1. Thrinaxodon
Wenn ich Hunger habe, denke ich immer an dich, mein Thrinaxodon, und entscheide mich für Magersucht. Mein Perm neigt sich dem Ende, es ist fast schon Trias. Bald sterbe ich aus, die Rutiodon werden meinen Platz übernehmen. Diese Viecher sind nicht zimperlich: Fleisch ist für sie immer nur Fleisch, ob auf dem Teller oder im Bett. Doch du, mein Thrinaxodon, bist bei Frauen nicht gerade beliebt. Sie meiden dich, können dich nicht riechen. Sie fürchten sich, von anderen Frauen mit dir zusammen gesehen zu werden. Werde erstmal 16, lass dir Zeit. Junge, du hast noch nie ein Mädchen gesehen: immer nur Frauen, 15-jährige, 13-jährige, 11-jährige Frauen. Die Pubertät beginnt immer früher, die Rutiodon werden immer fetter. Ich bin ein einsamer halb verhungerter Gorgonopsid, aber ich zerfleische sie schon, wenn sie dir zu nahe kommen.
Der Trend geht zum Kriechen hin, und habe meine Beine nicht seitlich am Körper. Doch glaub mir, es werden ganz andere Viecher kommen. Lach mich aus, aber ich glaube, dass sich ein Tier auf zwei Beinen bewegen kann. Nennen wir sie Euparkeria: ihnen gehört die Zukunft. Nein, mein Thrinaxodon, das sind keine Reptilien. Wir Gorgonopsia erzählen uns gern Geschichten aus dem Carbon: ein 27-jähriges Mädchen hat es mal gegeben. So zart und bleich, jedes Haar an ihr war glaubwürdig. Sie hatte verdammt lange Haare, und wog Magersucht plus ein Unendlichstel. Sie ernährte sich von Licht und Schatten, nicht von Fleisch wie wir. Aber du bist kein richtiger Carnivore, mein Thrinaxodon, du küsst ja nur. Ich könnte richtig hinlangen, das liegt in meiner Natur. Aber ich hungere und bewundere diese Mädchenbilder, die du mir malst. Du bist auch verglichen mit einem Mädchen ein schöner Junge, und du malst, dichtest, musizierst, tanzt, bist Klassenbester in allen Fächern, und fürchtest dich sogar vor Libellen. Im Carbon hätte dich keiner dafür ausgelacht, aber in unserer Zeit schlagen in Tel Aviv wieder Raketen ein. Das 27-jährige Mädchen, so unschuldig und rein, arbeitete damals an einer todsicheren Verteidigung aller existierenden und noch kommenden Unschuld. Sie war talentierte Physikerin, und hätte eine neue Generation von Atomwaffen erschaffen können. Sie musste nicht leiden, als sie starb: der Asteroid, der ihre Stadt in einem 35-Grad-Winkel traf, war mit einem Bein noch in der Stratosphäre, als er den Boden berührte.
Haut verlangt nach Haut, das ist ihr weiches Schicksal, das so hart sein kann. Deine Nachkommen werden noch besser sein, als diese Euparkeria. Deine Kopfgeburten werden die Welt auf den Kopf stellen. Ich werde auch weiterhin nichts essen, denn so reiße ich nur ein Stück raus, und lasse den ganzen Kadaver liegen. Ich beiße zu und schlucke runter, zum Kauen fehlt mir der angeborene Sadismus. Ich bin ein einfacher ehrlicher Mörder, kein Tierquäler. Ich bin alte Schule, tiefes Mittelalter, meine Essgewohnheiten sind in dieser Zeit fast so lächerlich wie meine moralischen Prinzipien. Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen. Du, mein Thrinaxodon, musst dich nur sicher vor Ruß, Feuer und Lava verstecken. Warte ab, bis Weiß wieder Weiß ist, genauer gesagt, bis Weiß, das immer Weiß ist, und immer Weiß war und sein wird, wieder Weiß genannt wird. Es gab eine präkambrische Zeit, da war die ganze Erde ein einziger Schneeball. Manchmal wünsche ich mir diese alten Zeiten zurück. Manchmal will ich alle Prinzipien vergessen und endlich essen, aber dann kaufe ich mir doch wieder nur ein Eis.
2. Tiktaalik
Kennst du diesen kalten Schlamm, der nach Feigen riecht? Er wird wärmer, wenn du bis zu den Knien versinkst. Ich rauche, trinke, fluche noch auf, und komme hinab zu dir.
Du warst nie ein artiges Mädchen: du warst ein großartiges Mädchen. Du tatest keiner Fliege was, und führtest dich dennoch wie ein Elefant auf. Mit deinem Rüssel warfst du mit Haut nach Messern. Sie konnten tief schneiden, gar die Klingen brechen: wo hattest du nur all diese Häute her? Ihre Brüste so weiß, ihre Brustwarzen so rosa. Und du lässt sie da einfach sterben. Hohe Gräser wachsen über sie, und ich denke, was uns Savannah wohl in "Art of Desire" sagen wollte? Dass Gewalt nicht immer Verbrechen ist, und Verbrechen nicht immer Gewalt? Kein Galgen hinter dem Haus, keine Konsequenz für seine einvernehmliche, behutsame Unzucht. Und sie war eine Künstlerin, sie malte Lesben in neblige Phantasien. Die andere Seite des Pinsels passte prima wo rein.
Zwei Todesarten können wir am lebendigen Leib erfahren, und die erste, die edle, wollte ich mit dir teilen. Diese Unendlichkeit der Schönheit ist nicht auszuhalten: wenn ich etwas in meiner Hand halte, und es sich wie deine Hand anfühlt, und in drei Sekunden immer noch, und in fünzehn Minuten immer noch, dann versäume ich es, in deinen Blick zu blicken, der in drei Sekunden und in fünfzehn Minuten immer noch wie dein Blick aussieht. Darum wurde uns der Schlaf geschenkt. Wie an einer Asymptote können wir uns am Tod entlangschmiegen, und deine Hand liegt in meiner, und wir beide in Pyjamas unter zwei Decken; dein Kissen riecht nach Pfirsichen, meins nach Pflaumen. Die zweite Todesart wäre die Selbstzerstörung, ein langes Wort, das in schnellebigen Zeiten mit Sex abgekürzt wird.
Du nanntest mir den Namen eines Mädchens, das noch Kind war, und sobald es dir um den Hals fiel, konntest du dir nicht mehr vorstellen, wie es ist, dieses zierliche Kind eines Tages, einer Stunde, einer Minute nicht mehr festzuhalten. Vielleicht bringt dir ein Fluss dieses Mädchen zurück, denn sein Wasser ist Schlaf ohne Träume, und Tote träumen nicht. Menschen sagen deinen Namen, grübeln und rätseln über ihn, vielleicht kommt er ihnen bekannt vor, weil irgendwo abgeguckt und schlecht nachgemacht. Sag ihnen, wo die Leichen sind. In ländlichen Gegenden verwaisen die Bahnhöfe, und Metall wird gestohlen. Plötzlich sind all diese Leichen wieder so frisch wie vor gar nicht so geraumer Zeit, als du mit Kugelschreibern nach Mädchen warfst. Deine Kugeln trafen.
Und du bist doch nicht dieses Mädchen, denn der Spiegel wirft nichts zurück. Nein, sie ist nicht dieses Mädchen, aber du schon, denn du stehst wie immer hinter dem Spiegel. Du weißt genau, warum ich an deinem Hügel vorbeiging, als noch Winde wehten. Ohne Wind kann ich nicht abheben. Fliegen ist eine Sucht, und nur die Sehnsucht nach dir ist noch stärker, nur du fehlst mir mehr, als die kalten Lüfte. Sie werden über dich herfallen, wenn du eine von diesen Leichen geworden bist. Sie werden dich sezieren und interpretieren, doch sie werden chronostratigraphisch weit daneben liegen.
3. Gorgonopsid
Der Drache atmet, die Welten entstehen. Er pustet, die Akkretionsscheiben drehen sich. Später bewegen sich Planeten, Sonnen, Monde und diese aberwitzigen Leuchtraketen mit abertausendkilomenterlangem Schweif. Jeder Mord ist ein Selbstmord - das weiß der Drache: bevor er das Feuer ausatmet, atmet er sein Herz ein. Der Kern implodiert, woraufhin der Stern explodiert. Jede Geburt ist ein Mord, dem ein Selbstmord vorangeht.
Ich war schnell und gnadenlos, aus meinem Maul glänzten die ersten Säbelzähne der Welt hervor. Ich konnte reißen, aber nicht zerfleischen, und es gab einfach keine Schokobons zu meiner Zeit. Wer warst du, dunkelblaugraues Lächeln? Warst du ein Cynognathus? Unmöglich, denn die kamen viel später. Vielleicht ein Thrinaxodon? Jedenfalls etwas Kleines, das überlebt hat. Es war höllisch heiß, die Luft war pures Gift, die Ozeane kippten um, und primitive Reptilien, Kaltbülter, nutzten all die Schwächen aus, zu welchen meine einstigen Stärken wurden.
Du weißt ja, ich komme aus Sibirien, direkt über diesen Trapps verbrachte ich meine Kindheit. Es war eine triste, permische Kindheit, ganz ohne Zierkatzen oder Leptictidien. So dachte ich mir alle möglichen Schneefeen aus, deren Zauberei darin bestand, das Leben sinnvoll erscheinen zu lassen. Dich kannte ich nicht, doch du warst immer bei mir: als Asymptote. Auch heute kommt nichts an dich heran, - hast du mich darum vernichtet, damit ich dieses Nichts sein kann? Ja, jetzt bin ich bei dir, und wir sehen von endlosen Gletschern auf die Welt herab. Von hier aus ist die Raumzeit so gekrümmt, dass uns alle Zeitalter zugleich gegenwärtig sind.
Bernsteinfarben kann der Whisky sein oder rot wie ein Rubin, doch nichts macht mich so betrunken wie dieses dunkle kastanienfarbene Zeug - allein beim Hinsehen. Nichts schmeckt aber wie dieses Konzentrat aus all den Schatten, die du jemals warfst. Es gibt so viele Eisplanten im Weltall, wir sollten unbedingt hin. Von einer gigantischen Gletscherzunge tropfen Sintfluten, bis großes Leid aus Kulturen Zivilisationen entstehen lässt. Heldentum, Moral, freier Wille: Errungenschaften des Wartens, das zur Verzweiflung wurde, zur Religion erwuchs, und in Gravitation kulminierte. Der Rand des Universums ist der Ereignishorizont, und in der Mitte ist das Loch, in welches alle Fragen unbeantwortet fallen.
Auch die beschleunigte Expansion zerreißt schließlich alle Materie, sogar den Raum, die Zeit, so dass es im Grunde egal ist, ob man aufeinander zugeht, bis es schmerzt, oder sich unendlich lange vermisst und durch Sehnsucht immer weiter voneinander entfernt. Zirkusaffen äffen dich nach, und ich sehe ihre Schatten, und sehe dich darin, die Idee, das sonnige eisig frische Draußen. Ich bin der letzte Gorgonopsid, der sich vor den Supervulkanen in einem gewaltigen unterirdischen Höhlensystem gerettet hat. Ja, ich lebe noch, doch ich sehe kein Leben: ich sehe Fledermäuse, Schaben, Monster, - ich will hier raus, doch es ist ein Labyrith. Wartet am Ausgang nur ein Minotaurus oder vielmehr ein Minotaurasaurus? Ich fürchte nicht, durch ein noch größeres Tier umzukommen. Ich fürchte, dass meine Augen zu lange in der Dunkelheit waren, - und wenn ich dich nicht sehen kann, Schneeflockenmädchen, dann ist mir keine Finsternis dunkel genug.
Schönheit ist nur ein Symbol: des Guten, der Vollkommenheit? Mag sein, doch hier stehe ich, erhaben, und Erhabenheit ist auch ein Symbol: des Großen, des Vollkommenen. Und dennoch bin da, nicht nur abstrakt. Hieraus schließe ich, dass auch du da bist, kein bloßer Schein, keine Mirage. Sei eine Katze, ein Blatt, ein Eichhörnchen, eine Wolke, ein Komet, ein Mond, eine Sonne, ein Quasar, ein Pulsar, doch sei kein Mädchen, das nicht verdient hat, du zu sein. Begegne mir nie in einer menschlichen Gestalt, berühre mich nicht, zeig mir nicht dein Lachen, lass mich nie in deine Augen blicken, wenn du nur als Geisel von sadistischen Mördern und Psychopathen existieren könntest. Begeistere mich nicht, lass mein Herz kalt, lass meine Sinne verkümmern. Töte mich durch deine Nichtexistenz, und ich kann mich nicht glücklicher schätzen. Was sind wir? Wellenreiter auf pyroklastischen Strömen, Pollen, fortgespült vom Sonnenwind? Hier auf Erden tarne ich mich als ein unscheinbares menschliches Wesen, und du dich äußerlich als etwas, das mein Herz höher schlagen lässt, und innerlich als das was mein Herz überhaupt schlagen lässt.
11.2012