Samstag, 1. August 2020

Das schwächste Mädchen





Als Terminator geht man in eine Klasse, als ob man das Asperger-Syndrom hätte, und fragt ohne Präludien in die Runde: „Wer ist in eurer Klasse der Stärkste?“ Solche Direktheit kommt nicht gut an, aber eine Antwort bekommt man meist nonverbal. Dann fragt man den Hünen: „Zeigst du mir, wer in eurer Klasse die Schwächste ist, oder muss ich dich besiegen?“ Er zeigte sie mir, wollte keinen Stress, doch sie war mir nicht schwach genug. Nein, sie war schon zierlich, süß, sexuell attraktiv. War immerhin die 12-te Klasse, und ich benam mich als wäre ich ältestens 12. Ihr Blick war neugierig, die neue Masche amüsierte sie. So hatte sich noch kein Neuer vorgestellt. Doch ich verlor nach ein paar kurzen Blicken das Interesse. Mein Betrachten ging weiter über den ganzen Schulhof, ich sah ein richtiges Model aus der 10-ten, und es sah mich an wie eine Kuh. Ich konnte mir das Lachen nicht verbieten.

Die Stunden zogen sich zäh in die Länge. In der Mittagspause schlich ich gedankenverloren über den Hof. Erst bemerkte ich gar nichts, bis ich wahrnahm, dass sich etwas rührte. Es hatte langes dunkles Haar und saß im Schneidersitz auf einer Betonplatte. Es hatte in kleinen und zierlichen aber keineswegs zarten Händen ein Buch mit dem Titel „Konstantin XII Noomachos“. Ich stellte mich als Nikephoros Phokas vor und sah ein Lächeln, das mich in seinen Bann zog. Ich blieb stehen und stellte ein paar Fragen. Während sie erzählte, musste ich mal lächeln, mal lachen, mal sie einfach nur ansehen. Die unscheinbare Maus mit dünnen Ärmchen, so klein und so altklug, eigenwillig angezogen, Elftklässlerin. Schön war sie gar nicht, aber ich fange jetzt nicht an, alle Defekte aufzuzählen. Ich dachte auch gar nicht an körperlichen Kontakt.

Später, am Nachmittag, fragte sie mich zwanglos, ob ich im Garten hinter dem Schulhof quatschen wollte. Und ich ließ mir Quatsch erzählen. Dabei sah ich sie immer wieder an und war glücklich. Da war halt jemand drin. Es war kein sprechendes Ding, kein menschensimulierender Apparat, keine Maske über einer Maske über einer Maske, sondern es war wirklich jemand da. Da fühlte ich mich nicht mehr einsam. Natürlich schaffte sie es irgendwann, mich auch wieder zu vergraulen, doch ich erinnerte mich noch lange an diesen einen Moment, als sie in ihrer ganzen Schwäche, Unsicherheit und Verzweiflung vor mir aufblühte. Auf der nächtlichen Radtour an jenem Abend musste ich an Edgar Allan Poes Gedicht „Ulalume“ denken. Und so nannte ich sie damals auch. So nenne ich sie heute noch.