Samstag, 23. März 2013

Der Brief




Ich hörte, als ich noch zur Schule ging, eine Geschichte, die während meiner Schulzeit an meiner Schule stattgefunden hatte, und von der ich, während sie sich ereignete, nichts mitbekam, und die ich, nachdem sie sich ereignete, nicht glauben konnte. Solche menschlich-unmenschlichen Abgünde gibt es, dachte ich, höchstens in skandinavischen Kinofilmen, und der tiefste Abgrund, in den ich zu jener Zeit geschaut hatte, war, dass eine Mitschülerin öffentlich herumposaunte, dass ich noch nie mit einer Frau geschlafen habe, und ich war immerhin 18, das war also eine große Schande, - doch anstatt im Boden zu versinken, fragte ich sie, was das sollte, und sie gab zu, es von jemandem erfahren zu haben, der eigentlich darüber nicht hätte reden dürfen, und es rumerzählt zu haben, um meinen Ruf zu schädigen, weil ich ihr unnahbar und unangreifbar erschien. Sie meinte es gar nicht böse mit mir, sie wollte einfach nicht länger ertragen, dass sie Luft für mich war, und ich war nunmal seit langer Zeit in ein anderes Mädchen heimlich und unerschütterlich verknallt. Sie wollte auch nichts von mir, aber sie wollte, dass ich etwas von ihr wollte, oder mich jedenfalls bedürftiger, abhängiger, manipulierbarer machen, denn diese Leute, denen alles am Arsch vorbei geht, diese Leute mit sozialem Tunnelblick und einem festen oder aber gar nicht vorhandenen Ziel, gehen in diesem Alter nunmal so gut wie allen auf den Sack, denn man ist in diesem Alter gewöhnlicherweise extrem unsicher.

Der freundliche und beneidenswert witzige Leon, der in einer Parallelklasse war, hatte dasselbe nennen wir es ruhig Problem wie ich, und dazu noch eine Behinderung, die nicht offenschtlich war, aber sie war bekannt. Ich sah ihn oft mit dieser Hanna, eine Klasse unter mir, ein wenig hübsch, ziemlich eingebildet, und mit Leon befreundet. Leon hatte großes Mitgefühl mit allen und immer ein offenes Ohr. Hanna sagte ihm, er würde sie als einziger Mensch auf der Welt verstehen, und er fühlte sich ein großes Stück für sie verantwortlich. Er, die 18-jährige Jungfrau, mochte wohl ihre kindliche und unvoreingenommene Art, sonst mied er eher die Mädchen. Eines Tages bekam Hanna einen anonymen Liebesbrief, und jemand flüsterte ihr zu, der Brief wäre von Leon. Man sagte mir, dass Leon, als man ihn darauf ansprach, nur lachte, und sofort Hanna aufsuchte, aber sie hatte plötzlich keine Zeit für ihn. Leon ging davon aus, dass er Hanna nur die Wahrheit sagten musste, nämlich dass er diesen Brief nicht geschrieben hatte, aber dazu bot sich ihm in den folgenden Tagen keine Gegelenheit mehr. Schließlich ging er auf Distanz zu Hanna, weil es auf einmal aussah, als würde er ihr nachstellen; unverschuldet befand er sich nun in einer sehr erniedrigenden Situation, aus der er keinen Ausweg wusste. Er schrieb Hanna einen Brief, in dem stand, dass er den Liebesbrief nicht geschrieben habe, aber von da an würdigte ihn Hanna keines Blickes mehr. Und so waren sie nicht mehr Freunde, nein, das war jetzt undenkbar. Schließlich fand Hanna, obwohl sie unbegreiflicherweise niemals wirklich an der Wahrheit interessiert war, durch einen Zufall heraus, dass der Brief ein dummer Streich eines Jungen aus ihrer Klasse war, - der Junge hatte sich überhaupt nichts dabei gedacht, es war seinerseits nur ein Scherz. Ein ziemlich harmloser Scherz, der sich gleich am ersten Tag in einer heiteren Runde gemeinsamen Lachens hätte auflösen können, ja eigentlich müssen.

Als ich von der Geschichte erfuhr, dachte ich wieder an diese Mitschülerin, die mich nicht leiden konnte, und aus Frust etwas über mich rumerzählt hatte, was sie gar nicht so meinte. Ich fand es trotzdem hinterfotzig von ihr, bis ich eben Leons Geschichte hörte. Hanna hätte nie etwas Gemeines zu Leon gesagt oder über Leon erzählt, sie war stets nett, höflich, ein durchaus liebenswerter Mensch. Nein, sie hätte niemals gesagt, dass sie Leon für minderwertig hielt, und Leon hätte es auch niemals erfahren, hätte es diesen Streich mit dem Brief nicht gegeben. Es gab da diesen einen Kerl aus dem Abschlussjahrgang, der auf einer Party jemandem Drogen ins Bier getan hat, und sie anschließend vergewaltigt, - ihm konnte nichts nachgewiesen werden, aber er wurde bis zum Schulabschluss wie ein Aussätziger gemieden. Er hat jemanden vergewaltigt. Und Leon hat diesen Brief nicht geschrieben. Neulich sah ich Hanna weinen, sie saß allein da, und warf mit hilflosen Blicken um sich. Auch Leon kam nie wieder gut gelaunt zur Schule.



3.2013