Dienstag, 12. Dezember 2017

Kürzstgeschichtchen 7





Flummi
 
Die nächste Generation geht mich nichts an. Ich werde nicht für Freuden aufkommen, die ich nicht genossen habe. Kein Sex, keine Kinder – keine Nachhaltigkeit. Aber ein Geländewagen. Und jede Woche um die Welt fliegen. Walfleisch soll angeblich lecker sein...


 Allein hier. Im Zimmer so hell wie in meinem Kopf. Ich werfe einen purpurnen Flummi gegen die Wand und er fliegt zu mir zurück. Andere ziehen Kinder gross. Weil es sie offenbar glücklich macht. Nein, das ist natürlich die Hölle. Sie tun was für die Menschheit, opfern ihr Leben für undankbare Bälger auf, damit das Menschengeschlecht weiter existiert. Und fühlen sich gut dabei. Also macht es sie glücklich. Und ich bin ganz glücklich hier mit meinem Flummi. Und es ist weder etwas Sexuelles noch ein Machtverhältnis – sprich ich bin weder Sünder noch Heuchler. 


 Eigentlich steht der Friedensnobelpreis denjenigen zu, die sich auf dem sexuellen Markt zurückhalten und damit mehr zum Frieden beitragen als jeder Slumheilige, Klimaprophet oder fundamentalistischer Terrorist. Ich werfe einen Flummi gegen die Wand, und mein Kollege muss sich ein kleines Stück weniger anstrengen, um die Frau, die er will, zu bekommen. Ich steh ihm ja nicht im Weg.Aber wozu Nobelpreis? Den würde ich ablehnen, selbst wenns der Eitelkeitsnobelpreis wäre. Soll ich dem Flummi einen Namen geben? Vielleicht „Narziss“. Hallo Narziss! - Hallo Nihiler! - Lust auf Action? - Ja, gerne! - Dann zeig mir was du kannst! Los! - Die Vase. Sie tut mir ja so leid. Noch mehr als die Malediven. Bald hab ich den Job. Und den Wagen. Und steigt der Meeresspiegel, wo werden aus manchen Innenregionen Strandparadiese. 


 Ich könnte es nicht verantworten, eine Katze zu haben. Ein lebendes Wesen, allein für mich. Von mir abhängig. Und ich, der gütige Gott, der mächtige Geiselnehmer, kann es bestrafen, belohnen, erziehen... Ich bin kein Sadist. Die Katze ist doch kein Mensch, der Katze kann man sowas nicht antun. Aber ich hätte so gern ein kleines Kätzchen. Das kleine Kätzchen wird in meinen Tagträumen seinen sicheren Platz haben. Der Flummi aber, der Flummi ist meine ganze Wirklichkeit. Seit fünf Stunden knallt er schon gegen die Wand und kehrt treu zu mir zurück. Und das Beste – ich habe keine Zeit und keine Lust mehr an Sex zu denken. Ich gehe in meiner Arbeit auf. Und bin dabei so locker wie mein Flummi. Ich will nicht hoch hinaus, ich will in den Tag hinein. Frieden statt Sex. Benzin statt Blut. Flummi statt Zukunft.
(Amen)
(Werde mir bloss noch zynisch, Narziss!)





Weihnachten


 Heiligabend. Am spießig gedeckten Tisch berichtet der Sohn, der Ältere, von seinem Studium, seinen Berufsaussichten. Wie ein Reporter tut er das, es kommt kein Anschein eines persönlichen Gesprächs auf. Nach zwei Minuten ist er auch schon fertig, dabei hatte er sich nicht allzuknapp gefasst, keine Blitzreportage. Die Tochter, die Jüngere, kam gerade aus einer fernen Stadt, man sieht ihr an, dass sie auch gleich wieder zurück will. Es folgt das obligatorische Schenken, gezwungenes Lächeln, herausgekotze Freude. Dann sitzt man am Tisch, die Großeltern sind noch dabei, und das Familienoberhaupt spricht die obligatorische Plattitüde aus. Wie gut es allen gehe, wie glücklich alle seien, und dass es in Zukunft so weiter gehen solle. Der Sohn bemerkt, so gut gehe es ihm gar nicht, feindselige Blicke, er fügt hinzu, erst das Studium abschließen, dann geht das Leben vielleicht los. Keiner hat sich viel zu sagen. Sieben Minuten nach dem Beginn der Zeremonie, läuft der Fernseher wieder, es wird um die Wette geseufzt, die Oma und der Junge nicht müde, nichtsbedeutende monotone Sprüche in die nun schon etwas dickere Luft loszulassen. "So ist das Leben" "Ja, so ist das Leben". "Ach ja, so ist das Leben" "So ist das Leben, ach ja nun ja". 


 Die nächste Runde Tee. Die Mutter geht im Einschenken des Getränks völlig auf. Mehr hätte man von ihr niemals erwarten sollen, insbesondere was das Emotionale angeht. Die Tochter hackt nach, fragt ihren Bruder, warum es ihm derzeit nicht gut gehe. Er konstatiert zunächst nur, dass es ihm nicht gut geht, die Oma ist sichtlich überrascht: "Aber was fehlt dir denn? Du hast zu essen und zu trinken, alles was deine Seele begehrt". "Ja, recht hat die Oma" sagt der Vater. "Man sollte nicht rumjammern, sich selbst nicht bemitleiden". "Interessant, es ausgerechnet von dir zu hören" weist der Sohn den Alkoholiker zurecht. Der Vater, mit dem Blick eines kampfbereiten Schimpansen: "Was hast du gesagt? Ich hab nicht verstanden". "Zu dumm oder was?" hackt der Sohn nach. Der Vater ist ausser sich, der Sohn lässt sich nicht einschüchtern, dabei wünscht er sich insgeheim einen Vater, der ihn vielleicht einschüchtern könnte, vor dem er Respekt hätte, so etwas wie Achtung, ach, sich nicht für seinen Vater zu schämen, wäre das schön. Gekränkt, geht er. Er wird eine bis zwei Wochen lang beleidigt sein, mit dem Sohn kein Wort wechseln. Die Tochter ist dann längst wieder weg.


 Der Opa erzählt. Er war im Kreml ein Ehrengast, er war mit Roosevelt befreundet, Adenauer hatte ihn stets um Rat gefragt. Die Oma hasst er wie die Pest. Sie sei an allem schuld, betont er immer wieder. Verzweifelt wendet sich die Tochter noch einmal an die Mutter: "Warum musste unsere Kindheit so sein?" "Wie denn?" fragt die Mutter. "Sie war doch schön. Wisst ihr noch, wie ihr gespielt habt, wie ihr rumgerannt seid?" Die Mutter geht in die Küche, amüsiert sich sichtlich beim Geschirrspülen. Die Tochter bleibt eine Weile allein am Tisch, weint leise, aber deutlich hörbar, wird ignoriert. 


 Ich bringe meine Schwester zum Bahnhof und sehe, wie ein junger Kerl etwa so alt wie ich mit einem völlig apathischen Gesichtsausdruck sich von seiner Schwester verabschiedet, ohne Emotionen, ohne warme Gesten. Meine Schwester hatte mich kurz besucht, für zwei Stunden, wir haben herzlich gelacht, ich habe sie gefangen und ausgekitzelt, wie früher. Und sie brachte mir endlich das mit der elfdimensionalen Raumzeit bei, nun bin ich meines Lebens froh. Der Zug fährt ab, meine Schwester fährt zu ihrer Freundin, Freundin, nicht bester Freundin, ich schlendere gedankenverloren einem jungen Mann hinterher. Was muss da passiert sein, denke ich mir, dass er so tot lebt. Und gerade Dankbarkeit empfinde ich nicht, ich empfinde es als normal, nach Glück streben zu dürfen, selbst im Erfolgsfall.





1999

- Nein, das ist nicht Kunst, was du da machst, das ist Hip Hop. Das ist selbstreferentiell ohne Selbst. Liegt über "California Love" eine Dissertation vor? Noch nicht? Das ist Expressionismus ohne Inhalt, die Selbstreferenz ist der Inhalt. Ich vermisse die Achtziger...

- Ich nicht. Die Neunziger waren besser. Eben selbstreferentiell. Das Bewusstsein des Bewusstseins ist das Selbstbewusstein und das Ich ist bekanntlich leer.

- Nur wenn der Skeptizismus das Kriterium der Bekanntlichkeit ist, je skeptischer umso bekanntlich bekannter. Die Kenntnis des allgemein Unbekannten ist auch in ungekannten Ausmaßen bekanntlich keine Garantie für irgendwas.

- Weiß das Irgendwas davon? Nimm "Seven Seconds" - ist das nicht die Vollendung der Vollendung in Perfektion?

- Nein, das ist die Vollendung der Entblößung in Perfektion. Das Geheimnis wird in den Neunzigern endgültig verraten. Hingegen "Shout", "Such a Shame", Sweet Dreams" - überall wird die Aussage selbst nicht in den Mund genommen. Sie ist nicht im Text. Sie ist zu erfühlen, nicht zu erhören.

- Die Siebziger waren noch besser?

- Ich kenne das Spiel, immer weiter nach Hinten. Einmal Retro, immer Retro, bis die Affen kommen. Die Siebziger waren eine Schande für die Sechziger.

- Und so die Achtziger für die Neunziger. Gut, nicht wirklich eine Schande. Aber unvollendet, wohin man sieht. Gelebte Existenz. Nichtsagen. Verschweigen. Sich verfühlen.

- Das Offenbare liegt dir?

- Das offenbarte Offenbare. Ich glaube nicht um zu wissen, ich weiß, dass was ich zu glauben weiß, wahr ist.

- Du weißt aber, dass was du zu wissen glaubst, nur Geglaubtes ist. Insofern es nicht das Absolute ist.

- Was denn sonst?

- Das ist banal. Bist du Akosmist?

- Willst du mich mit dem 17. Jahrhundert in Verbindung bringen? Die Welt als Maschine. Toll.

- Und du mich mit dem 18. Rückverzauberung. Aber guck, das ist in den Achtzigern nicht geschehen. Da wurde nichts rückverzaubert, da wurde der Zauber neu entdeckt.

- Geht zum Zauberer, wenn du Zaubertricks sehen willst. Ich bleibe schön selbstbewusst.

- Der Zauber ist kein Trick, der Zauberer bist doch du, indem du daraus einen Trick machst.

- Auf das Jahr 2000!

- Auf das Jahr 2000. Was kann es für Musik jetzt noch geben?

- Ach, bestimmt kommt jemand mit einem Lied namens "Bla Bla Bla" und das wird ein Riesenhit.

- Das glaube ich nicht.

- Wir werden sehen.




Dunkeleis


An einem frühen Sonntagmorgen stehe ich am überdachten Gleis eines großen leeren Bahnhofs, und jeder Atemzug ist ein Fest der Sinne. Ich erinnere mich an jede Zukunft, die ich einmal hatte. Julika ist das schönste und traurigste Mädchen der Welt. Sie weint ununterbrochen. Sie ist 16 und hat langes dunkles Haar. Wenn Kätzchen Menschen sein könnten, würden sie wie Celine sein wollen: 12, langes helles Haar, das süß-verspielteste Mädchen, das einer reichen Phantasie vorzustellen gelingt. Celine fehlt es an nichts. Tag und Nacht tröstet sie Julika. Das farbenfrohe Leben ist von Celine zurückgetreten, alles ist ihr ein Grau, die Laute der Welt stiller, die verschneiten Berge Schneehügel auf dem Fensterbrett. Julika ist der Planet, auf den sich das kleine Mädchen zurückgezogen hat. "Ich bin nicht schön", sagt Julika. Kühle Kleinmädchenhände auf kalter Schneewittchenhaut. "Es gibt dich nicht", flüstert Celine, um Julika zu beruhigen. Wären Tränen süß, könnte Celine ihren täglich Zucker mit den Küssen gewinnen, die sie dem Schneemädchen schenkt. "Wir werden zu Eis erstarren, wir werden uns auf den absoluten Nullpunkt abkühlen", macht das kleine Mädchen der Schneein Mut. Der Wind pustet Frühlingsgrün vom fernen Wald zu den Gleisen.

Das Tier ist nicht in mir, wo es doch so viel Platz hätte: unendlich viel Platz in der wüsten Leere des späten Perm. Abkühlende Sande, der Tag wird immer dunkler, der Wind eisiger. Das Tier ist ein säugetierähnliches Reptil, fünf Meter lang. "Wir haben es geschafft, mein kleiner Gorgonops, wir haben die Zunuft verhindert", höre ich mich flüstern, bevor es still wird. Die Wolken schwimmen auseinander und machen dem Eishimmel Platz: dunkle Kälte strömt aus dem Weltraum in die Landschaft hinein. Der Mond ist aschfahl, die Nacht leuchtet nicht mehr hell. Es ist so, als würde sich der Planet von der Sonne entfernen, aber die große Gaskugel ist noch da. Etwas hat sie verhüllt, auf dass es Nacht werde. Die Nacht sinkt sehr langsam dahin: mehrere Generationen passen noch vom ungeborenen Urahn bis zum dementen Letztenkel in den langen Untergang hinein.

Der Abendberg wirft Herbstschatten auf das Gras der Augustwiese. Ein Hügel im Park diesseits der Stadt, ein schwarzes Tagebuch mit schwermütigen Notizen vom Verrinnen der Zeit. Die Müdigkeit ist wie ein Sack voller Steine, und alles schonmal dagewesen. Das Vergessen wäre nicht zum ersten Mal. Das Krankenhaus südlich hat immer ein noch höheres Stockwerk parat, ich muss nur durch einen Geheimgang hindurch. Lagerräume, ganze Hallen, abgeschlossene Welten in einem einzigen Hochhaus. Katzen und Mädchen auf der Kuschelecke vor einem Wartezimmer. Es ist gemütlich kühl, ein engelsgleicher fünfjähriger Junge, langes dunkelblondes Haar und sehr zerbrechlich, reicht mir eine Decke und sein Kätzchen. Ich soll es für ihn durch die Zeit retten. "Ist das Kittie?" will ein dreijähriges Mädchen wissen, das immer wieder von einer Katze angesprungen und umgestoßen wird. "Kittie ist tot", flüstert der Junge. Kittie war 13, kreidebleich. Als sie zum letzten Mal ihr Bett verließ, sah sie im Wartezimmer die versteinerte Julika, nahm sie an sich, ließ sie weinen, roch ihr dunkles Haar und die unendlichen Weiten des Weltraums. 

Ich bin 14, ein unscheinbarer wahren Mädchen vorzeigbarer Junge, doch auch so nicht ich selbst. Lin ist 16, blond, während ich brünett. Auch er sieht in Wahrheit ganz anders aus. Wir sind in jenem Zimmer bei den Kindern, um zu prüfen, ob jemand von uns in deren Gestalt überjüngt. "Sie sind schon aufgebrochen", stelle ich fest, und auch, dass Lin keine Ahnung hat, wer ich bin. Ein zartes Elfchen, leider kein Mädchen, ängstigt sich an uns vorbei zu den Kindern. Lin will wissen, ob ich in der wahren Welt so aussehe: "Schau den an - eine Maus von einem Jungen!" "Diese Hände würden kein Mädchen anwidern". "Aber eine Nutte irritieren", lacht er wissend. Wir verlassen das Gebäude und stolpern durch den Schneeregen windgespeitscht in ein altes Schloss im Zentrum der Stadt. "Ich war ein Dunkleosteus", erinnere ich mich dunkel, aber nicht unklar, "du machst dein Maul auf, es ist zwei Meter breit. Durch die Sogwirkung kommt die Beute selbst zu dir, du muss sie nur von Hinten anschwimmen. Du beißt zu. Die Placodermi mochte ich am Liebsten". "Wen?" "Die anderen gepanzerten Fische". Im Schloss erzählt Lin, er sei ein Todesengel, und kündige beruflich Hungersnöte an. "Ein neues Massensterben steht diesem Planeten bevor", klärt er mich auf. "Und auch gut zu Gesicht", sage ich etwas Banales. Julika weint Schneeflocken. Die Gletscher wachsen.

Vom Schloss aus beginnt die Vergletscherung der Stadt. Bald ist es -160°C, und wir fühlen uns pudelwohl. Passanten fallen eisblockweise um, zerbrechen in Eisscherben. "Kennst du Julika?" schluchzt Lin. Ich schweige. "Bianca, 14, wasserstoffblond, so blass, fast durchsichtig, sagte, sie würde verhungern, wenn sie nicht für immer bei Julika bleiben könnte. Sie aß nichts mehr, und sprang noch in derselben Woche von einer Klippe in eiskaltes Wasser". Ich bewundere Bianca. "Lika, 16, ein großes Schneewittchen unserer Zeit, magersüchtig, war Julika nicht dünn genug. Sie zog sich nackt aus und vergrub sich im Neuschnee". Ich mag Lika. "Ich darf nur Julika berühren, wenn ich ein Mädchen werde", wird Lin langsam zu einem Eisblock, "darum soll hier mein Ende sein". Hagelkörner zertrümmern ihn, ich schreite durch die erfrorene Stadt. Mein Blut gefriert bei -270°C, ich darf mich also nicht zu lange im Weltraum aufhalten. Ich habe die wahre Welt nie gesehen; ich weiß nicht, wie ich aussehe, - ich werde mich überraschen lassen müssen.