Samstag, 6. Februar 2021

Einen Vogel gezeigt

 

 

 

Ein edler Adler glitt genüsslich durch die Lüfte: er hatte mit allen Härten des Lebens gekämpft und gewonnen und war ein selbstbewusster, humorvoller und lustiger Vogel. Als er einem Kaninchen hinterherjagte, sprang dieses in einen Teich, in dem der Adler auf Wasserpflanzen in der Gesellschaft von Fröschen und Kröten einen kleinen niedlichen Vogel entdeckte. Der Adler vergass das Kaninchen und kam herunter zum kleinen Vogel: "Warum fliegst du nicht, du bist ein Vogel?", wunderte sich der Adler, und der kleine Vogel erzählte ihm daraufhin von seinen vielen Träumen und Hoffnungen. Das wiederholte sich nun jedesmal: der Adler hörte stundenlang den Sorgen und Nöten des kleinen Vogels zu, aber sobald er einen Lösung- oder Verbesserungsvorschlag aussprach, wurde er mit einem körpersprachlichen oder gesichtsausdrücklichen: "Du verletzt mich!" zurückgewiesen. Doch der Adler gab nicht auf und machte dem kleinen Vogel immer wieder Mut und Hoffnung, fliegen zu können. Monate vergingen. Die beiden Vögel kannten sich immer besser, aber verstanden sich immer weniger.

Der Adler begann an sich selbst zu zweifeln: vielleicht war er doch nicht so ein starker und lebenserfahrener Luftbewohner wie er dachte; er fühlte sich nach jedem weiteren Gespräch immer mehr gehemmt, unvoreingenommen und mit Humor seine Meinung zu sagen, um die enge und selbstzerstörerische Weltsicht des kleinen Vogels herauszufordern; er verlor seine Lebensfreude und war dem kleinen Vogel kein Vorbild mehr, sondern ein trauriger Sumpfbewohner wie jeder andere, den der kleine Vogel kannte. Eines Tages musste der starke stolze Adler zum ersten Mal weinen. Da klopfte ihm der kleine Vogel auf die Schulter und sagte: "Du und ich, wir sind Frösche fürs Leben!" Und das war noch als Ermutigung gemeint.