Sonntag, 28. Juni 2020

Das Unmädchen





Winwrath rannte ungeduldig von Busch zu Busch: wird der Pilot diesen Ort erkennen können? Winwrath hatte Glück. Das Transportflugzeug landete, sein Geschäftspartner Rays steieg aus und begrüßte ihn. "Die Weltmächte haben beschlossen, diese Region aushungern zu lassen", sprach Winwrath. "Ja, was wir tun, ist illegal", wusste Rays, "und wenn sie uns als Geisel nehmen, kommt uns keiner zurückkaufen". Winwrath sah den Arbeitern beim Entladen der Säcke und Kisten mit Lebensmitteln und Medikamenten zu: "Ich kenne die Sprache dieser Leute, bin hier als Naturforscher seit 20 Jahren unterwegs. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich einer von ihnen". 

Am Horizont bewegte sich etwas - das waren zum Glück nicht die Rebellen, sondern die Bewohner des größten Dorfes in der Gegend. "Da sind sie ja", freute sich Winwrath, während Rays schaute: "Ich muss bald abfliegen". "Ist denn alles auf dem Boden?" ging Winwrath zum Erdloch, in dem er das Gold vergraben hatte. "Nein, noch nicht alles", bemerkte Rays und gab einen Wink. Ein blondes weißes Mädchen stieg aus. Das Mädchen war wie für einen Ball geschminkt, in einem eleganten aber dezenten Kleid, vom Alter 11 oder 12. "Wer ist das? Was tut sie hier?" Rays lachte: "Sie wollte unbedingt zu dir, alter Feund. Klär mich du doch auf: ist sie deiner Tochter? Deine Nichte? Sag schon". Winwrath kannte das Mädchen nicht, das nun auf ihn zukam, während etwa 200 Dorfbewohner einen respektvollen Abstand zu den Weißen hielten. "Diese Menschen wollen essen", bemerkte der Pilot. "Ich sehe viele Verletzte, sie müssen versorgt werden", eilte Winwrath zum Flugzeug, "nimm also das Gold - und das Mädchen fliegt mit dir zurück".


Winwrath lief zu den Dorfbewohnern, erklärte ihnen etwas in ihrer Landessprache, - es brach Jubel aus, denn sie hatten bereits mit ihrem Tod gerechnet. Als er sich zum Flugzueug umdrehte, blieb er erstarrt stehen: der Wind sorgte für Verwehungen am Kleid des Mädchens, das überhaupt nicht ans Zurückfliegen dachte. Winwrath lief zum Mädchen, das ihn mit großen Augen ansah, und ihre kleinen vollen Lippen flüsterten: "Ich will das Gold". Rays ließ die Arbeiter einen kleinen Teil des Goldes im Flugzeug verstecken. "Sollte unser Handel storniert werden - das sind die Flugkosten", erklärte er Winwrath. "Warum soll jetzt etwas schief gehen?" wunderte sich Winwrath, "du bist 6000 Meilen bis hierher geflogen, hast den Ort gefunden, die Hilfsgüter abgeladen, und ich habe dir das Gold gegeben. Nimm das Mädchen und verschwinde". Das Mädchen lutschte derweil ein Schokoladeneis am Stiel. "Du bist ein zuverlässiger Partner, Winwrath", verabschiedete sich Rays und stieg mit dem restlichen Gold ein. Winwrath stellte sich vor das Flugzeug und rief: "Das Mädchen! Nimm das Mädchen mit!" 


Der Start der Maschine wurde abgegrochen, Rays stieg wieder aus. "Du kannst das Mädchen doch nicht bei diesen Negern lassen!" schrie Winwrath in harsch an, worauf dieser erwiderte: "Ich kann nichts machen, das Mädchen weiß alles über unseren Deal. Wenn ich sie gegen ihren Willen mitnehme, wird sie singen". Vieles ging Winwrath durch den Kopf: wer war dieses Mädchen? Woher kam es? Woher wusste es von ihm? Was ging hier eigentlich vor? "Ich mag Gold", lächelte die kleine Blondine und leckte sich die Lippen. "Das Gold ist für die Hilfsgüter, Kind", erklärte Winwarth, "sieh diese Menschen, sie hungern, viele sind verletzt, sie sind Opfer in einem Bürgerkrieg, ich muss ihnen helfen". "Ich will ihnen auch helfen", streifte sie seinen Arm mit dem Handrücken und ging auf die Dorfbewohner zu. Winwrath lief ihr hinterher und hielt sie auf. "Sie brauchen auch menschliche Zuwendung, Zärtlichkeit", lächelte das Mädchen, "ich habe kein Gold, aber ich kann gut küssen". Winwrath packte das Mädchen am Arm und zog sein MG: "Du steigst jetzt ins Flugzeug!" "Sonst was? Sonst tötest du mich?" kicherte die Kleine und streichelte das MG mit ihren verwöhnten Händen. "Winwrath, wir müssen fliegen!" rief Rays, während das Mädchen flüsterte: "Ich will noch ein Schokoladeneis, aber habe keins mehr. Vielleicht haben die Jungs dort etwas zum Lutschen", blickte sie die Dorfbewohner an und leckte abermals ihre Lippen. 


"Alles wieder ins Flugzeug laden!" rief Winwrath. "Auch das Gold?" fragte Rays. "Ja, auch das Gold". "Du gehst aber mit mir einkaufen. Meine zarten Fingerchen mussten lange auf dieser schwarzen Tastatur tippen, bis ich die beste Luxusboutique der Welt gefunden habe", nahm das Mädchen Winwrath an der Hand. "Bitte", flüsterte er, "wir müssen diesen Menschen helfen". Das Mädchen zog ihn an seiner Krawatte zu sich runter und küsste ihn erst hauchzart, dann etwas ausführlicher. "Knallt die Neger ab!" rief Winwrath. Als ihm eine Träne kam, zog das Mädchen wieder an seiner Krawatte und küsste die Träne weg. "Wir fliegen!" rief Rays seine Männer zusammen, als das Erschießungskommando fertig war. Winwrath flog mit dem Mädchen auf seinem Schoss über das verwüstete geliebte Land, viele seiner Freunde lagen in der frisch zugeschütteten Grube. Zwei Jahrzehnte ging er mit Männern und Jungen aus diesem Dorf fischen, jagen, Affen und Großkatzen beobachten. Ein Arbeiter zog sich um, bis er schicker als Winwrath und Rays aussah: "Ich bin Agent Painsworth", stellte er sich Winwrath vor und nannte den Geheimdienst. 


7.2011