Es
ist Ende August und das Fahrradfahren fällt melancholischstens schwer,
als wäre g nicht 9,81, sondern 20 bis 30. Jeder Kilometer muss der
melancholiebedingten Trägheit hart abgerungen werden. Und man kommt ja
doch nirgendwohin. Der letzte Umzug liegt schon ein Jahr zurück, die
unmittelbare Umgebung reizt nicht mehr. Die Tankstelle Gottes ist leer,
die Firmung, das Mutgemache des angehenden Priesters: vergebens. Das
Leben unterliegt schwer der Schwerkraft. Der 3.4.1999 bleibt zweiter
Sieger, der 6.11.1998 lächelt nur über den neu gefundenen Glauben, über
Gott, Kirche, Gemeinschaft. Dieser Gott ist nicht Gott. Ein furchtbarer
Götze der Wüste, Jahrhunderte später zu einer Universalgottheit an den
unsterblichen Ohren langgezogen. Ein Frankenstein-Monster von einer
transzendenten Vaterfigur. Ein gleichgültiger jenseitiger Wichser.
Doch Neuville trifft zum 2:0 per Seitenfallzieher. Geil ist es. Seit
Anfang des Jahres bin ich für Leverkusen. Aber selbst im Verein zu
spielen, fehlt nicht nur der Bock. Sprachlich so stockender Verkehr,
dass der Mund besser zu bleibt. Doch die Gymmi droht mit Sechsmündlich
in allen Fächern, und kein helfender Trick in Sicht. Aber was ist mit
Beten? Hilft Beten gegen Stottern? Hilft Radio hören gegen Pickel, sich
am Ohr kratzen gegen Vesikel, beim Pissen die Augen schließen gegen
Ventrikel? Das weißichnickel. Ist auch egikel. Lange Fußmärsche mit
Omabesuchsmotiv sind eine halbwegs wirksame Sichbewegensmotivation.
Immerhin elf Kilometer, an manchen Tagen hin und zurück. Alte Menschen
können so unterhaltsam Karten spielen. Nur mit alten Menschen macht
Karten Spielen Spaß. Ich will das mittlere Alter überspringen: eine
lange Jugend und dann gleich 60. Nein, das auch nicht wirklich.
Die erste Bleiwolke fällt auf meine 16-jährigen Schultern: das Schuljahr
beginnt. 10. Das klingt ernst, doch irgendwas fehlte, fehlt. Wo war die
Sorglosigkeit in der 5 und 6, wo die kindliche Romantik in der 7, wo
der Firstkiss in der 8, wo diese schicksalsbewegende Klassenfahrt in der
9? Klasse. 10, einfach nur Klasse. Der Wüstenboss hat sich nach Galiläa
verpisst, er hört nicht zu. Das Vaterunser könnte genauso ein Onkeleuer
oder Opaderen sein. Keinerlei Wirkung. Das Gelese in diesem
meistgehypten Buch aller Zeiten ist quälend langweilig und die
Wirkungslosigkeit nervt. Als würde man zu der Wand beten. Als würde man
sich selbst narzisstisch missbrauchen. Ohne selbst davon nur im
Geringsten. Als würde man in ein längst vergedenkstättetes KZ einkehren
und sich selbst dort überwachen, nur um „We shall overcome“
überzeugender mitsingen zu können.
Die Messe ist eine Mess. Immer dieselbe Soße nachbeten. Ich denke ans
Pissen, wenn ich schon nicht an Sex denke. Das Handgereiche ist
widerlich. Auffallend schon von Anfang an ist die Tatsache des Faktums
der Nuance, dass keiner der Anwesenden schön ist. Und alle viel zu alt.
Ich bin zum falschen Glauben konvertiert, und das auch noch freiwillig.
Eine Aktion der verzweifelten Selbstverdummung. Die Hormone vernebeln
das Hirn, der lange Weg zum Erfolg wobei auch immer ist keine Option
mehr. Die Jugend ohne ebendiese selbst dauert schon viel zu lange. Mein
Hirn weigert sich, 25% des eingeatmeten Sauerstoffs zu verbrauchen und
begnügt sich mit 9. Glauben statt denken. Beten statt lernen. Ich bin
ein Ebenbild Gottes, und das ist nicht als Autokompliment gemein: ein
Ebenbild dieses öden Gottes, dessen spektakulärste Aktion, seit an ihn
geglaubt wird, seine Abwesenheit ist. Zweidreitage Schule, und nur noch
die Herbstferien sind ein Lichtblick. Prosieben gucken. Und am nächsten
Morgen nicht schon um Halbsieben aufstehen müssen.
Wie all die Lieder heißen, keine Ahnung, aber das Radio ist den ganzen
Abend an, und manchmal kommt eben „Twist in My Sobriety“ oder „Sleeping
Satellite“. Die Nahost-Einserschülerin und die etwas gealterte Mieze,
vermutlich eine weiße Britin Mitte bis Ende 20, lassen träumen. Und
Träume gehen unvermittelt in die Realität ein, die Schwere verschwindet.
Radfahren wie auf Engelsflügeln. Beten mit einem Lächeln, obwohl der
Gott sich nicht geändert hat. Die Luft beginnt zu schmecken, der
Frühherbst lockt mit ungeahnter Schönheit, Kleinigkeiten beginnen
aufzufallen. Werder Bremen, bisher sieglos, gewinnt 5:0 gegen
Kaiserslautern. Weil damals in der 7. all diese Idioten Werder-Fans
waren, hasse ich Bremen. Und dennoch freue ich mich. Ein Akt der
Feindesliebe, aus Neigung, nicht aus Selbstzwang. Als ob etwas nicht
stimmen würde. Als ob etwas so stimmen würde, wie es noch nie gestimmt
hat.
Am nächsten Tag schreibe ich an einem Abend ein ganzes Heft voll, ein
24-seitiger Kurzroman, es ist ein Anflug von Weißichauchnicht. Alles ist
so leicht, ich könnte nach oben fallen. Was ist mit dem Blei passiert,
mit dieser Schutzweste, die vor dem Abheben ins gewisse Ungewisse
schützte? Warum glaube ich, dass ich auf einmal glaube, anstatt nur zu
glauben, ich würde nur wollen, dass ich glaubte, ohne an das Geglaubte
zu glauben? Das Radio erzählt zwischen all den herrlichen Liedern über
den Auswärtssieg von Werder Bremen gegen ein so genanntes Bodoglimt,
angeblich in Norwegen, wieder Fünfnull. Und ich weiß nicht, Bremen ist
cool. Der Schulweg war bisher eine selbstauferlegte Tortur, zu Fuß statt
mit Blechgaul, drei unausgeschlafene Kilometer hin, drei müde zurück.
Nun ist es ein Ausflug im Sinne von Flug. Und ja, diese mädchenische
Mädchenischizität dieses Mädchens, die ist wirklich der Grund.
Unfassbar, wie sich die Weltwahrnehmung ändern kann, auch wenn die
Weltanschauung dieselbe bleibt.