Angetrieben
vom Weltekel, bin ich mit 38 auf einen Berg gegangen. Am Gletscher
baute ich mir ein Haus, lebte in der Tundra, spazierte im Hochwald. Seit
dem Frühjahr bin ich nun hier bzw. weg, und nun ist Spätsommer. Ein
herrlicher Tag, ich bin den ganzen Tag unterwegs. Ich folge den Füchsen,
spiele mit ihnen, gehe so weit runter in den Bergwald wie noch nie, und
höre seit Monaten wieder einmal eine menschliche Stimme. Ein Junge mit
einer hochwertigen Kamera steht vor mir, er schießt Naturfotos. Er ist
zwanzig Jahre jünger als ich und noch sehr kindlich. Aber für mein Alter
bin ich auch kindlich. Und so begegnen wir uns: kindlich und
aufgeschlossen, ohne das Grundmisstrauen, das allen menschlichen
Begegnungen vorangeht.
Als er weiter hoch will, muss ich ihn aber warnen: intuitiv war mir von
Anfang an klar, dass etwas mit diesem Berg nicht stimmt. Wenn ich ihn
gefunden habe, warum war noch nie ein anderer Mensch hier oben? Warum
haben nie Menschen hier gelebt? Ein dominanter, arroganter,
jungfräulicher Berg. "Hast du die Leichen im Wald gesehen?" fragt der
Junge und ich erinnere mich an Wanderer, an denen ich am Tag meines
Aufstiegs vorbeiging. Alle bekamen Herzprobleme und konnten nicht weiter
hochsteigen. Ich sehe mir die Leichen an und begreife, dass ihr Herz
geplatzt sein muss, wahrscheinlich aufgrund ihrer Verderbtheit. Der
Junge begleitet mich bei meiner Rückkehr hoch, er will weitere Fotos
schießen. "Wie fühlst du dich?" frage ich ihn, als wir hoch genug sind.
"Besser. Mein Kopf ist klarer, mein Herz weitet sich, ich nehme alles
schärfer wahr. Ich mag es hier. Darf ich bleiben?"
Wir machen ein Lagerfeuer und reden über die Schönheit der Natur. Wie er
immer die Sonne in seinen Bildern einfängt, wie er schon vorher
lächelt, wenn er gleich ein geniales Bild schießt. Den ganzen nächsten
Tag sind wir auf Bilderjagd, er zeigt mir das Handwerk seiner Kunst. Ich
sage am späten Abend: Hier können wir einen Infinity Pool bauen, und
dort ein Baumhaus, doch er ist INFP, Träumer, und ich INTJ, Architekt,
er sagt, lass alles, wie es ist, es ist doch schön hier. Doch Pläne und
konkrete Ideen verlassen nie meinen Kopf. Am nächsten Tag regnet ist,
wir bleiben im Holzhaus, das ich gebaut habe. Er mag das Haus, und das
mag ich. Er sagt, das Haus habe etwas Natürliches, als wäre es von
selbst entstanden. Was meint er denn? Dass ich überflüssig bin? Er sagt,
besser kann man ein Haus nicht bauen. Ein Werk ist vollkommen, wenn man
den Meister nicht sieht. Ich frage, wie er das meint. Er sagt: "Du als
Mensch bist Ebenbild Gottes, doch ich sehe nichts von Gott, ich sehe nur
dich. Er hat dich so vollkommen erschaffen, dass du nur als du selbst
existierst, nicht als das Werk eines anderen".
Die Nacht wird länger, wir trinken Tee. "Hast du übrigens diese Murmel
bemerkt, als wir oben waren?" frage ich, und er verneint. Nichts entgeht
ihm, doch diese metallfarbene Murmel ist ihm nicht aufgefallen. Am
nächsten Tag gehe ich zu der Stelle hin, es ist eine geometrisch
korrekte kreisförmige Vertiefung auf einer Granitfläche, etwa 20
Schritte im Durchmesser. Genau in der Mitte liegt nun eine Stahlkugel,
etwas größer als die Murmel gestern, etwas kleiner als ein Tennisball.
Ich will sie aufheben, doch sie ist zu schwer. Ich kehre zurück ins Haus
und mache mir einen kräftigen schwarzen Tee. "Hast du Freunde?" fragt
der Junge. "Dich", sage ich. Nach einer Verlegenheitspause sage ich,
dass ich natürlich auch dort unten, in der Welt, Freunde habe. Habe ich
sie verlassen oder sind sie mir nur nicht gefolgt? Ich plane sonst im
Voraus, doch auf diesen Berg zu steigen, war nicht mein Plan. Ich bin
hier geblieben, weil sich zum ersten Mal in meinem Leben etwas wie ein
Zuhause angefühlt hat.
Eine Woche ist vergangen, und wir lernen uns erst richtig kennen. "Guck
mal, Affenhausen", zeigt er mir auf einen der vielen Orte, die wie auf
der Handfläche liegen und bei klarem Himmel so deutlich zu sehen sind,
dass es an Spionage grenzt. "Knisterndenstedt", zeige ich auf eine
interessant strukturierte Ortschaft. "Widerlingen". "Furzenhausen".
"Erschießmichstadt". "Flugzeugabstürzlingen". Während ich noch lache,
sagt er: "Da ist tatsächlich ein Flugzeug abgestürzt". "Darum nenne ich
es ja so", bin ich immer noch heiter. Ich rechne die Trajektorie im Kopf
nach: das Flugzeug muss über unseren Berg geflogen sein, ist es aber
nicht. "Das ist ein magischer Berg. Das wusste ich schon, als ich ihn
zum ersten Mal sah", flüstert der Junge. "Und wusstest du, dass du nicht
wieder zurückkehren wirst?" "Ich hoffte es", senkt er den Kopf. Ich
frage ihn, was ihm denn passiert sei, doch er sagt nur: "Ich bin in
letzter Zeit von einigen Menschen, die mir wichtig waren, enttäuscht
worden". Aber seine Kindheit war glücklich. Und die will er hier
fortsetzen, ich habe nichts dagegen.
Nun gehe ich doch mal die Kugel besuchen. Sie ist wieder gewachsen und
hat die Größe eines Fussballballs. Perfekter stählerner Glanz. Warum
kommt er nicht her, um ein Foto zu schießen? Hat er Angst vor der Kugel?
Ich höre Schritte und gehe zurück zum Haus. Da steht ein Mann meines
Alters, aber hochgewachsen, mit kurzem Bart und weisem Blick. "Diese
Kinder sind zu mir gekommen", zeigt er auf eine Kinderschar und ich
schicke sie nicht weg: "Ja, lass doch". Sie bauen vorerst Zelte, für den
Winter werden sie, versichere ich, Häuser haben. "Zeigst du sie mir?"
fragt er mich mit bohrendem, aber angenehm bohrendem Blick. Ich führe
ihn zur Kugel, die jetzt eher basketballesk anmutet, doch hochheben und
spielen ist nicht: sie ist zu schwer. Auch wir beide können sie nicht
hochheben, ja nicht einmal vom Boden bewegen. "Woher wusstest du, dass
es sie gibt?" frage ich ihn. "Mein Vater hat es mir gesagt. Ich bin
wegen ihr hergekommen. Und die, die reinen Herzens sind, habe ich
mitgenommen". "Sind das alle, die reinen Herzens sind?" zeige ich auf
die Kinderschar und er lächelt: "Nein, es kommen noch mehr".
Der August bringt noch mehr Kinder auf den Berg, kindliche Jugendliche,
weise und gute Männer. Ich begrüße meine INTJ- und INTP-Freunde, die
auch den Weg hierher gefunden haben. Aber die meisten, die hier
ankommen, sind INFP. Es wird den ganzen Tag gebaut, doch es sieht nie
wie eine Baustelle aus, es ist harmonisch und gemütlich. Füchse kommen
zu Besuch, Mädchen lächeln, Adler fliegen. "Ich habe aufgehört, Fotos zu
schießen", sagt der Junge. "Ich muss die Schönheit nicht mehr suchen,
sie ist überall". "Und ihr seid es, die sie erst erschaffen. Ohne euch
wäre das Leben nur eine Wiederholung des Vorherigen nach dem Diktat der
Nützlichkeit, nach dem Zwang der selbstsüchtigen Interessen. Ihr aber
erschafft neue, lebenswerte Realitäten. Ihr Träumer seid das Herz der
Welt".
Wie geht es meiner Kugel? Sie glänzt herrlich in der Sonne, mannshoch,
strahlt eine ehrfurchtgebietende Schwere aus. Ein kleines Mädchen kommt
einem Fuchs nachgelaufen und streichelt die Kugel: "Sie gefällt mir".
Ende August ist meine Lieblingsjahreszeit, die Spaziergänge mit alten
Freunden und dem weisen Mann erstrecken sich über den ganzen Tag, der
schwarze Tee danach schmeckt immer besser. Am 29. August sehe ich ein
bekanntes Gesicht. Der zehnjährige Junge lächelt, und ich kenne ihn,
aber woher kennt er mich? Doch er fällt mir einfach in die Arme, wie ein
Stern vom Himmel. Natürlich, lacht mein Herz, das ist John Connor! Doch
die Nacht verbringe ich im Dunkeln, in der Tiefe des Waldes, einer wie
John Connor kommt nie nur zum Spaß vorbei. Ich berate mich mit dem
weisen Mann und er sagt mir: "Die Kugel ist INFJ wie ich, und ihr habt
sie erschaffen." "Wer? Der Junge und ich?" "So ist es. Bei einer
vollkommenen INTJ-INFP-Synergie entsteht INFJ". "Was für INFJ? Kein
INFJ-Mensch, sondern INFJ an sich?" "Mann und Frau erschaffen zufällige
Existenz, kopieren das, was schon da ist, bringen neue Menschen zur
Welt. Zwei reine Seelen erschaffen Realität. Das ist wahre
Schöpfungskraft. Ich hoffe, dass es dir nicht gefallen wird, was die
Kugel bedeutet, doch ich hoffe auch, dass du sie in Bewegung setzen
wirst. Nur ein vollkommener INTJ hat die Willenskraft, es zu tun".
Der 1. September. Der Tag des Anfangs schlechthin, war immer wie Neujahr
für mich. Der Höhepunkt des Jahres ist der Sommer, aber es beginnt mit
dem Herbst. So habe ich es jedenfalls erlebt, es gibt auch andere
Lebenserfahrungen. Ich lerne jeden Tag neue Menschen kennen, und sie
sind alle gut. Die Welt ist endgültig verdorben, sagt der INFJ, all die
ESTJs und ESTPs und ENTJs und ENFJs und ESFJs und ISTJs und ISFJs sind
längst zu Zombies geworden. Die ESFPs, ENTPs, ENFPs, ISTPs und ISFPs
sind beyond the point of no return. Auch die meisten INTJs, INTPs und
INFJs sind nicht mehr zu retten, und natürlich gibt es dort unten viel
mehr schlechte INFPs als gute hier oben. Doch wie du schon sagtest: Die
Träumer sind das Herz der Welt.
Und das Herz darf nicht verderben, sonst ist die Welt verloren. Die
Kugel strahlt und wächst. Ein glücklicher September vergeht wie ein
einziger Augenblick, doch im Nachhinein wie zehn erfüllte Jahre. Am 1.
Oktober treffen uns der weise Mann und ich bei der Kugel, wobei, wenn
man ihre Ausmaße in Betracht zieht, dann wohl eher unter der Kugel.
"Siehst du den Weg?" Er meint den hypothetischen Weg der Kugel nach
unten. Ich nicke bejahend. "Das ist die Rampe. Die Kugel muss rollen. In
drei Tagen schickst du sie auf ihren Weg". Nach einer
gedankenversunkenen Schweigepause frage ich: "Was wird sie dort unten
anrichten?" "Das lass die Sorge meines Vaters sein". "Kenne ich deinen
Vater?" Er lächelt. "Und was passiert, wenn die Kugel hier bleibt?"
"Dann wird sie diesen magischen Berg einebnen und alles in der Welt
vermischt sich zu einer braunen Brühe aus Scheiße, und Ozeane flüssiger
Scheiße werden Jahrtausend für Jahrtausend an öde Steinküsten klatschen.
Ein Geruch, wie in der Hölle, wird die Lüfte erfüllen, und nichts, was
edler ist als Gewürm, wird in dieser Welt leben können". Ich schließe
die Augen und stelle es mir bildlich vor. Doch mein demütiges Herz sagt:
"Ich will es nicht tun". "Das ist gut. Keiner darf es tun, der es aus
Rache tut". "Alles, was ich fühle, ist Demut. Ehrfurcht vor der
Schönheit. Liebe zur Schöpfung. Wer bin ich, um die Welt untergehen zu
lassen?" "Du bestimmst nur, wie die Welt untergeht: durch Nihilismus
oder durch Gerechtigkeit".
So kostbar, diese letzten Tage. In der Nacht zum Vierten sehe ich Tinke
im Traum: ein zierliches schlankes achtjähriges Mädchen mit großen Augen
und langen dunklen Haaren. "Ich grüß dich, Ni hero", sagt sie zu mir.
"Ich grüß dich, Fi child", antworte ich. Sie umarmt mich so sanft,
hauchartig, sie hat ja keine Kraft, aber es fühlt sich an, als drückte
sie mitten durchs Herz, als wäre mein Herz schließlich ganz in ihr. Ich
wache auf und mein inneres Wolfsmädchen steht leibhaftig vor mir. John
Connor hält ihre Hand, sie sind bereit für eine neue Welt. Gemeinsam mit
der Sonne schreite ich zur Kugel, und als sie in den ersten
Sonnenstrahlen in all ihrer Herrlichkeit erglänzt, stoße ich die
mammutbaumhohe Kugel mit übermenschlicher Kraft auf die Rampe, und die
Kugel rollt.