"Ist nach uns noch eine Gruppe dran?" fragte der bärtige Türke, bevor er die Tür abschloss. Die Reinigungskraft verneinte mit den Worten: "Die anonymen Alkoholiker wollen, dass nach euch geputzt wird". Im Stuhlkreis saßen zehn Leute, alles Männer zwischen 30 und 60. Der Start in die Gesprächsrunde war, wie immer, verhalten, keiner traute sich. "Hat sich jemand von euch bei "Kein Täter werden" angemeldet?" fragte Eugen, der dürre Informatiker aus Russland. Mehmet, der jüngste in der Gruppe, wollte wissen, ob man denn geheilt werden würde, wenn man teilnähme. "Pädophilie ist nicht heilbar", sagte Eric, der gut aussehende Blogger aus den USA, und wurde sogleich melancholisch: "Würde ich doch bloß auf Frauen stehen... Viele meiner Freunde sind Incels, sie verzehren sich nach einer Frau, waren aber noch nie mit einer zusammen, und gehen auf die 40 zu. Ich werde in jeder Bar sofort von hübschesten Frauen angesprochen, wir tanzen, wir unterhalten uns, und am Ende muss ich eine Ausrede erfinden, warum ich keine Beziehung oder keinen Sex will". "Was ist denn deine Ausrede?" wollte Mehmet wissen, der bei Frauen ebenfalls ziemlich beliebt war. "Ich kann nicht immer sagen, ich wäre verheiratet, - die sagen, warum bist du dann hier, und warum ist deine Frau nie dabei; ich erfinde traurige Geschichten, dass meine Frau angeblich vor Kurzem an Krebs gestorben ist, dann haben sie schon Verständnis". Leon, gebürtiger Berliner, immer steif wie ein Brett, hatte diesmal vorgetrunken und nahm am Gespräch teil: "Sitzen denn hier welche Täter?" Keiner meldete sich. "Nun, jeder von uns hat wahrscheinlich grenzwertige Bilder gesehen", sprach der älteste in der Runde, ein alter Wessi, der nach dem Mauerfall nach Berlin gezogen war, "und jeder hat schon auf illegalen Websites Fotos und Videos getauscht". Es stellte sich heraus, dass nicht jeder, sondern nur er. "Ach, was die Grünen noch vor 30 Jahren forderten, war doch sehr mutig. Kinder haben auch eine Sexualität, und ohne Gewalt..." "Sex mit Kindern ist Gewalt!" unterbrach ihn ein schüchterner Mann mit Hornbrille, der als Kind jahrelang von beiden Eltern missbraucht worden war. Mehmet vergoss eine Träne und verbarg sein Gesicht. Er murmelte, bevor er zum Fenster ging: "Ich will nicht auf Kinder stehen. Warum gibt es keine Heilung?" Leon stimmte ein: "Ich fühle mich wie ein Stück Scheiße, jeden Tag. Was kann ich denn dafür, dass ich so bin, habe ich mir das ausgesucht?" "Niemand sucht sich seine sexuelle Neigung aus, aber jeder ist dafür verantwortlich, was er tut", sagte ein neuberliner Schwabe, wonach er zugab, bei "Kein Täter werden" doch mitgemacht zu haben. Eric lehnte sich zurück. "Wisst ihr, was mich ankotzt", sprach er mit seinem lustigen amerikanischen Akzent, "dass jeder gleich denkt, man wäre Kinderschänder. Ist jeder Mann, der auf Frauen steht, gleich ein Vergewaltiger?" "Viele Frauen denken das", schmunzelte Eugen. "Und haben Recht", unterbrach ihn der altlinke Feminist, dem man die Verbitterung ansah, dass er der einzige in der Runde war, der etwas Illegales im Zusammenhang mit seiner pädophilen Neigung getan hatte.
Während der Kaffeepause stürmte eine andere Selbsthilfegruppe in den Raum, es waren acht Männer und vier Frauen, die an seltenen Phobien litten. Ein kleines Männergrüppchen stellte sich an den Tisch mit den Getränken und sprach laut über verschiedene Geschmacksrichtungen bei Rum, Cognac und Whisky. "Könnt ihr bitte leiser reden?" fragte Eugen, worauf die Antwort war: "Da läuft dir das Wasser im Mund zusammen, was, du alter Alki!" "Seid ihr nach uns dran?" fragte Mehmet, und erzählte einen Alkoholikerwitz. Die Männer lobten seine selbstironische Haltung, - und fünf Minuten normaler menschlicher Unterhaltung, ohne sich wie Abschaum zu fühlen, war ihm vergönnt. Dann kam eine der Frauen aus der Angst-Selbsthilfegruppe hinzu, und fragte mit einer Miene der Verachtung: "Wisst ihr, was das für Leute sind?" Die Männer zuckten aufgrund ihres Gesichtsausdrucks zusammen, hörten auf zu lachen, und starrten sie fragend an. "Das sind Pädophile" sagte sie, und der Raum füllte sich mit gespannter Stille. Bilcke, die mehr als jedes Wort, jede Beschimpfung und Hasstirade ausdrücken konnten, glitten durch den Raum, wonach sich die Angst-Selbsthilfegruppe richtung Tür bewegte. Kurz vor dem Ausgang konnten sich einige ihre menschenverachtenden Kommentare nicht vernkneifen, einige drehten sich um und spuckten. Eric stand auf und ging mit festem Schritt zur Tür: "Kommt bitte alle zurück". Er strahlte auf natürliche Art Macht und Autorität aus, so dass die Zwölf seiner Aufforderung nachkamen und sich auf die Stühle setzten. "Einer von uns, ich sage nicht wer, hat Kinderpornos im Internet angesehen und mit anderen getauscht. Mehr Abschaum ist nicht, tut mir leid. Keiner der anderen hat jemals ein Kind angefasst oder Missbrauchsvideos angeschaut. Hier sind zehn Menschen, die an ihrer Sexualpräferenz genauso leiden, wie ihr an euren Phobien". Es gab ein Raunen, ungläubige Blicke, und schließlich abfällige Bemerkungen. "Wir sind keine Monster", sagte Eric, und wollte die Unterredung beenden, als der Mann mit der Hornbrille ausrief: "Ich wurde selbst als Kind missbraucht, jahrelang! Und bin ich jetzt ein Täter? Nein!" "Glaube ich nicht", murmelte einer. Eine junge Frau mit maskulinen Zügen sagte: "Aber ihr habt diese Phantasien, in denen ihr Sex mit Kindern habt, darum seid ihr alle abartig". Mehmet wurde fast handgreiflich, doch Eugen hielt ihn zurück. "Meinungsfreiheit", murmelte er mit russischem Akzent. "Hört es euch einfach an", empfahl Eric seinen Leidensgenossen, "wir können dann über Vorurteile reden". Es wurde weiterer verbaler Dreck vergossen, und die Pädophilen schwiegen mit gesenkten Häuptern, denn das, was über sie gesagt wurde, stimmte größtenteils mit dem überein, was sie über sich selbst dachten und empfanden. "Wir werden pünktlich Schluss machen, damit die anderen den Raum nutzen können", sagte der für die Organisation der Treffen Verantwortliche, der in den Gesprächsrunden nie etwas sagte, und die Selbsthilfegruppe nur organisiert hatte, um Menschen zuzuhören, denen es genauso erging wie ihm. Die andere Gruppe stand auf, und es wäre nichts passiert, wenn einer aus ihren Reihen dem Mann mit der Hornbrille nicht zugeflüstert hätte, als er an diesem vorbeiging: "Es geschah dir recht, du Opfer".
Eric hörte es, packte den Flüsterer am Nacken, und setzte ihn auf einen Stuhl. Er forderte die Angst-Selbsthilfegruppe auf, sich wieder zu setzen. Als sie sich hingesetzt hatten, ließ er den Mann los und stellte sich in die Mitte: "Wir haben euch zugehört und unsere Lektion gelernt. Jetzt lernt ihr eure Lektion": Er nahm ein Glas Wasser, trank etwas, und zeigte dann gewollt unhöflich mit dem Zeigefinger auf einen älteren Herrn: "Albert Dunkelmüller, geboren 1936 in Hamburg. Verurteilter Vergewaltiger". "Woher weiß er das?" erschrak dieser, doch Eric zeigte gleich auf den Nächsten: "Egidius Uhrwerk, geboren 1948 in Dresden, zweifacher Mörder". Panische Blicke gingen durch den Sitzkreis, doch Eric ging im Uhrzeigersinn einfach weiter: "Ursula Donnerflamm, geboren 1943 in Breslau. Misshandelte auf grausame Weise ihre Kinder, ihre älteste Tochter brachte sich mit 16 Jahren um". Vor Fassungslosigkeit konnte keiner aufstehen, und die sprichwörtliche Hand Gottes bewegte sich weiter: "Mandy Durstighahn, geboren 1992 in Rostock. Drogendealerin. Ein Kunde ihrer Freundin starb an gestrecktem Heroin, Mandy hatte bisher Glück, doch für mich ist auch sie eine Mörderin, was natürlich Ansichtssache ist. Tatsache ist, dass sie genau denselben Stoff vertickt hat. Nach einer Razzia im Haus des Zwischenhändlers wurde das Heroin vernichtet". "Aufhören!" schrie die Frau, mit ihrem verachtungsvollen Blick den Stein ins Rollen gebracht hatte, und auf die sich nun Erics ausgestreckter Zeigefinger bedrohlich zubewegte. "Gut, ich kürze es ab. Drei von euch haben Kinder sexuell missbraucht, sie sind alle nicht pädophil. Warum sie es getan haben, wissen sie selbst wohl am besten. Eines der Kinder war ein Kleinkind und starb an den Folgen analer Penetration". Mehrere mussten kotzen. Ungläubig fragte der Organisator der Pädophilen-Selbsthilfegruppe den amerikanischen Blogger: "Du, das war nur Show, oder?" Egidius Uhrwerk stimmte sofort darauf ein: "Gut, jetzt haben Sie uns gezeigt, dass es nicht die Neigung ist, die einen Menschen zum Monster macht, sondern seine abscheulichen Taten. Wir bedanken uns für die Lektion, das war sehr aufschlussreich". "So ein Quatsch!" rief Mandy Durstighahn, und verließ fluchtartig den Raum. Die Gruppen trennten sich, weitere Gespräche erübrigten sich für die Pädophilen-Selbsthilfegruppe. Sie bedankten sich bei Eric und gingen nach Hause. Als Eric in den Bus einstieg, holte ihn Eugen ein und setzte sich zu ihm: "Das hast du dir schön ausgedacht, das hat sie schwer beeindruckt, aber... wären diese Leute so schockiert gewesen, wenn alles erfunden wäre?" "Eugen Krafthengst, geboren 1979 in Kemerovo. Vater starb 1982 im Arbeitslager in Magadan, Mutter deutscher Abstammung heiratete 1985 einen Dissidenten und floh mit ihren drei Kindern nach einem DDR-Aufenthalt nach Westberlin..." "Bist du Spion?" "Ich arbeite für einen amerikanischen Geheimdienst", sagte Eric, "...habe in den örtlichen Selbsthilfegruppen nach zwei Verschwörern gesucht, die eine amerikanische Einrichtung in die Luft jagen wollten. Einer war bei den Alkoholikern, der andere bei der Krebs-Selbsthilfegruppe. Jetzt sind beide in Guantanamo". "Rechtlos, wie Abschaum behandelt", murmelte Eugen, holte gedanklich zu einer Rede über rechtsstaatliche Prinzipien aus, doch wurde wieder still und seufzte.
9.2014