Montag, 15. Februar 2021

Der Auspuff

 

 

 

Ein junger Mann wollte ein Auto kaufen. Als er ins Autohaus kam, wurde er keines Blickes gewürdigt. Also ging er nach Hause und kaufte sich erstmal einen schicken Anzug, eine teure Armbanduhr und ließ sich mit einem Taxi zum Autohaus bringen. Jetzt wurde er bemerkt und der Verkäufer fragte ihn nach seinem Wunsch.

"Ich will, dass mich der Anblick des Wagens inspiriert und motiviert", sagte der junge Mann, worauf der Verkäufer mit der Floskel "Hm. interessant" erwiderte. Der Mann sprach weiter: "Ich will fühlen, dass es mein Wagen ist, will ihn gut pflegen und vor Schäden bewahren. Ich will, dass mein Wagen etwas besonderes ist, etwas, wofür ich Zärtlichkeit und Treue empfinden kann". Zuerst rollte der Verkäufer mit den Augen. Dann zeigte er dem Mann ein Auto, und dieser erschrak.

"Was stimmt denn mit dem Auto nicht?" fragte der Verkäufer, und es war offensichtlich: die Karre war abgenutzt, dreckig und zerkratzt. "Aber schau mal auf den Auspuff!" rief der Verkäufer, "Was für ein prächtiges, verruchtes Loch!" "Ja, und?" wunderte sich der Mann, "Klar gehört der Auspuff zum Wagen dazu, aber..." "Was aber? Der Auspuff ist das Wichtigste! Oder bist du kein Mann? Ein richtiger Mann guckt sofort auf den Auspuff, darauf kommt es doch an!" lachte der Verkäufer. Der beschämte junge Mann senkte seinen Kopf und kaufte die Schrottkarre.

Donnerstag, 11. Februar 2021

Die Kugel

 

 

 

 

 Angetrieben vom Weltekel, bin ich mit 38 auf einen Berg gegangen. Am Gletscher baute ich mir ein Haus, lebte in der Tundra, spazierte im Hochwald. Seit dem Frühjahr bin ich nun hier bzw. weg, und nun ist Spätsommer. Ein herrlicher Tag, ich bin den ganzen Tag unterwegs. Ich folge den Füchsen, spiele mit ihnen, gehe so weit runter in den Bergwald wie noch nie, und höre seit Monaten wieder einmal eine menschliche Stimme. Ein Junge mit einer hochwertigen Kamera steht vor mir, er schießt Naturfotos. Er ist zwanzig Jahre jünger als ich und noch sehr kindlich. Aber für mein Alter bin ich auch kindlich. Und so begegnen wir uns: kindlich und aufgeschlossen, ohne das Grundmisstrauen, das allen menschlichen Begegnungen vorangeht.

Als er weiter hoch will, muss ich ihn aber warnen: intuitiv war mir von Anfang an klar, dass etwas mit diesem Berg nicht stimmt. Wenn ich ihn gefunden habe, warum war noch nie ein anderer Mensch hier oben? Warum haben nie Menschen hier gelebt? Ein dominanter, arroganter, jungfräulicher Berg. "Hast du die Leichen im Wald gesehen?" fragt der Junge und ich erinnere mich an Wanderer, an denen ich am Tag meines Aufstiegs vorbeiging. Alle bekamen Herzprobleme und konnten nicht weiter hochsteigen. Ich sehe mir die Leichen an und begreife, dass ihr Herz geplatzt sein muss, wahrscheinlich aufgrund ihrer Verderbtheit. Der Junge begleitet mich bei meiner Rückkehr hoch, er will weitere Fotos schießen. "Wie fühlst du dich?" frage ich ihn, als wir hoch genug sind. "Besser. Mein Kopf ist klarer, mein Herz weitet sich, ich nehme alles schärfer wahr. Ich mag es hier. Darf ich bleiben?"

Wir machen ein Lagerfeuer und reden über die Schönheit der Natur. Wie er immer die Sonne in seinen Bildern einfängt, wie er schon vorher lächelt, wenn er gleich ein geniales Bild schießt. Den ganzen nächsten Tag sind wir auf Bilderjagd, er zeigt mir das Handwerk seiner Kunst. Ich sage am späten Abend: Hier können wir einen Infinity Pool bauen, und dort ein Baumhaus, doch er ist INFP, Träumer, und ich INTJ, Architekt, er sagt, lass alles, wie es ist, es ist doch schön hier. Doch Pläne und konkrete Ideen verlassen nie meinen Kopf. Am nächsten Tag regnet ist, wir bleiben im Holzhaus, das ich gebaut habe. Er mag das Haus, und das mag ich. Er sagt, das Haus habe etwas Natürliches, als wäre es von selbst entstanden. Was meint er denn? Dass ich überflüssig bin? Er sagt, besser kann man ein Haus nicht bauen. Ein Werk ist vollkommen, wenn man den Meister nicht sieht. Ich frage, wie er das meint. Er sagt: "Du als Mensch bist Ebenbild Gottes, doch ich sehe nichts von Gott, ich sehe nur dich. Er hat dich so vollkommen erschaffen, dass du nur als du selbst existierst, nicht als das Werk eines anderen".

Die Nacht wird länger, wir trinken Tee. "Hast du übrigens diese Murmel bemerkt, als wir oben waren?" frage ich, und er verneint. Nichts entgeht ihm, doch diese metallfarbene Murmel ist ihm nicht aufgefallen. Am nächsten Tag gehe ich zu der Stelle hin, es ist eine geometrisch korrekte kreisförmige Vertiefung auf einer Granitfläche, etwa 20 Schritte im Durchmesser. Genau in der Mitte liegt nun eine Stahlkugel, etwas größer als die Murmel gestern, etwas kleiner als ein Tennisball. Ich will sie aufheben, doch sie ist zu schwer. Ich kehre zurück ins Haus und mache mir einen kräftigen schwarzen Tee. "Hast du Freunde?" fragt der Junge. "Dich", sage ich. Nach einer Verlegenheitspause sage ich, dass ich natürlich auch dort unten, in der Welt, Freunde habe. Habe ich sie verlassen oder sind sie mir nur nicht gefolgt? Ich plane sonst im Voraus, doch auf diesen Berg zu steigen, war nicht mein Plan. Ich bin hier geblieben, weil sich zum ersten Mal in meinem Leben etwas wie ein Zuhause angefühlt hat.

Eine Woche ist vergangen, und wir lernen uns erst richtig kennen. "Guck mal, Affenhausen", zeigt er mir auf einen der vielen Orte, die wie auf der Handfläche liegen und bei klarem Himmel so deutlich zu sehen sind, dass es an Spionage grenzt. "Knisterndenstedt", zeige ich auf eine interessant strukturierte Ortschaft. "Widerlingen". "Furzenhausen". "Erschießmichstadt". "Flugzeugabstürzlingen". Während ich noch lache, sagt er: "Da ist tatsächlich ein Flugzeug abgestürzt". "Darum nenne ich es ja so", bin ich immer noch heiter. Ich rechne die Trajektorie im Kopf nach: das Flugzeug muss über unseren Berg geflogen sein, ist es aber nicht. "Das ist ein magischer Berg. Das wusste ich schon, als ich ihn zum ersten Mal sah", flüstert der Junge. "Und wusstest du, dass du nicht wieder zurückkehren wirst?" "Ich hoffte es", senkt er den Kopf. Ich frage ihn, was ihm denn passiert sei, doch er sagt nur: "Ich bin in letzter Zeit von einigen Menschen, die mir wichtig waren, enttäuscht worden". Aber seine Kindheit war glücklich. Und die will er hier fortsetzen, ich habe nichts dagegen.

Nun gehe ich doch mal die Kugel besuchen. Sie ist wieder gewachsen und hat die Größe eines Fussballballs. Perfekter stählerner Glanz. Warum kommt er nicht her, um ein Foto zu schießen? Hat er Angst vor der Kugel? Ich höre Schritte und gehe zurück zum Haus. Da steht ein Mann meines Alters, aber hochgewachsen, mit kurzem Bart und weisem Blick. "Diese Kinder sind zu mir gekommen", zeigt er auf eine Kinderschar und ich schicke sie nicht weg: "Ja, lass doch". Sie bauen vorerst Zelte, für den Winter werden sie, versichere ich, Häuser haben. "Zeigst du sie mir?" fragt er mich mit bohrendem, aber angenehm bohrendem Blick. Ich führe ihn zur Kugel, die jetzt eher basketballesk anmutet, doch hochheben und spielen ist nicht: sie ist zu schwer. Auch wir beide können sie nicht hochheben, ja nicht einmal vom Boden bewegen. "Woher wusstest du, dass es sie gibt?" frage ich ihn. "Mein Vater hat es mir gesagt. Ich bin wegen ihr hergekommen. Und die, die reinen Herzens sind, habe ich mitgenommen". "Sind das alle, die reinen Herzens sind?" zeige ich auf die Kinderschar und er lächelt: "Nein, es kommen noch mehr".

Der August bringt noch mehr Kinder auf den Berg, kindliche Jugendliche, weise und gute Männer. Ich begrüße meine INTJ- und INTP-Freunde, die auch den Weg hierher gefunden haben. Aber die meisten, die hier ankommen, sind INFP. Es wird den ganzen Tag gebaut, doch es sieht nie wie eine Baustelle aus, es ist harmonisch und gemütlich. Füchse kommen zu Besuch, Mädchen lächeln, Adler fliegen. "Ich habe aufgehört, Fotos zu schießen", sagt der Junge. "Ich muss die Schönheit nicht mehr suchen, sie ist überall". "Und ihr seid es, die sie erst erschaffen. Ohne euch wäre das Leben nur eine Wiederholung des Vorherigen nach dem Diktat der Nützlichkeit, nach dem Zwang der selbstsüchtigen Interessen. Ihr aber erschafft neue, lebenswerte Realitäten. Ihr Träumer seid das Herz der Welt".

Wie geht es meiner Kugel? Sie glänzt herrlich in der Sonne, mannshoch, strahlt eine ehrfurchtgebietende Schwere aus. Ein kleines Mädchen kommt einem Fuchs nachgelaufen und streichelt die Kugel: "Sie gefällt mir". Ende August ist meine Lieblingsjahreszeit, die Spaziergänge mit alten Freunden und dem weisen Mann erstrecken sich über den ganzen Tag, der schwarze Tee danach schmeckt immer besser. Am 29. August sehe ich ein bekanntes Gesicht. Der zehnjährige Junge lächelt, und ich kenne ihn, aber woher kennt er mich? Doch er fällt mir einfach in die Arme, wie ein Stern vom Himmel. Natürlich, lacht mein Herz, das ist John Connor! Doch die Nacht verbringe ich im Dunkeln, in der Tiefe des Waldes, einer wie John Connor kommt nie nur zum Spaß vorbei. Ich berate mich mit dem weisen Mann und er sagt mir: "Die Kugel ist INFJ wie ich, und ihr habt sie erschaffen." "Wer? Der Junge und ich?" "So ist es. Bei einer vollkommenen INTJ-INFP-Synergie entsteht INFJ". "Was für INFJ? Kein INFJ-Mensch, sondern INFJ an sich?" "Mann und Frau erschaffen zufällige Existenz, kopieren das, was schon da ist, bringen neue Menschen zur Welt. Zwei reine Seelen erschaffen Realität. Das ist wahre Schöpfungskraft. Ich hoffe, dass es dir nicht gefallen wird, was die Kugel bedeutet, doch ich hoffe auch, dass du sie in Bewegung setzen wirst. Nur ein vollkommener INTJ hat die Willenskraft, es zu tun".

Der 1. September. Der Tag des Anfangs schlechthin, war immer wie Neujahr für mich. Der Höhepunkt des Jahres ist der Sommer, aber es beginnt mit dem Herbst. So habe ich es jedenfalls erlebt, es gibt auch andere Lebenserfahrungen. Ich lerne jeden Tag neue Menschen kennen, und sie sind alle gut. Die Welt ist endgültig verdorben, sagt der INFJ, all die ESTJs und ESTPs und ENTJs und ENFJs und ESFJs und ISTJs und ISFJs sind längst zu Zombies geworden. Die ESFPs, ENTPs, ENFPs, ISTPs und ISFPs sind beyond the point of no return. Auch die meisten INTJs, INTPs und INFJs sind nicht mehr zu retten, und natürlich gibt es dort unten viel mehr schlechte INFPs als gute hier oben. Doch wie du schon sagtest: Die Träumer sind das Herz der Welt.

Und das Herz darf nicht verderben, sonst ist die Welt verloren. Die Kugel strahlt und wächst. Ein glücklicher September vergeht wie ein einziger Augenblick, doch im Nachhinein wie zehn erfüllte Jahre. Am 1. Oktober treffen uns der weise Mann und ich bei der Kugel, wobei, wenn man ihre Ausmaße in Betracht zieht, dann wohl eher unter der Kugel. "Siehst du den Weg?" Er meint den hypothetischen Weg der Kugel nach unten. Ich nicke bejahend. "Das ist die Rampe. Die Kugel muss rollen. In drei Tagen schickst du sie auf ihren Weg". Nach einer gedankenversunkenen Schweigepause frage ich: "Was wird sie dort unten anrichten?" "Das lass die Sorge meines Vaters sein". "Kenne ich deinen Vater?" Er lächelt. "Und was passiert, wenn die Kugel hier bleibt?" "Dann wird sie diesen magischen Berg einebnen und alles in der Welt vermischt sich zu einer braunen Brühe aus Scheiße, und Ozeane flüssiger Scheiße werden Jahrtausend für Jahrtausend an öde Steinküsten klatschen. Ein Geruch, wie in der Hölle, wird die Lüfte erfüllen, und nichts, was edler ist als Gewürm, wird in dieser Welt leben können". Ich schließe die Augen und stelle es mir bildlich vor. Doch mein demütiges Herz sagt: "Ich will es nicht tun". "Das ist gut. Keiner darf es tun, der es aus Rache tut". "Alles, was ich fühle, ist Demut. Ehrfurcht vor der Schönheit. Liebe zur Schöpfung. Wer bin ich, um die Welt untergehen zu lassen?" "Du bestimmst nur, wie die Welt untergeht: durch Nihilismus oder durch Gerechtigkeit".

So kostbar, diese letzten Tage. In der Nacht zum Vierten sehe ich Tinke im Traum: ein zierliches schlankes achtjähriges Mädchen mit großen Augen und langen dunklen Haaren. "Ich grüß dich, Ni hero", sagt sie zu mir. "Ich grüß dich, Fi child", antworte ich. Sie umarmt mich so sanft, hauchartig, sie hat ja keine Kraft, aber es fühlt sich an, als drückte sie mitten durchs Herz, als wäre mein Herz schließlich ganz in ihr. Ich wache auf und mein inneres Wolfsmädchen steht leibhaftig vor mir. John Connor hält ihre Hand, sie sind bereit für eine neue Welt. Gemeinsam mit der Sonne schreite ich zur Kugel, und als sie in den ersten Sonnenstrahlen in all ihrer Herrlichkeit erglänzt, stoße ich die mammutbaumhohe Kugel mit übermenschlicher Kraft auf die Rampe, und die Kugel rollt.

Samstag, 6. Februar 2021

Einen Vogel gezeigt

 

 

 

Ein edler Adler glitt genüsslich durch die Lüfte: er hatte mit allen Härten des Lebens gekämpft und gewonnen und war ein selbstbewusster, humorvoller und lustiger Vogel. Als er einem Kaninchen hinterherjagte, sprang dieses in einen Teich, in dem der Adler auf Wasserpflanzen in der Gesellschaft von Fröschen und Kröten einen kleinen niedlichen Vogel entdeckte. Der Adler vergass das Kaninchen und kam herunter zum kleinen Vogel: "Warum fliegst du nicht, du bist ein Vogel?", wunderte sich der Adler, und der kleine Vogel erzählte ihm daraufhin von seinen vielen Träumen und Hoffnungen. Das wiederholte sich nun jedesmal: der Adler hörte stundenlang den Sorgen und Nöten des kleinen Vogels zu, aber sobald er einen Lösung- oder Verbesserungsvorschlag aussprach, wurde er mit einem körpersprachlichen oder gesichtsausdrücklichen: "Du verletzt mich!" zurückgewiesen. Doch der Adler gab nicht auf und machte dem kleinen Vogel immer wieder Mut und Hoffnung, fliegen zu können. Monate vergingen. Die beiden Vögel kannten sich immer besser, aber verstanden sich immer weniger.

Der Adler begann an sich selbst zu zweifeln: vielleicht war er doch nicht so ein starker und lebenserfahrener Luftbewohner wie er dachte; er fühlte sich nach jedem weiteren Gespräch immer mehr gehemmt, unvoreingenommen und mit Humor seine Meinung zu sagen, um die enge und selbstzerstörerische Weltsicht des kleinen Vogels herauszufordern; er verlor seine Lebensfreude und war dem kleinen Vogel kein Vorbild mehr, sondern ein trauriger Sumpfbewohner wie jeder andere, den der kleine Vogel kannte. Eines Tages musste der starke stolze Adler zum ersten Mal weinen. Da klopfte ihm der kleine Vogel auf die Schulter und sagte: "Du und ich, wir sind Frösche fürs Leben!" Und das war noch als Ermutigung gemeint.

Donnerstag, 4. Februar 2021

Die Maus und die Eule

 

 

 

Eine besonders kluge und weise Eule entdeckte zarte platonische Gefühle für eine niedliche Maus. Erst fürchtete sich die Maus, doch nachdem die Eule sich mit der Zeit nicht als Fressfeind, sondern als Beschützerin der Maus erwies, wurden sie Freunde. Doch etwas stimmte nicht, denn die Maus hörte nicht auf zu nörgeln. Mal beklagte sie sich über ihr Leben, mal bemitleidete sie sich selbst als dumm und hässlich, mal unterstellte sie der Eule, sie doch irgendwann fressen zu wollen.

Die Eule hörte geduldig zu und half der Maus, wo sie nur konnte, doch das ressentimentgeladene Nagetier hörte nicht auf zu jammern: "Du magst mich doch nur, weil ich niedlich bin. Zu dir aber schauen alle auf und bewundern deine Weisheit". "Mit der Zeit wirst auch du weise, und bis dahin: was ist falsch daran, dich zu mögen, weil du niedlich bist? Ich habe dir ja schon tausendmal bewiesen, dass ich dich nicht fressen will". "Ach, ich bin doch nur ein Stück Scheiße", sagte die Maus abermals und wartete, was die Eule antworten würde. Doch diesmal flog die Eule einfach weg und kam nie wieder.

Mittwoch, 3. Februar 2021

Dreamer

 

 

 

 Als erste Herbstblätter fielen, da kam auch ein ängstliches und verträumtes Mädchen neu in die Schule. Ihre Blicke trafen sich, und auf dem Radweg heim brach Cliff, so war sein Spitzname, einen zwei Jahre alten Geschwindigkeitsrekord. Aber er war trotzdem 18 und hatte null Bock. Um 22:22 war die Zeit für das Ritual: er holte einen Revolver mit einer 1/6-Chance auf Erlösung aus einem Versteck in seinem Zimmer und ging in den Wald. Er drückte ab, wie an jedem ersten Montag eines Monats, doch auch der September wollte ihn nicht heimschicken. Aber einfach von der Brücke zu springen wäre falsch, es sollte wenigstens Schicksal sein.

Vier Wochen, vielleicht endlich dann. Ihre Blicke trafen sich wieder, und Cliff glitt schwerelos über den Schulhof, improvisierte vortrefflich ein schon als glatte 6 abgeschriebenes weil nicht vorbereitetes Referat und wachte erst am Ende der letzten Stunde aus einem unerklärlichen Flow auf. Er fuhr zu Rade heim und dachte nach: bevor ich mich umpuste, jeden Tag eine gute Tat, vielleicht ist es das. Könnte helfen. Schlafen konnte Cliff die ganze Nacht nicht, fühlte sich aber wach wie nie und dachte auf dem Schulweg über Wörter auf C, die sechs Buchstaben haben. Und nannte sie dann stattdessen Kleinique, weil ihm nichts niedlicheres auf C einfiel.

Das Mädchen mit C und fünf weiteren Buchstaben bekam im Vorbeigehen einen kleinen Brief in die zierliche Hand gedrückt und erschien am nächsten Tag in einer heitereren Stimmung. Jetzt wusste Cliff, was er zu tun hatte: jeden Tag etwas Gutes tun, und um den Sinnflow aufrechtzuerhalten, diesem Mädchen jedesmal einen Zettel zustecken, auf dem der Titel eines Songs stand, der Kleinique aufbauen sollte. Denn sie war einsam; schön, und deshalb auch beliebt, aber sie konnte keinem trauen. Entweder wollte jemand mit ihr zusammen sein, oder was von ihr, oder beides, oder einfach nur ihre Nähe aufsuchen, um sich mit ihr in Pausenhofgesellschaft sehen zu lassen. Und sie war so unsicher, so vierzehn. Und es schlug Oktober.

Cliff freute sich auf und schließlich über den ersten Montag. Die acht Stunden vergingen wie nichts, er machte einen langen Mittagsschlaf und brach zu seinem schicksalhaften Spaziergang auf. Er lächelte und drückte ab. Wieder nichts. Noch einen Monat leben. Cliff trauerte nicht lange, er begann stattdessen, den Rest seines Lebens in aller Feierlichkeit zu durchschreiten, verhielt sich nach den Herbstferien sozialer und wurde immer beliebter. Gleichzeitig tat er, was er konnte, um auf Kleinique aufzupassen und sie zu beschützen. Sie spürte seine Spur in ihrem Schulalltag; als hätte sie einen Schutzengel, um es zu untertreiben. Und er sorgte diskret dafür, dass sie die richtigen Leute kennenlernte, die gut zu ihr und gut für sie waren. Und wieder war ein Monat vorbei. Jetzt habe ich es mir verdient, dachte Cliff.

Er schoss und fiel hin, doch es war nur ein Knacken im Wald, im Revolver war dagegen, als er nachsah, überhaupt keine Kugel drin. Selber schuld, schulterzuckte er sich heim und lächelte. Es war keine Absicht, er hätte schwören können, dass er die Kugel wie immer dabei gehabt hatte. Egal, vielleicht beim zwölften Mal, das hätte auch etwas Poetisches. Die Noten verbesserten sich über den November drastisch, Cliff wurde mühelos zum besten Schüler, und sah im Vorbeigehen ein immer glücklicheres kleines Mädchen. Jeder wollte sie kennenlernen, aber Cliff hat es geschafft, dass sie die richtigen Leute kennengelernt hatte. Dabei war auch ein Junge, den Cliff respektierte, und es sah so aus, als wären die Beiden ein Paar geworden. Gegen Eifersuchtsanfälle half auszehrender Sport. Und es würde eh bald Dezember werden.

Erster Dezembermontag, Schulkorridor. Im Vorbeigehen steckte das Mädchen Cliff einen kleinen Brief in die Hand. Cliff freute sich mit einem langen Pokerface, das er erst um 22:10 im Wald auflöste. Er dachte darüber nach, ob es überhaupt einen Sinn hätte, auf den letzten Metern noch zu erfahren, was in diesem Brief stand. Die Finishline war ja jetzt in Sicht, und falls es um 22:21 nicht egal war, wäre es um 22:23 eh egal gewesen. Zehn Sekunden vor dem Schuss schulterzuckte er sich ein Wassolls und las den Brief. Da waren nur Ziffern. Cliff rief an. Am nächsten Tag warf er den Revolver in den Fluss. Im Vorbeigehen flüsterte er von da an jeden Tag kurze und knappe Sätze, gerade für Kleinique hörbar, Sätze wie „Ich habe dich so vermisst“, oder „Du hast mir gefehlt“, oder „Du fehlst mir gewaltig“ und noch viele weitere Untertreibungen. Und einmal saß er in ein Buch vertieft in der Schulbibliothek und als die Schule von außen abgeschlossen war und eine tiefe und dunkle Dezembernacht über die Stadt fiel, setzte sich jemand zu ihm.

Von da an trafen sie sich jede zweite-dritte Nacht in einem vorher ausgemachten Raum der Schule und redeten die ganze Nacht miteinander. Diese Augen, diese Blicke, dieses Herzklopfen; diese Harmonie, dieses gegenseitige Verstehen, diese Freundschaft eines Aliens mit einem Engel. Und bald konnten sie es auch tagsüber nicht mehr verstecken und lachten sich auf dem Schulhof schon vom weiten nur noch an. Auf gewecktes Interesse der anderen traf die unerwartete Tatsache, dass sie nichts miteinander hatten. „Also seid ihr nur Freunde?“ atmete jemand mit einer abwertenden Erleichterung auf. Daraufhin explodierten beide vor Lachen. „Nur, der war gut“, lachte Kleinique Tränen, umarmte Cliff und flüsterte ihm die Koordinaten für den nächsten geistig-seelischen Flug ins Weltall ein.