9. Intschviethel
Der, der die beschützte, die Ariadne so süß fand, mietete an jenem Samstag einen Maur und fuhr erstmal drei Stunden richtung Osten. Kurz vor Reburt fuhr er von der Autobahn ab und fuhr durchs Land: Alling, Himghosting. In Reburt-Feiglingszarten ist er als Kind zur Schule gegangen. Und dort wollte er hin, aber machte noch eine Runde durch das verschlafene alte Himghosting, wo ein alter Tempel stand, den er als Kind bei einem Klassenausflug fotografiert hatte. Daneben war ein zugewachsenes Gelände mit einer alten Hütte. In dieser Hütte hatte jemand Altpapier gebunkert, und daher kam auch dieses Buch, eine wissenschaftliche Abhandlung mit vielen Bildern, in welcher über Monster, die Kinder in ihren Alpträumen sehen, in einer Art geschrieben wurde, wie man über ausgestorbene oder rezente Tierarten schreibt. Und es war ihm mit 8 Jahren so, als hätte er eines dieser Monster gleich auf dem Gelände gesehen, eine Chichinicha. Und nicht nur die. Es ging, wie immer, wenn es um etwas wichtiges geht, um ein Mädchen.
Irgendwo musste eine schmale Dorfstraße sein, fast zugewachsen. Nur Radfahrer und Fußgänger konnten sich hier bewegen. Er ließ den anthrazitfarbenen Zweisitzer-Maur stehen und suchte den Weg. Im Gebüsch verbarg sich schüchterscheu ein Schild: Intschviethel 1km. Er ging den Weg zu Fuß. Auf dem Fahrrad hat dieses Mädchen gesessen. Diese Richtung nahm damals die Maus. Sie war in seinem Alter, fast gleich ähnlich ungefähr genau. Und o, dieses Haar! Ja, Kinder speichern wichtige Eindrücke für das ganze Leben. Nun wollte er die alte Zeit spüren, den Duft, es war September, und der Sonnenstand war beim Vorbeigehen mit der Klasse an dem Ort hier wie jetzt ebengerade an diesem Februartag. Das stolze Schild begrüßte den Besucher im verschlafenen Intschviethel. Vom Edelier Dhae Diedendied Ende des 13. Jahrhunderts als Festung gebaut, wurde es später zum Bauerndorf in der Grafschaft Himghosting. Die Ghoster, Nomaden aus der fernen Steppe im Osten, gründeten diese im kalten 12. Jahrhundert. Kein einziger der 282 Bäume, die damals im heutigen Stadtpark standen, wurde seither gefällt. Intschviethel nun, ein 40-Seelen-Dorf südwestlich von Himghosting, lockte mit noch unberührterer Natur mitten im Ort. Jahrhundertelang wurde beim Leben und Lebenlassen vor allem auf Ästhetik geachtet. Kinder wuchsen in derselben natürlichen Umgebung auf wie ihre Urururgroßeltern und noch weiter ur-.
Da war es, das Fahrrad! Er sah in den weiträumigen Hof und klingelte. Ein Mann Ende 20 kam auf ihn zu und machte die Gartentür auf. „Wem gehört dieses Fahrrad?“ „Meiner Frau“, war das Gespräch kurz. Und als sie aus dem Haus kam, sah er dieses glücklich gealterte Mädchen. Sie zeigte ihm gern die Fotos von damals und er fragte, wem jetzt dieser verlassene Hof mit der Altpapierhütte gehörte. Es war in deren Familienbesitz. Der Besucher kaufte den Inhalt der Hütte ab, ließ zwei Tonnen nach Hause abtransportieren und bedankte sich. Keiner hatte in den letzten 13 Jahren auch nur reingeschaut. Süße, liebliche Nostalgie, ohne Wehmut, ohne Verlustschmerz, vielmehr mit Gewinnlust und Kindheitsrückkehrgefühl. Die zarten Hände des Mädchens damals auf dem Lenkrad, der Miniatur-Schulranzen, das niedliche Nummernschild des Fahrrads. Und jetzt erwartete sie selbst ein Kind, vielleicht ein Mädchen, das in acht Jahren auf demselben Fahrrad vorbeifahrend sich für einen anderen Jungen unvergesslich machen wird.
10. Henthien
Die Frühlingsferien fingen an zu beginnen, und als Julia Juliette wieder traf, beschwerte sie sich umgehend: „Jetzt meidet er mich“. „Hat er sich in ein anderes Mädchen verknallt?“ „Nein, er ist immer allein, aber zurieden jetzt. Als würde er einen Suizid oder Amoklauf planen“. „Du hast zu viele Filme gesehen“. Juliette ging zum Fenster, es regnete. „Miezen“, fing sie an, und Julia hörte mit sprichwörtlich aber nicht wörtlich offenem Mund zu, „sind gar nicht so wichtig wie man immer denkt. Wir alle profitieren von einer Kultur der Miezenverherrlichung, Miezen werden aufs Podest gestellt, als ginge es Leben nur um uns. Der Teil, der daran wahr ist, ist, dass es den meisten von uns eben um uns selbst geht“. Tränen zierten Julias verständnisloses Gesicht. Juliette nahm sie in den Arm und flüsterte: „Oder du bist selbst in eine Mieze verknallt. Dann kannst du immer noch glauben, dass Miezen das Wichtigste sind“.
Er lebte moralisch, ein Leben der psychischen Selbstgeißelung und Askese. Und er beging mit 22 Suizid. „Und jetzt bist du 22“, lachte Anique. Der Beschützer von Aris Schützlingsmaus erzählte weiter: und er kam in die Hölle. Ein düsterer unterirdischer Ort voller Hässlichkeit und Leiden, aber vor allem depressivistisch und leblos. Doch das automatische Weltgesetz hatte ihn nicht nur bestraft: für seinen tadellosen Lebenswandel erhielt er Fähigkeiten. Also kam ein Zenobit, eine Art Bürokrat der Hölle auf ihn zu, und fragte ihn, ob er entflohene Höllenbewohner in der Welt der Lebenden wieder jagen wolle. Er fragte gar nicht nach der Belohnung, sondern willigte ein, seine Pflicht zu tun. Also jagte er sie, das ist der Hauptteil des Films. Und seine Fähigkeiten entwickelten sich weiter, er wurde am Ende selbst so mächtig, dass keiner ihn hätte in die Hölle zurück zwingen können. Soll ich spoliern? Anique nickte. Er kam freiwillig zurück. Damit endet der erste Film.
Wer alles von Shaye Crayden gesehen hat, ist selber schuld. Man muss es sich aufteilen. Es ist deprimierend, wenn man die besten Filme alle schon kennt. Und wenn dann die postapokalyptische Serie, mit der man aufgewachsen ist, zu Ende geht, gibt es einstweilen nur noch Bücher. Oder man mietet einen gemütlichen Arenkord und fährt Lieth nach Henthien. Vor 1000 Jahren war überall hier nichts als dichter Wald. Und es ist heute fast immer noch so. Es gibt im Grunde nur ein paar Schneisen, ein paar Lichtungen, auf denen Gras wächst, Getreide wird eh aus Vengria importiert. Zwischen Reburt und Arenkord noch Heideflächen, aber richtung Südosten, da ist nichts als Wald. Der Wald als Quelle der Furcht in „Frightnight in Streedenborough“. Auf der Insel gibt es halt nicht viel Wald. Eine verlassene Fläche vor dem Zaun, kaum drei Fussballfelder groß. Dann fängt wieer der Wald an. Leben dort schwarze Landkraken auf Bäumen, die mit ihren Tentakeln? Lieths große Schwester zeichnete sie, um die Kleine zu ängstigen, um sie zu beschützen. Jetzt, in Winterstarre, ist es nicht so beeindruckend, wie Lieth erzählte. Aber man kann sich denken, wie es hier im August aussieht. Das letzte Haus vor dem Wald, keine Straße mehr, nichts, gar nichts, alte Schienen, alte Betonklötze, Spuren der Luftabwehr. Füchse kommen immer wieder vorbei. Lieth stieg aus, ihre große Schwester begrüßte sie, winkte dem Fahrer, und der Fahrer fuhr weiter nach Aniaine.
Woher weiß man, wie alt man ist, wie kann man sein geistiges Alter schätzen? Manchmal ist es, als hätte man viele Leben gelebt, und dann fühlt man sich doch auf das eine reduziert und beginnt zu rechnen: wieviel Lust, wieviel Leid? Lohnte es sich? „Und wer ist dein Lieblingsregisseur?“ kam die Fragerunde bei Kithie an. Kithie wusste wahrscheinlich nicht, was ein Regisseur war. Es gab auch Länder, in denen das Hauptaugenmerk auf den Schauspielern lag und der Regisseur nicht immer bekannt war. Andere Länder, andere Sitten, aber Kithie wollte schon Cliff Jules oder Ian Tuhuteru sagen, doch bevor sie sich mit einem Fussballernamen blamierte, fragte sie der kecke Jacques: „Nique Alice Toxvaerd?“ Kithie wurde knallrot. Die lesbischen Hochglanz-BDSM-Filme hatte sie erst diesen Winter entdeckt, aber jeden schon mehrmals gesehen. Heimlich. Allein. Die Peinlichkeitspause zog sich genüsslich in die Länge. „Ich habe ihr davon erzählt“, rettete Julia Kithie.
„Julia?“ rief der kecke Jacques mit charmantem Akzent. Er holte sie ein. „Julia, du musst nicht immer alle retten“. Julia blieb fragend stehen. „Lass den Leuten ihre unangenehmen Erfahrungen, sie haben ein Recht darauf“. Am Ende des Julianachhausebringens waren die beiden ein Paar. Kithie hockte nervös in ihrem Kinderzimmer, sie wollte ja nicht mitfahren, und ihre Eltern waren seit wenigen Minuten weg, und die Babysitterin war noch nicht da, und Kithie hoffte einerseits, sie würde nicht mehr kommen, doch hatte andererseits Angst nachts allein. Eine drahtige Mieze Mitte 20 klingelte schließlich an der Tür. „Du sagtest am Telefon, ich sollte Filme mitbringen“, zeigte sie, was sie dabei hatte. Kithie wurde knallrot. Erst um 8 Uhr morgens gingen die Miezen schlafen, während am anderen Ende der Stadt Sophie Fotos von Ariadne betrachtete. Sie konnte nichts in Worte fassen, nur Ein-Wort-Gefülle stallisierten sich kri: Kindheit, Freiheit, Glück, Liebe, Zartheit, Vergänglichkeit.
11. Incel
Die Frühlingsferien vorbei, Abiturprüfungen für Anique und Juliette. In wenigen Wochen großer Identitätsverlust: Schule vorbei. Im Frühjahr Schulmieze, im Herbst Unimaus. Vom Senior unter der Kleinen zum Junior unter den Großen. Und doch ist Schule Schule, als eine Art kindheitschützende Institution war sie kein Ort des Erduldens und Absitzens, sondern ein Ort, an dem das Leben in seiner zartesten und beschütztesten Form stattfand. Zwischen der 10. und der 11. Klasse nahmen die meisten ein Freijahr, um diese schöne Zeit zu dehnen, manche auch zwischen der 11. und 12. Und nach der Prüfungsphase Ende März war die einen Monat längelnde Kältewelle vorbei. Im Ästhetikunterricht der 12. hielt jemand ein Referat über Spezifische Schwäche, es ging um eine wundervolle Eigenschaft des mädchlich-miezlicher Körpers, darum nämlich, dass die Arme zur Schulter hin nicht dicker werden, aber auch nicht ausgehungert dürr aussehen, sondern, man sieht es halt insbesondere bei Anique. Doch manchmal sind nicht die Zartesten die Schwächsten.
Es geschah in diesem großen und frechen Land des siegreichen Liberalismus, in dem das anthropologische Niveau wohl auf die primitivste Formel Essen-Fortpflanzung-Dominanz zurückgekehrt war. Im oberen Café des Eliteinternats unterhielten sich Anique, Ariadne und ihre Maus, als die verängstigte Sophie, reflexartig-beschützerisch nach der Maus greifend, fragte: „Habt ihr die Nachrichten gesehen?“ Eli setzte sich dazu und schüttelte facepalmend mit dem Kopf. Er hatte Verwandte in diesem bescheuerten Land. Fernsehfliegen und Radiogeschmeiß aus jener Richtung griff noch letzte Woche den Gesestzesentwurf diesseits des Ozeans an, nachdem nicht nur in Elite-, sondern in allen Schulen sofortiger Schulverweis bei Verlust der Unschuld drohte. Drüben sah man die Sache anders: Jeder hat das Recht auf Sex, und das so früh wie möglich. Und wer in der 12. Klasse immer noch keinen hatte, ist ein Incel.
Der Junge hatte seine Tat in der Silversternacht geplant: das war die letzte Frist. Wenn dann immer noch nichts mit Miezen gelaufen ist, ist es endlich Zeit, sich zu rächen. Die unerträgliche Ungerechtigkeit der Einsamkeit. Die unhinterfragte Anspruchshaltung. Und so kam er, wie immer unscheinbar, eines Märzmorgens in die Schule, und stellte vor der großen Pause seine Kanone im Schulhofgebüsch auf, ein gewaltiges Maschinengewehr mit so viel Munition wie in seine alte Karre passte. Immerhin noch Führerschein gemacht. Es klingelte, die Schüler kamen in den Hof, an diesem Ende der Welt war es ein warmer Tag. Die Sonne schien und er eröffnete das Feuer. Er schoss und schoss und schoss und schoss und schoss, und der Rest sind Zahlen. „187 Tote“, setzte sich Elis bester Freund kurz an den Tisch, um seine Unlust kundzutun, die Sache morgen im Unterricht besprechen zu müssen. „Wir gehen ins Waffenmuseum“, entschied Eli.
Die unvermeidliche Aufarbeitung der Nachrichten des Abends verdüsterte einen schönen Morgen, der mit Tauwetter lockte. Anique schaute noch bei dem Beschützerfreund von Aris Maus vorbei, er war hat der Teemeister. „Keine Nachricht wert“, kommentierte er das Grauen, „es war ja vorauszusehen. Schaut euch einfach die Serie Endangered Species an, da wird das alles vorweggenommen. Die Nachricht des Tages für mich ist, dass dieser März mit durchschnittlich -2,4° der kälteste der dokumentierten Klimageschichte ist“. Die 12-ten Klassen verschwendeten nicht viel Zeit mit der Besprechung des Unaussprechlichen. Es wurde über das Jahrbuch und den Abschlussball gesprochen. Bei Jüngeren ging die Post ab. „Incel“, nannte er sich im Abschiedsbrief, begann es mit einem Stichwort in Lieths 11-ter Klasse. Es wurde immer heiterer, kam zu politischen Lösungsvorschlägen: „Jeder hat das Recht auf Miezen“. „Und konkret?“ „Wer vor dem Schulabschluss nicht mindestens eine 8 entjungfert hat, der bekommt einen Entjungferungsgutschein vom Staat“. „Reicht mathematisch nicht“. „Das Leben ist keine Mathematik, im Leben geht es um das Streben nach Glück!“ „Haha, um das rücksichstlose, selbstzerstörerische mörderische Streben nach Glück!“ „Und was ist Glück?“ Der junge Aphoristiker und Liedermacher, der neben Lieth saß, bat sie nonverbal, in andächtigem Ernst mit ihrer unschuldigst zarten Stimme seine eben verfasste Antwort vorzulesen. Gespannt auf die Wortmeldung des ultraschüchternen Mädchens, hörte die Klasse in ehrfürchtiger Stille zu. „Glück ist Zeit mal Zärtlichkeit“, versetzte die Maus ihre Klasse in eine Orgie des Kicherns.