die Sekten arbeiten zusammen.
- Das hilft uns nicht weiter.
- Über mehr Informationen verfüge ich nicht.
- Nein? Sehen Sie ins Terrarium dort drüben!
- Warten Sie... Lassen Sie mich überlegen... Es ist ein Anschlag geplant, in Xhigget.
- Wann? Und wo in Xhigget?
- Dort wo die... Kraftwerke sind.
- Sie lügen. Sehen sie nochmal ins Terrarium. Sind die nicht hellgrün? Ich wette die sind länger als Ihr Schwanz.
- Ich weiss nicht mehr, als ich Ihnen bereits gesagt habe, aber warten Sie, finden Sie das nicht komisch, die Trilobiten...
- Macht ihn los, gleich wird gefressen.
- Die Arthropoden, sie haben mich nicht angerührt! Hören Sie mir zu? Sie haben aufeinander Jagd gemacht, mich aber nicht angerührt!
- Das... Das glaube ich jetzt nicht. Verbrennt die Raupen und bringt den Mann ins Hauptquartier. Ja, nach Chichya, ihr habt richtig gehört.


Chichya, vormals nördliches Kanada, am Nordkap der Baffin-Insel. Eine mit vier Millionen Einwohnern sehr menschenleere Stadt. Und dort herrschen Temperaturen unter 30 Grad vor. Und ich bin wichtig, ich kann denen Bedingungen stellen. Ich will ein ungetubtes Zimmer mit einem frischen Bett, ich will bei der Postproduktion des Bettes, der Laken, der Decken, der Kissen dabei sein. Dass alles steril ist. "Die Maden sind steril, und das müssen sie sein, sonst würden sie im Kadaver von Bakterien zerfressen werden" sprach einst mein Lehrer.

- Wir sind da.
- Wo bringen Sie mich hin?
- Zu Doktor Bernstein.

- Überrascht?
- Allerdings. Sie Arbeiten für die Laugh Police? Wieso?
- Meine Tochter. Sie lebt. Und zwar in einer Unterwasserstadt in der Antarktis. Gehen Sie, ruhen Sie sich aus. Ich werde Sie morgen untersuchen.
- Wo ist mein Zimmer?
- Antarktis, mein Freund.

Antarktis. Wann ist die Antarktis geschmolzen... 2496. Mein Zimmer ist auf der anderen Seite des Korridors, neunzehn Stockwerke tiefer. Ich gehe jetzt schlafen.



12



Mich weckte ein Zischen, ein Arthropode war in meinem Zimmer. So gross wie ich, vielleicht noch grösser. Wie gelangte er rein? Was tat er da? Er hatte gerade Eier abgelegt, wohl in mir drin. Ich setzte mich vor dem Käfer hin und starrte ihn an. Dann riss ich ihm alle abreissbaren Teile aus dem Kopf, griff durch die Löcher tief in die Innereien hinein und machte ihn tot. Ein Ärzteteam begleitete mich in die Duschkabine - eine Dusche so gross wie eine Sporthalle, doch mir war nicht danach zu fragen. Ich stand nackt da und liess das warme Wasser über meinen Körper fliessen, während die Maden, dadurch wohl angeregt, unter meiner Haut schlüpften. Sie zerfrrassen mich nicht, mein Körper schied sie durch die Haut aus.

- Ein Experiment. Tut mir Leid, wenn es unangenehm für Sie war.
- Ich werde Sie töten, Bernstein.
- Ich habe gelogen. Ich bin nicht Bernstein. Ich bin sein Klon. Mein Name ist Kinner.
- Ich werde Sie töten, Kinner.
- Wollen Sie denn nicht wissen, was mit ihrem Körper passiert ist? Der Arthropode hat unter Ihrer Haut Eier abgelegt, aber Sie wurden nicht gefressen. Warum?
- Was weiss ich, ich bin jedenfalls infiziert.
- Das sind Sie. Aber Ihre Knochen lösen sich nicht auf. Ihr Körper ist menschlich geblieben.
- Wäre mein Körper menschlich, wäre ich nicht mehr am Leben. Wissen Sie denn etwas?
- Nein, aber ich schlage vor, wir führen weitere Experimente durch.
- Warum sind die Duschkabinen so gross?
- Das sind keine Duschkabinen.

Kinner begleitete mich auf ein anderes Zimmer. Ich bekam Protein- und Glukoseriegel und eine Kiste Mineralwasser. Unterhaltungselektronik war nicht im Zimmer, nur ein altes Buch. Ich vertiefte mich in die Geschichte so sehr, dass ich nicht merkte, wie aus den Lichtlöchern in der Decke faustgrosse Käfer auf den Boden sprangen. Erst ein Biss in den Arm schreckte mich auf.

- Sie sind hochgiftig. Aber Ihnen ist nicht passiert.
- Die Trilobiten sind vor 250 Millionen Jahren ausgestorben. Wo kommen sie auf einmal wieder her?
- Aus Laboratorien. Was für ein Buch haben Sie da?
- Erdgeschichte.
- Das Werk ist von 2240, es ist überholt.
- Also nicht aus Laboratorien?
- Nein, sie haben sich immer weiter entwickelt.
- Zu was?
- Zu den Trilobiten, die heute in den Meeren schwimmen. Noch ein Experiment?
- Injizieren Sie mir das was Sie mir injizieren wollen, aber hier und mit einer Spritze.
- Gern. Hormone von Neumenschen. Aber ich ahne bereits, dass Ihr Körper sie wie Alkohol ausscheidet. Ihr Immunsystem ist nicht menschlich...



Resultat



Für einen Moment zweifelte ich, ob es Inii überhaupt gab, aber es gab Inii. Steinman wartete dort auf mich. Mein Rücken war auf einmal so steif, die Rippen schienen dicker geworden zu sein. Ich konnte noch nicht ahnen, was mit meiner Haut passieren wird. Kinner setzte mich in ein Flugzeug nach Djed, gegen die Vorschriften, aber mit Überzeugung, oder, besser beobachtet, wie ein Automat, wie ein Roboter, denn ich durfte unter keinen Umständen entkommen, schon gar nicht in das einzige freie Land der Welt. Kinner wurde zu Tode gefoltert; er wunderte sich selbst, wie er tat, er konnte es schon nach zwanzig Minuten nicht mehr nachvollziehen. Im Flugzeug neben mir sass ein Mann, der mich genau beobachtete, bis er das Wort ergriff.

- Sie sind nicht einzigartig, mein Freund.
- Nicht? Wie viele gibt es von mir?
- Milliarden. Billionen. Schwer zu sagen.
- Wo werden Menschen zu sowas wie ich umgewandelt? Wozu? Was soll aus mir werden?
- Sie wissen es, bleiben Sie ruhig. Die Maschine wird übrigens abstürzen. Sie werden den Fall ins offene Meer überleben.

Und so geschah es. Ich schwamm an einen Strand, legte mich in eine Höhle, überall Stein und Fels. Und die, die wie ich waren. Sie lagen dort und warteten auf ihre Umwandlung. Ich war hingegen infiziert, darum konnte ich wohl die ganze Zeit laufen. Jetzt nicht mehr. Wird mich Steinman erkennen? Werde ich Xilincias Gesicht sehen? In meinem schweren Chitinpanzer schwamm ich wieder ins Meer. Ich kann nicht sagen, wie ich aussah. Aber Steinman erkannte mich, als ich vier Jahre später an den Strand von Inii angeschwemmt wurde. Er setzte sich auf mein Rückenpanzer und sprach: "Das Land der Freiheit, dachtest du. Ich dachte es auch. Es ist euer Bauernhof, mein Freund. Ihr haltet hier Menschen, um sie zu essen. Und ihr seid weiter entwickelt als wir. Ihr könnt Gedanken manipulieren. Und willst du wissen, der du einmal Coldman warst, mein einziger Freund, warum es diese Bevölkerungsexplosion in der Mitte des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts wirklich gab? Ihr habt uns genetisch verändert. Frag nicht wie, wir Menschen haben keine Ahnung von eurer Technologie. Aber ich weiss, wieso. Weil wir so gut schmecken. Weil wir so schreien, wenn wir lebend verspeist werden. Arthropoden schreien nicht... Weisst du, ich dachte, die Menschheit würde aus dem Weltraum erobert werden. Aber ihr wart die ganze Zeit da, habt nur gewartet. Und nun haltet ihr uns wie Vieh, und wir denken, all die Entbehrungen, die Enge, die Hitze, der Ekel wären Folgen unseres menschlichen Handelns. Die Überbevölkerung. Es hätte nie auf natürliche Art mehr als 25 Milliarden Menschen auf der Welt geben können. Es hätte Kriege gegeben. Wir hätten aufgehört, Kinder zu kriegen...". Ich schwamm davon, wollte ihm nicht mehr zuhören. Aus der Ferne sah ich Xilincia, sie war schön. Sie zog sich bis auf Minirock und Bikini aus und schwamm ins Meer. Ich schwamm zurück und holte sie mir, bevor andere Trilobiten mir zuvorkommen konnten. Sie litt sehr lange und schmeckte sehr gut, vielleicht deshalb.



12.2009