Mittwoch, 19. August 2020

9.1999

 

 

 Es ist Ende August und das Fahrradfahren fällt melancholischstens schwer, als wäre g nicht 9,81, sondern 20 bis 30. Jeder Kilometer muss der melancholiebedingten Trägheit hart abgerungen werden. Und man kommt ja doch nirgendwohin. Der letzte Umzug liegt schon ein Jahr zurück, die unmittelbare Umgebung reizt nicht mehr. Die Tankstelle Gottes ist leer, die Firmung, das Mutgemache des angehenden Priesters: vergebens. Das Leben unterliegt schwer der Schwerkraft. Der 3.4.1999 bleibt zweiter Sieger, der 6.11.1998 lächelt nur über den neu gefundenen Glauben, über Gott, Kirche, Gemeinschaft. Dieser Gott ist nicht Gott. Ein furchtbarer Götze der Wüste, Jahrhunderte später zu einer Universalgottheit an den unsterblichen Ohren langgezogen. Ein Frankenstein-Monster von einer transzendenten Vaterfigur. Ein gleichgültiger jenseitiger Wichser.

Doch Neuville trifft zum 2:0 per Seitenfallzieher. Geil ist es. Seit Anfang des Jahres bin ich für Leverkusen. Aber selbst im Verein zu spielen, fehlt nicht nur der Bock. Sprachlich so stockender Verkehr, dass der Mund besser zu bleibt. Doch die Gymmi droht mit Sechsmündlich in allen Fächern, und kein helfender Trick in Sicht. Aber was ist mit Beten? Hilft Beten gegen Stottern? Hilft Radio hören gegen Pickel, sich am Ohr kratzen gegen Vesikel, beim Pissen die Augen schließen gegen Ventrikel? Das weißichnickel. Ist auch egikel. Lange Fußmärsche mit Omabesuchsmotiv sind eine halbwegs wirksame Sichbewegensmotivation. Immerhin elf Kilometer, an manchen Tagen hin und zurück. Alte Menschen können so unterhaltsam Karten spielen. Nur mit alten Menschen macht Karten Spielen Spaß. Ich will das mittlere Alter überspringen: eine lange Jugend und dann gleich 60. Nein, das auch nicht wirklich.

Die erste Bleiwolke fällt auf meine 16-jährigen Schultern: das Schuljahr beginnt. 10. Das klingt ernst, doch irgendwas fehlte, fehlt. Wo war die Sorglosigkeit in der 5 und 6, wo die kindliche Romantik in der 7, wo der Firstkiss in der 8, wo diese schicksalsbewegende Klassenfahrt in der 9? Klasse. 10, einfach nur Klasse. Der Wüstenboss hat sich nach Galiläa verpisst, er hört nicht zu. Das Vaterunser könnte genauso ein Onkeleuer oder Opaderen sein. Keinerlei Wirkung. Das Gelese in diesem meistgehypten Buch aller Zeiten ist quälend langweilig und die Wirkungslosigkeit nervt. Als würde man zu der Wand beten. Als würde man sich selbst narzisstisch missbrauchen. Ohne selbst davon nur im Geringsten. Als würde man in ein längst vergedenkstättetes KZ einkehren und sich selbst dort überwachen, nur um „We shall overcome“ überzeugender mitsingen zu können.

Die Messe ist eine Mess. Immer dieselbe Soße nachbeten. Ich denke ans Pissen, wenn ich schon nicht an Sex denke. Das Handgereiche ist widerlich. Auffallend schon von Anfang an ist die Tatsache des Faktums der Nuance, dass keiner der Anwesenden schön ist. Und alle viel zu alt. Ich bin zum falschen Glauben konvertiert, und das auch noch freiwillig. Eine Aktion der verzweifelten Selbstverdummung. Die Hormone vernebeln das Hirn, der lange Weg zum Erfolg wobei auch immer ist keine Option mehr. Die Jugend ohne ebendiese selbst dauert schon viel zu lange. Mein Hirn weigert sich, 25% des eingeatmeten Sauerstoffs zu verbrauchen und  begnügt sich mit 9. Glauben statt denken. Beten statt lernen. Ich bin ein Ebenbild Gottes, und das ist nicht als Autokompliment gemein: ein Ebenbild dieses öden Gottes, dessen spektakulärste Aktion, seit an ihn geglaubt wird, seine Abwesenheit ist. Zweidreitage Schule, und nur noch die Herbstferien sind ein Lichtblick. Prosieben gucken. Und am nächsten Morgen nicht schon um Halbsieben aufstehen müssen.

Wie all die Lieder heißen, keine Ahnung, aber das Radio ist den ganzen Abend an, und manchmal kommt eben „Twist in My Sobriety“ oder „Sleeping Satellite“. Die Nahost-Einserschülerin und die etwas gealterte Mieze, vermutlich eine weiße Britin Mitte bis Ende 20, lassen träumen. Und Träume gehen unvermittelt in die Realität ein, die Schwere verschwindet. Radfahren wie auf Engelsflügeln. Beten mit einem Lächeln, obwohl der Gott sich nicht geändert hat. Die Luft beginnt zu schmecken, der Frühherbst lockt mit ungeahnter Schönheit, Kleinigkeiten beginnen aufzufallen. Werder Bremen, bisher sieglos, gewinnt 5:0 gegen Kaiserslautern. Weil damals in der 7. all diese Idioten Werder-Fans waren, hasse ich Bremen. Und dennoch freue ich mich. Ein Akt der Feindesliebe, aus Neigung, nicht aus Selbstzwang. Als ob etwas nicht stimmen würde. Als ob etwas so stimmen würde, wie es noch nie gestimmt hat.

Am nächsten Tag schreibe ich an einem Abend ein ganzes Heft voll, ein 24-seitiger Kurzroman, es ist ein Anflug von Weißichauchnicht. Alles ist so leicht, ich könnte nach oben fallen. Was ist mit dem Blei passiert, mit dieser Schutzweste, die vor dem Abheben ins gewisse Ungewisse schützte? Warum glaube ich, dass ich auf einmal glaube, anstatt nur zu glauben, ich würde nur wollen, dass ich glaubte, ohne an das Geglaubte zu glauben? Das Radio erzählt zwischen all den herrlichen Liedern über den Auswärtssieg von Werder Bremen gegen ein so genanntes Bodoglimt, angeblich in Norwegen, wieder Fünfnull. Und ich weiß nicht, Bremen ist cool. Der Schulweg war bisher eine selbstauferlegte Tortur, zu Fuß statt mit Blechgaul, drei unausgeschlafene Kilometer hin, drei müde zurück. Nun ist es ein Ausflug im Sinne von Flug. Und ja, diese mädchenische Mädchenischizität dieses Mädchens, die ist wirklich der Grund. Unfassbar, wie sich die Weltwahrnehmung ändern kann, auch wenn die Weltanschauung dieselbe bleibt.

Sonntag, 2. August 2020

Death Spread (multiple nukes)





45 Minuten. Ich bin der Fremde. Ich habe mich von meinen Schulkameraden jeden Tag mit einem neuen Namen anreden lassen, da ich mich mit keinem Namen identifizieren konnte. Ich war 6, der Junge mit den langen Haaren war 4. Er hatte die tiefsten dunklen Augen der Geschichte, so tief, als hätte er mit einem Dunkleosteus geschwommen. Ich konnte ihn den ganzen Tag auf dem Schlitten vor mir her schieben, und die Welt um mich herum vergessen. Es war eben noch sonnig, jetzt ziehen erste Wolken auf. Die dürre kleine Elfe schlägt ihr Schulbuch zu. Nein, früher noch, als ich selbst 4 war, da lag ich beim obligatorischen Mittagsschlaf auf einer Liege und starrte in die Decke, und neben mir lag ein Mädchen, das auch 4 war, und ich griff immer wieder sacht und verstohlen nach ihrer Hand.

28 Minuten. Ein Kleinkind bindet sich am Fuße des Hügels die Schnürsenkel zu - das konnte ich als Kind nie, selbst in der Grundschule noch nicht. Da war aber dieses Mädchen, das mich immer wieder diese Kunst lehrte, und ich schaute hin und doch nicht hin, denn ich sah mir ihre kleinen Mädchenhände an. Ich habe nie ihre Hand gehalten, die Jahre kamen dazwischen. Die Sonne guckt wieder einmal raus, um sich nun in dunkleren Wolken zu verkriechen. Es sieht nicht nach Regen aus, die Elfe mit den langen dunklen Haaren bleibt noch eine Weile.

22 Minuten. Ich war 11 und hatte einen mehr Schüler denn Freund, der Junge war 9. Ich ging mit ihm oft zum Fluss, lehrte ihn das Periodensystem, brachte ihm Sachen bei. Er war ein Wunder: es ging mir nicht in den Kopf, wie aus einfachen Atomen so etwas wie dieser Junge entstehen konnte - er sah so gewollt, so vollendet aus, konnte laufen, springen, sprechen, lernen, etwas gar Neues ausdenken, und war doch nichts als bloße Chemie. Ich sitze auf dem Hügel und genieße den Sommerwind. Am Himmel ist ein Flugzeug zu sehen. Ich hatte es mit 12 tatsächlich geschafft, ein ganzes Schuljahr neben einem Mädchen zu sitzen, in welches ich furchtbar verknallt war, ohne es ihr nur anzudeuten. Unsere Handrücken berührten sich einmal zufällig, irgendwann Ende November, mehr passierte in diesem Jahr nicht.

16 Minuten. Ist das ein Regentropfen? Ein Ball fliegt zu mir, ich stehe auf, und schieße ihn zurück. Als ich 14 war, lief einer aus der Oberstufe Amok, 10 Schüler knallte er ab, ich träumte noch Jahre davon, wie ich allein im Klassenzimmer saß, während die Schüsse immer näher kamen, und ich keine Waffe hatte, und auch kein Versteck. Gleich würde sich die Tür öffnen, - aber wer im Traum stirbt, wacht nur wieder auf, weiter geht es nicht. Die Elfe ist schätzungsweise 11, als Schätzchen hätte ich sie sehr geschätzt, als ich selbst in ihrem Alter war. Mit 15-16 begehrte ich diese unnahbare arrogante snobistische Maus, das einzige nicht nur an sich, sondern auch für sich schöne Mädchen der Schule. Sie war so makellos. Sie war erst 17 und unscheinbar, dann 18 und nicht zu übersehen, was an ihrer Kleidung, ihren Schuhen und ihren Blicken lag. Sie war klein und sehr dünn, immer elegant, niemals aufreizend, long nails, high heels. Sie ging mit einem 13-Jährigen zum Abschlussball, weil er so zart war, und von seinen Klassenkameraden als Mädchen beschimpft wurde. Ich beneidete ihn, diesen zerbrechlichen kleinen Jungen. Er war ihr edel genug, ich war ein grauer Hund, den man nicht sieht, auch wenn er direkt vor einem steht. Mit wem diese Schönheit all die Zeit zusammen war? Mit einer genau so dürren, aber etwas größeren Unimieze, die sie all die Zeit nach bester BDSM-Tradition folterte und quälte, was keinerlei Spuren bei der Maus hinterließ - außer den Spuren einer tiefen Befriedigung in ihrer Seele. Ich bin so tief in Erinnerungen versunken, dass ich nicht merke, dass die kleine Elfe da nicht mehr sitzt.

9 Minuten. Eine Berührung. Sie hat sich neben mich gesetzt. Als ich 17 war, hat sich ein verspieltes Kätzchen aus der 8. Klasse neben mich gesetzt, wir warfen uns seit Wochen komische Blicke zu. Ich konnte nie zum Ausdruck bringen, was ich empfand, erst recht nicht dann, wenn es mich von Innen förmlich zerriss. Ich stand auf und ging, und sie sah mich nie wieder an.

4 Minuten. Die Elfe fragt mich, was das für ein Streifen am Himmel ist. Ich sehe kein Flugzeug. Als würde ich etwas ahnen, lege ich den Arm um sie und schweige. Sie schmiegt sich an mich und sagt etwas, das ich nicht verstehe. Ich weiß gar nicht, welche Sprache das ist. Vielleicht liegt es nur daran, dass ich den Klang der Sprache vergessen habe. Seit Jahren kenne ich nur noch die Schrift, spreche mit niemandem. Seit ich dieses prinzessinenhafte Wesen aus der 10A nicht zum Abschlussball eingeladen habe, gibt es keinen Grund mehr dazu. Die Zeit hat nicht auf mich gewartet, ich wurde 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26...

Jetzt. Wir stehen auf, die Elfe und ich. Ich ahne es nicht bloß, ich weiß es. Ich lächle, ich bin glücklich, wie zum letzten Mal an dem Tag, als ich in die 7. Klasse kam, und neben ein Mädchen gesetzt wurde, das ich noch an jenem Abend in mein Baumhaus in luftiger Höhe entführen wollte. Wir schmeißen uns zu Boden, richten uns wieder auf, halten uns an den Händen, und wissen, dass unser Alter keine Rolle mehr spielt. Ich finde, es ist ist ein gelungenes Ende der Geschichte. Sie lacht und erzählt, dass sie seit zwei Jahren an jedem warmen Tag zu diesem Hügel ging, um mich beim Lesen zu beobachten; ihr Kopfkino lief auf dem Heimweg, sie dachte sich aus, ich sei ein Bösewicht, der einen geheimen Plan ausheckte, um die Welt zu vernichten. Sie sieht mich an, ihre Augen sind groß und verliebt, sie ist glücklich. Ihr Kopfkino hat Recht behalten. Ich weiß aber nicht, was sie denkt, und genieße das Panorama am Horizont: da steigt ein Pilz zum Himmel auf, und noch einer, und noch einer. Im nächsten Augenblick ist alles hell erleuchtet, und der Augenblick vorbei. Wir werden, was wir sind.

2012

Samstag, 1. August 2020

Das schwächste Mädchen





Als Terminator geht man in eine Klasse, als ob man das Asperger-Syndrom hätte, und fragt ohne Präludien in die Runde: „Wer ist in eurer Klasse der Stärkste?“ Solche Direktheit kommt nicht gut an, aber eine Antwort bekommt man meist nonverbal. Dann fragt man den Hünen: „Zeigst du mir, wer in eurer Klasse die Schwächste ist, oder muss ich dich besiegen?“ Er zeigte sie mir, wollte keinen Stress, doch sie war mir nicht schwach genug. Nein, sie war schon zierlich, süß, sexuell attraktiv. War immerhin die 12-te Klasse, und ich benam mich als wäre ich ältestens 12. Ihr Blick war neugierig, die neue Masche amüsierte sie. So hatte sich noch kein Neuer vorgestellt. Doch ich verlor nach ein paar kurzen Blicken das Interesse. Mein Betrachten ging weiter über den ganzen Schulhof, ich sah ein richtiges Model aus der 10-ten, und es sah mich an wie eine Kuh. Ich konnte mir das Lachen nicht verbieten.

Die Stunden zogen sich zäh in die Länge. In der Mittagspause schlich ich gedankenverloren über den Hof. Erst bemerkte ich gar nichts, bis ich wahrnahm, dass sich etwas rührte. Es hatte langes dunkles Haar und saß im Schneidersitz auf einer Betonplatte. Es hatte in kleinen und zierlichen aber keineswegs zarten Händen ein Buch mit dem Titel „Konstantin XII Noomachos“. Ich stellte mich als Nikephoros Phokas vor und sah ein Lächeln, das mich in seinen Bann zog. Ich blieb stehen und stellte ein paar Fragen. Während sie erzählte, musste ich mal lächeln, mal lachen, mal sie einfach nur ansehen. Die unscheinbare Maus mit dünnen Ärmchen, so klein und so altklug, eigenwillig angezogen, Elftklässlerin. Schön war sie gar nicht, aber ich fange jetzt nicht an, alle Defekte aufzuzählen. Ich dachte auch gar nicht an körperlichen Kontakt.

Später, am Nachmittag, fragte sie mich zwanglos, ob ich im Garten hinter dem Schulhof quatschen wollte. Und ich ließ mir Quatsch erzählen. Dabei sah ich sie immer wieder an und war glücklich. Da war halt jemand drin. Es war kein sprechendes Ding, kein menschensimulierender Apparat, keine Maske über einer Maske über einer Maske, sondern es war wirklich jemand da. Da fühlte ich mich nicht mehr einsam. Natürlich schaffte sie es irgendwann, mich auch wieder zu vergraulen, doch ich erinnerte mich noch lange an diesen einen Moment, als sie in ihrer ganzen Schwäche, Unsicherheit und Verzweiflung vor mir aufblühte. Auf der nächtlichen Radtour an jenem Abend musste ich an Edgar Allan Poes Gedicht „Ulalume“ denken. Und so nannte ich sie damals auch. So nenne ich sie heute noch.