Sonntag, 2. August 2020

Death Spread (multiple nukes)





45 Minuten. Ich bin der Fremde. Ich habe mich von meinen Schulkameraden jeden Tag mit einem neuen Namen anreden lassen, da ich mich mit keinem Namen identifizieren konnte. Ich war 6, der Junge mit den langen Haaren war 4. Er hatte die tiefsten dunklen Augen der Geschichte, so tief, als hätte er mit einem Dunkleosteus geschwommen. Ich konnte ihn den ganzen Tag auf dem Schlitten vor mir her schieben, und die Welt um mich herum vergessen. Es war eben noch sonnig, jetzt ziehen erste Wolken auf. Die dürre kleine Elfe schlägt ihr Schulbuch zu. Nein, früher noch, als ich selbst 4 war, da lag ich beim obligatorischen Mittagsschlaf auf einer Liege und starrte in die Decke, und neben mir lag ein Mädchen, das auch 4 war, und ich griff immer wieder sacht und verstohlen nach ihrer Hand.

28 Minuten. Ein Kleinkind bindet sich am Fuße des Hügels die Schnürsenkel zu - das konnte ich als Kind nie, selbst in der Grundschule noch nicht. Da war aber dieses Mädchen, das mich immer wieder diese Kunst lehrte, und ich schaute hin und doch nicht hin, denn ich sah mir ihre kleinen Mädchenhände an. Ich habe nie ihre Hand gehalten, die Jahre kamen dazwischen. Die Sonne guckt wieder einmal raus, um sich nun in dunkleren Wolken zu verkriechen. Es sieht nicht nach Regen aus, die Elfe mit den langen dunklen Haaren bleibt noch eine Weile.

22 Minuten. Ich war 11 und hatte einen mehr Schüler denn Freund, der Junge war 9. Ich ging mit ihm oft zum Fluss, lehrte ihn das Periodensystem, brachte ihm Sachen bei. Er war ein Wunder: es ging mir nicht in den Kopf, wie aus einfachen Atomen so etwas wie dieser Junge entstehen konnte - er sah so gewollt, so vollendet aus, konnte laufen, springen, sprechen, lernen, etwas gar Neues ausdenken, und war doch nichts als bloße Chemie. Ich sitze auf dem Hügel und genieße den Sommerwind. Am Himmel ist ein Flugzeug zu sehen. Ich hatte es mit 12 tatsächlich geschafft, ein ganzes Schuljahr neben einem Mädchen zu sitzen, in welches ich furchtbar verknallt war, ohne es ihr nur anzudeuten. Unsere Handrücken berührten sich einmal zufällig, irgendwann Ende November, mehr passierte in diesem Jahr nicht.

16 Minuten. Ist das ein Regentropfen? Ein Ball fliegt zu mir, ich stehe auf, und schieße ihn zurück. Als ich 14 war, lief einer aus der Oberstufe Amok, 10 Schüler knallte er ab, ich träumte noch Jahre davon, wie ich allein im Klassenzimmer saß, während die Schüsse immer näher kamen, und ich keine Waffe hatte, und auch kein Versteck. Gleich würde sich die Tür öffnen, - aber wer im Traum stirbt, wacht nur wieder auf, weiter geht es nicht. Die Elfe ist schätzungsweise 11, als Schätzchen hätte ich sie sehr geschätzt, als ich selbst in ihrem Alter war. Mit 15-16 begehrte ich diese unnahbare arrogante snobistische Maus, das einzige nicht nur an sich, sondern auch für sich schöne Mädchen der Schule. Sie war so makellos. Sie war erst 17 und unscheinbar, dann 18 und nicht zu übersehen, was an ihrer Kleidung, ihren Schuhen und ihren Blicken lag. Sie war klein und sehr dünn, immer elegant, niemals aufreizend, long nails, high heels. Sie ging mit einem 13-Jährigen zum Abschlussball, weil er so zart war, und von seinen Klassenkameraden als Mädchen beschimpft wurde. Ich beneidete ihn, diesen zerbrechlichen kleinen Jungen. Er war ihr edel genug, ich war ein grauer Hund, den man nicht sieht, auch wenn er direkt vor einem steht. Mit wem diese Schönheit all die Zeit zusammen war? Mit einer genau so dürren, aber etwas größeren Unimieze, die sie all die Zeit nach bester BDSM-Tradition folterte und quälte, was keinerlei Spuren bei der Maus hinterließ - außer den Spuren einer tiefen Befriedigung in ihrer Seele. Ich bin so tief in Erinnerungen versunken, dass ich nicht merke, dass die kleine Elfe da nicht mehr sitzt.

9 Minuten. Eine Berührung. Sie hat sich neben mich gesetzt. Als ich 17 war, hat sich ein verspieltes Kätzchen aus der 8. Klasse neben mich gesetzt, wir warfen uns seit Wochen komische Blicke zu. Ich konnte nie zum Ausdruck bringen, was ich empfand, erst recht nicht dann, wenn es mich von Innen förmlich zerriss. Ich stand auf und ging, und sie sah mich nie wieder an.

4 Minuten. Die Elfe fragt mich, was das für ein Streifen am Himmel ist. Ich sehe kein Flugzeug. Als würde ich etwas ahnen, lege ich den Arm um sie und schweige. Sie schmiegt sich an mich und sagt etwas, das ich nicht verstehe. Ich weiß gar nicht, welche Sprache das ist. Vielleicht liegt es nur daran, dass ich den Klang der Sprache vergessen habe. Seit Jahren kenne ich nur noch die Schrift, spreche mit niemandem. Seit ich dieses prinzessinenhafte Wesen aus der 10A nicht zum Abschlussball eingeladen habe, gibt es keinen Grund mehr dazu. Die Zeit hat nicht auf mich gewartet, ich wurde 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26...

Jetzt. Wir stehen auf, die Elfe und ich. Ich ahne es nicht bloß, ich weiß es. Ich lächle, ich bin glücklich, wie zum letzten Mal an dem Tag, als ich in die 7. Klasse kam, und neben ein Mädchen gesetzt wurde, das ich noch an jenem Abend in mein Baumhaus in luftiger Höhe entführen wollte. Wir schmeißen uns zu Boden, richten uns wieder auf, halten uns an den Händen, und wissen, dass unser Alter keine Rolle mehr spielt. Ich finde, es ist ist ein gelungenes Ende der Geschichte. Sie lacht und erzählt, dass sie seit zwei Jahren an jedem warmen Tag zu diesem Hügel ging, um mich beim Lesen zu beobachten; ihr Kopfkino lief auf dem Heimweg, sie dachte sich aus, ich sei ein Bösewicht, der einen geheimen Plan ausheckte, um die Welt zu vernichten. Sie sieht mich an, ihre Augen sind groß und verliebt, sie ist glücklich. Ihr Kopfkino hat Recht behalten. Ich weiß aber nicht, was sie denkt, und genieße das Panorama am Horizont: da steigt ein Pilz zum Himmel auf, und noch einer, und noch einer. Im nächsten Augenblick ist alles hell erleuchtet, und der Augenblick vorbei. Wir werden, was wir sind.

2012