Die keiner kennt
Wie ist es eigentlich, muss ich mich schuldig fühlen, wenn jemand Amok läuft, weil er in mich verknallt ist? Ich bin 18 und sehr schuldfähig. Es ist kurz vor 8, es klingelt, einer sagt "Hi", und berichtet mir, dass Physik heute ausfällt. Stattdessen versammeln sich alle aus der 12. in einem größeren Raum und diskutieren über das was geschehen ist. Die sagen immer "hi" zu mir, trauen sich nie, meinen Namen auszusprechen. Ich gehe schnell aufs Jungsklo, da wird das bodenständige Geschäft in aller Geschäftigkeit verrichtet, da ist immer höchstens einer, und er sitzt im Kasten, von wo er mich nicht sieht. Keine Lust auf Konferenzen so früh am Morgen.
Der Englischlehrer sagt nicht viel, gibt die Klausuren zurück, ich habe eine Einsminus, weil ich mich manchwo spaßeshalber shakespearelike ausgedrückt habe. Um 8:11 gehts los. "Wie geht es euch?" fragt der Lehrer, zum Glück nicht auf Englisch, das wäre sehr peinlich und überhaupt nicht angemessen. Marie heult los wie auf Befehl: "Jannik fehlt mir". Ja, und mir fehlt Gannicus, flüstere ich verärgert. Wer, fragt mein Sitznachbar leise nach. Vergiss es, sage ich. Jannik wurde von hinten erschossen, zwei Kugeln trafen ihn am Kopf und im Nacken. Ich kannte ihn aus dem Deutsch-LK. Er wollte Lehrer werden. Fast keiner hört jemandem zu, viele schreiben SMS. Bald ist die Stunde vorbei.
Ich setze mich auf die Heizung im Flur, August setzt sich dazu: "Dein Gedicht ist geil, aber dieses Forum, ich weiß nicht, so komische Leute. Jedenfalls erinnert mich dein Gedicht an die Szene aus Hellraiser: Hell on Earth, nachdem Pinhead im Klub aufgeräumt hat". War das Lob oder Kritik? Ich frage nach. "Zum Thema Tod lese ich generell gern, aber es immer so, dass das Panorama danach, also nach den Tötungen ausgebreitet wird, bei allen, von denen ich bisher Lyrik gelesen habe. Man hat immer das Gefühl, dass man zu spät kommt, da ist alles eben schon passiert". Ich weiß, er mag vom Sterben lieber lesen, als vom Tod. "Es gibt gute Prosa über das Sterben, auch von dir, aber ich habe noch nie Gedichte gelesen, wo jemand stirbt. Komisch, oder?" Es klingelt wieder, Mathe wird kurz sein. Zu -matik wird es nicht mehr kommen. Wieder Gelaber und Geheul, diesmal heult Claudia. Sie saß unterm Tisch, als im Raum 314 geschossen wurde. Der Schütze traf niemanden, er hatte sich in der Tür geirrt, und feuerte nur symbolisch ein paar Schüsse ab. Aber Claudia hatte ja solche Angst.
Ich verstecke mein Gesicht immer im Haar, das habe ich schon als Kind getan. Ich würde locker für eine Zwölfjährige durchgehen. Von Pärchen und Flirts in der Schule bekomme ich nichts mit, gehe nie aus. Wen ich kenne, will ich nicht kennen, und wenn ich kennen will, kenne ich nicht. Da ist jemand in diesem komischen Forum, er erinnert mich an August, scheint aber viel düsterer zu sein, und schreibt Texte mit Titeln, die mir nichts sagen. Neulich las ich eine Geschichte über einen Schulamoklauf, war die von ihm? Ich sehe irgendwann mal nach, spaßeshalber. Die große Pause ist bald vorbei, und ich wollte eigentlich noch etwas trinken. Manchmal tinke ich absichtlich nichts, um das Gefühl zu haben, dass ich verdurste. Dann trinke ich und bin wieder voll da.
Der Showdown beginnt. Physik, oder das, was stattdessen veranstaltet wird. Der Direktor hält eine kurze Rede, das Motiv des Amokläufers ist zur Diskussion freigegeben. Sophie redet nur, wenn ganz viele zuhören. Sie hat diese hohe niedliche Kleinmädchenstimme, die zugleich so penetrant und fordernd ist. "Ich fühle mich als Mädchen in der Schule nicht mehr sicher", sagt Sophie. Entzücken ist garantiert, was für ein schützenswertes süßes kleines Wesen. Sie tut manchmal so, als würde sie mich hassen. Sie denkt, ich wäre mit August zusammen, dabei sitzen wir nur zusammen auf der Heizung. Sie hat mich schon einmal ohne Haare im Gesicht gesehen. Ich wollte ihr wirklich nicht so tief in die Augen blicken, es ist einfach passiert.
Eine Stunde ist nun vorbei, es haben nur Mädchen geredet. Die ganze Zeit. Es gab beim Amoklauf letzte Woche neun Tote und drei Verletzte. Ein Mädchen starb, eine Lehrerin wurde verletzt. Unsere Sozialkundelehrerin vermutet ein frauenfeindliches Motiv hinter dem Amoklauf: sie sagt, männliche Opfer zählten nicht, da der Täter auch männlich gewesen sei. Aber dass er auch auf Frauen geschossen habe, zeige ein frauenfeindliches Motiv. Auf einmal wird die Tür aufgerissen, und ein aufgebrachter Typ aus der elften Klasse stürmt in den Raum: "Ich weiß, wer ihn dazu angestiftet hat!" ruft er, "Ich kenne diese grausame Person!" Zwei Mädchen neben mir zucken zusammen, ich höre interessiert zu. "Wie kann man so herzlos sein!" wird er melodramatisch, bis der Direktor ihn auffordert, endlich Namen zu nennen, oder zu gehen. Er zeigt wortlos auf mich, und ich weiß, dass er meinen Namen kennt, aber er spricht ihn nicht aus. Es wird still und peinlich, bis der hübschen Katrin endlich ausrutscht: "Wie, wegen der? Nein, das glaube ich nicht." Alle sind ihrer Meinung, und ich habe wieder Haare im Gesicht.
Weiterer Unterricht fällt aus, ich gehe nach Hause. Ich bekam nie Liebesbriefe oder ähnliches. Keine Spur führt zu mir. Ich gehe erst in die Dusche, und später ins Internet. Draußen regnet es, ich poste ein Gedicht und lese einen sehr arrogant geschriebenen Text über die edle romantische Liebe, die sich niemals auf das Niveau der tierischen Begierden herablässt. Der Amokschütze hieß Peter, er hielt einmal in Religion ein Referat über die katholische Sexualmoral. Er sagte, er persönlich könnte nur mit einer Person schlafen, die er liebt. Geht mir genauso. Schlafen, versteht sich. Nicht das, was er meinte. Ich würde gern neben jemandem einschlafen, den ich unbeschreiblich mag, aber so jemanden habe ich leider noch nicht getroffen. Dem arroganten, herablassend auftretenden Autor zufolge hätte so jemand wie Peter gar nicht verdient, dass seine Gefühle erwidert werden, denn er faselte zwar von Liebe, wollte aber im Endeffekt nur schänden. Es regnet zwar immer noch, aber ich gehe nach Draußen, nehme diesen versteckten Feldweg zum Hügel. Die verschlafene Heide, dort hinten der Friedhof. Hoffentlich wird es dieses Jahr noch einmal ein großes Gewitter geben.
Die es nicht gibt
Bin ich seltsam, wenn ich sage, dass ich in den vier Wochen nach dem Amoklauf an unserer Schule niemals schreiend aufgewacht bin, und auch tagsüber weit davon entfernt war, an Angstzuständen zu leiden? Es ist etwas mit Sophie passiert. Zweite Stunde, sie setzt sich an ihren Tisch, es geht ihr wirklich schlecht. Sie versucht, nicht zu weinen. Dies misslingt ihr. Alle grüßen, fragen höflich, wie es ihr geht, um dann ganz schnell keine Zeit zu haben, und sich an ihren Plätzen zu verwurzeln. Ich setze mich zu ihr, reiche ihr Taschentücher, streife zufällig - nein, natürlich absichtlich, - ihren Arm mit der Rückhand. Ihre Verzweiflung lässt derart nach, dass sie fast lächelt, - aber sie wird schamrot, und guckt nach unten, um immer noch traurig zu wirken. In der großen Pause erzählt sie mir, jemand hätte ein Foto von ihr genommen, es als seins deklariert, und sich damit in einem Internetportal angemeldet. Ich weiß sofort, dass dieser jemand eine sie war. Sophie sieht gut aus und hat viele Freundinnen, wenn man sie so nennen kann. Hätte ich nicht so lange Haare, um ständig mein Gesicht zu verstecken, würden viele von ihnen schon bemerkt haben, dass ich über sie lache: ihre Wichtigtuerei ist grotesk genug, aber wie sie sich seit einiger Zeit durch aberwitzige symbolische Gesten als Weltretterinnen aufspielen, provoziert nur Spott, außer man ist ein Junge mit mäßigen Ansprüchen und entsprechend scharf auf diese Karikaturen.
Es gab vor zwei Wochen dieses große Gewitter. Ich stellte mich auf den Hügel und sah den Blitzen beim Treffen zu. Ein Blitz ist 100 Meter neben mir eingeschlagen, es war so schön, aber leider nur so kurz. Es sind immer Sekundenbruchteile, die auf der Netzhaut aufgrund des hellen Lichts viel länger erscheinen, als sie sind. Dann spülte mich der Regen fort, ich war glücklich. Ich stand durchnässt auf dem Hügel und trank einen Softdrink aus einer Flasche, die in meiner 12. Klasse von gewissen Leuten als ein Symbol der Ausbeutung der Dritten Welt gesehen wird. Eigentlich tinke ich nie aus der Flasche, das ist albern. Ich ging schon als Kind auf diesen Hügel, damals glaubte ich noch, Zeus und Hera und all die Götter würden existieren, und jeden Frühling wachte ich hier zu bestimmten Uhrzeitn, um Persephone nicht zu verpassen. Leider kam sie nie.
Sophie kommt heute zu mir, hofft insgeheim, bei mir zu übernachten. Sie meinte vorhin, sie wollte mich nicht stören, falls ich noch vor hätte, dieses eine Gedicht zu Ende zu schreiben. Ich sagte nichts, wozu soll ich auch erklären, dass ich Gedichte immer an einem Stück schreibe, meist in wenigen Minuten. Ich würde nie ein Gedicht stückweise schreiben. Aber es ist als Leser schwer zu erkennen, wie ein Gedicht geschrieben wurde, - wenn man liest, hat man ein Fertiges vor sich. Ich höre Musik, trinke Tee, schaue eine Doku über die Sklavenkriege im alten Rom, dann eine über die säugetierähnlichen Reptilien. Dann kommt Sophie.
Sie sagt, es sei noch schlimmer: die dreiste Göre habe nicht nur Sophies Foto benutzt, sie habe sich gar für Sophie ausgegeben. Meinem Rücken wird ganz schön kalt, ich zucke sogar zusammen. Nichts davon passiert mir im Entferntesten, wenn ich diese brutalen Dokus anschaue. Aber was ist denn mit den Leuten los, sind sie völlig irre geworden, können sie das einfach so machen? Was, wenn sich jemand für mich ausgibt? Ein Fotoschnipsel von mir wäre, trotz der Haare im Gesicht, ziemlich leicht aufzutreiben. Ich gucke schnell ins Schuljahrbuch und atme auf: mein Gesicht ist da nicht ganz zu sehen, ich verstecke mich irgendwo in der letzten Reihe auf dem Klassenfoto. Sophie meint aber, ihre sogenannte Freundin habe gar nicht mal das ganze Gesicht genommen, sondern nur so viel, dass man deutlich genug ein süßes Mädchen erkennen kann, so wie die Gören es heute so machen, - aber selbstredend mit ihren eigenen Fotos. Sophie, sage ich, man kann durch Fotoshopping seinem Gesicht einen erheblich höheren Beauty-Quotienten verpassen, allein durch Lichteffekte, Farben und etwas Dehnung. Dehnung, fragt Sophie? Ja, sage ich, ich schalte bei meinen selbstgeschossenen Landscape-Wallpapers immer "maintain aspect ratio" aus, um die Bildproportionen zu verändern. Ich habe noch nie Gesichter bearbeitet, und auch niemals ein Foto von mir ins Internet gestellt.
Sophie trinkt Tee, ich höre zu. "Jetzt denkt dieser eine Typ, dass es mich gar nicht gibt, und der andere, der in Flensburg wohnt, meint, er hätte mit mir geredet, und schreibt mich die ganze Zeit an". Flensburg ist ziemlich weit, er kommt Sophie wohl kaum in Sandhausen besuchen. Aber der, der nun denken soll, Sophie sei frei erfunden, hat es von Kaiserslautern aus nicht weit hierher. Meine Eltern meinen, ich würde mich nach dem Amoklauf verschließen, dabei habeich schon immer vor dem Schlafengehen die Tür abgeschlossen. Jetzt drehe ich zweimal den Schlüssel um und gebe Sophie einen Nachtanzug. Sophie lächelt, ist aber nicht viel größer als ich, auch ihr passt noch das Pyjama, das ich mit 12 getragen habe. Sophie wird in drei Wochen 18, ist unschuldig, kann zu mir ins Bett. Denn sie wird wieder beginnen zu weinen. Ich denke erst an diesen Prachtkerl von Gladiatorenausbilder im Hause Batiatus, dann an die Mädchen in meinem Alter, die anscheinend nichts besseres zu tun haben, als Amokläufer auszubilden.
Sag ihr, Sophie, sie soll die Wahrheit sagen. Sie soll schreiben, was sie will, sie kann auch lachen, dass dieser Pfälzer auf ihren Betrug reingefallen ist, - und selbst das wäre besser, als jemanden hinzuhalten. Sophie weiß, dass sie die Entscheidung ihrer sogenannten Freundin nicht beeinflussen kann. Sie kennt die Passwörter nicht, kann keine Email schreiben, kann nicht anrufen, während jemand Sophies Bild, Sophies Profil, die lebendige Vorstellung von Sophie irgendwo Gassi führt. Ich bin nicht paranoid, ich würde nicht davon ausgehen, dass wenn mich jemand in einer Atmosphäre des Vertrauens kontaktierte, es sich dabei um einen Trollaccount handeln würde. Keine zehn Menschen heißen in Deutschland mit Vor- und Nachnamen wie ich, in den USA immerhin einige hundert. Sophies Vor- und Nachname sind in dieser Kombination weniger selten. Ich stehe kurz auf, gehe schnell ins Internet, und schreibe jemandem, den ich überhaupt nicht kenne, eine Nachricht: "Ich bin echt", nichts weiter, und schwöre in Gedanken bei Zeus und Persephone, dass dem so ist.
Die nicht existiert
Ob ich lieber Kitiane heißen würde? Nein. Ob ich lieber Julika heißen würde? Hihi, nein. Wieso denn, Sophie? Sie zeigt mir eine Mädchengeschichte, die nur von einem Jungen geschrieben werden konnte. Der hat so kindliche, unschuldige Vorstellungen. Und guck, sagt Sophie, das ist doch dieser furchtbar arrogante Typ. Er hat mir geschrieben, gleich am nächsten Morgen. Da stand nur: "Ich weiß". Ich hoffe, sein Vertrauen wird niemals missbraucht, aber selbst wenn: so jemand wackelt, aber fällt nicht, denn er frühstückt mit Zeus, streitet mit Apollon, und ist mit Sicherheit in Persephone verknallt. Man kann ihn wahrscheinlich tief verletzen, denn er ist sensibel und rein wie ein Kind, aber er wird sich niemals umdrehen lassen, sich niemals zum Bösen wenden. Träumst du, fragt Sophie. Ich weiß nicht, aber was ist, wenn ich längst diese Persephone bin? Ich setze mich aufs Fahrrad und rase auf den Feldwegen durch den Regen. Die Frage ist nur, welcher der beiden John zuerst erreichen wird, frische ich meine Weltliteraturkenntnisse auf und stelle mich anstelle des Terminators vor, von unzähligen Kugeln durchsiebt. Ich komme wieder, und wieder, und wieder, und nichts wird mich davon abhalten, nichts wird mich aufhalten, und ich fahre schnurstracks in den Rhein, und es ist September.
Wieder einmal komme ich völlig durchnässt nach Hause, nehme eine warme Dusche und mache mir einen Tee, während das nächste Gedicht schon fertig im Kopf wartet, und nur noch raus muss, wohlgemerkt hat es noch keine Worte, die Worte muss ich noch finden, und ich suche nicht lange. Ich "like" sodann einen Kopfbrecher von Text, den vielleicht mein Vater verstehen würde, er ist immerhin Professor. Sein Kollege, der in den USA lehrt, hatte einmal nächtlichen Besuch von drei hochintelligenten Räubern, die sich während ihres gemeinsamen Philosophiestudiums für einen radikalen und konsequenten Nihilismus entschieden hatten. Sie brachen bei ihm ein, bedrohten seine Familie, wollten Geld und Wertsachen, und danach alle qualvoll umbringen. Der alte Professor verwickelte sie in eine Diskussion darüber, ob es die Hölle wirklich gibt, und zwei Stunden später schlichen sie kreidebleich aus seinem Haus und zitterten vor Furcht. Es war keine Magie im Spiel, nur die Kraft des Arguments.
Morgen beginnen die Herbstferien, ich will weg hier, und schau mir auf Google Maps, was es nicht alles gibt. Marie hasst Sophie, disste sie ohne Grund auf Facebook und VZ, ekelte sie da raus. Jetzt schreibt Sophie schreckliche Haikus und platte Aphorismen dort, wo ich auch angemeldet bin, und bekommt meistens Lob, denn Schönheit siegt. Ich traue mich immer noch nicht, ein Profilfoto reinzustellen. Aber er sieht dich auch so, die Gedanken sind frei, sagt Sophie. Die Kavallerie muss nicht ausfahren, werde ich politisch, die Indianer müssen nur wissen, dass es sie gibt. Mir ist, als könnte ich die Sibirischen Trapps zum Leben erwecken.
Der letzte Schultag, eine mit Kunstblut beschmierte Wand, und ein "Warum?" - das war wohl dieser Junge aus der elften Klasse. Ich gehe wortlos daran vorbei. Marie holt mich ein: "Du, ich hörte da, dass der Schütze in dich verknallt war, aber das ist bestimmt nur so ein Gerücht". Wo ist Gannicus, wenn man ihn braucht. Er trägt nie einen Schild, dafür immer zwei Schwerter. Ein schwedischer Austauschschüler zerrt sie unsanft zur Seite: "Man hat einen Abschiedsbrief gefunden. Er war notgeil, er hatte sich in den Kopf gesetzt, bis zum Ende der Sommerferien alle Jungfrauen in seiner Klasse zu entjungern. Ein Freak, ein Irrer". Später wurde mir erzählt, dass er Gott geschworen hatte, am ersten Schultag so viele Fucker - so nannte er die sexuell erfolgreichen Geschlechtsgenossen - wie möglich umzubringen, sollte der Allmächtige bis dahin nicht machen, dass all die hübschen und noch unberührten Mädchen wie von Zauberhand zu ihm nach Hause kommen und ihn um ein Date bitten. Der laute Schreier aus der elften Klasse war scharf auf mich, das war sein Motiv, Unsinn rumzuerzählen. Sophie sieht ja noch halbwegs wie eine Frau aus, aber scharf auf mich? Er muss pädophil sein.
In den folgenden Stunden wurde wieder nicht unterrichtet, sondern über die komische Aktion von heute morgen gesprochen. Ich bin nicht herzlos, ich kenne den Tod nur zu gut. Mein Großvater war ein Halbgott für mich, und starb eines plötzlichen, jedoch natürlichen Todes, als ich sechs war. Er war sein Leben lang völlig gesund. Als ich fünfzehn war, ist jemand nachts auf dem Feld in meinen Armen gestorben. Seitdem träume ich fast jede Nacht davon, wie die Heide brennt, und mein Herz wird schwer, und ich frage mich, was sie dort draußen gemacht hat, und warum ich auf der Suche nach ihr und in düsterer Vorahnung allein sie suchen gegangen bin. Sie wollte auf keinen Fall auf dem Weg zum Krankenhaus sterben, umgeben von all den Leuten, die an ihr rumfummeln, das war nicht das, was sie als Schlussakt ins Jenseits nehmen wollte. Sie wollte auch nicht allein sterben, während ich Hilfe hole. Drei Tage kannten wir uns im Ferienlager, und einmal hatte ich vergessen, mein Gesicht in den Haaren zu verstecken.
Ich gehe verträumt meinen Weg. Um mich herum brennen die Häuser, explodieren die Autos, schmelzen die Schaukeln auf den Kinderspielplätzen. Meine Tagträume reiten aus und zeigen mir Apokalypse und Armageddon, die Götterwelt und die Unterwelt, und ich schwebe wie ein Kometenschweif hinter einem Wesen aus Erde und Eis, welches ich noch nicht kenne. Zu Hause angekommen, scanne ich das Klassenfoto aus dem Jahrbuch, und stelle diesen Schnipsel von Bild von meinem Gesicht auf meine Profilseite. Eine Stunde später lese ich im selben Portal eine Hymne auf Persephone. Ich weiß, von wem sie ist.
Juni und das Mädchen
Es ist Mitte September. Die Schlinge aus meinen Lügen zieht sich zu. Ich komme mir vor wie Paulus in Stalingrad - nur nicht aufgeben, so lange wie möglich an der verlorenen Sache festhalten. Ich wache auf. Warum sagen sie mir, dass ich es bin? Wer sind diese kriechenden Biester mit großen Ohren, ohne Augen, grau, dürr, nackt, übelriechend? Warum werden sie nach mir geschickt, wer schickt sie? Ich könnte einen Kirschbaum als Aufzug zu den Sternen nutzen, wenn nur meine bösen Träume nicht wären. Ich habe keinen physischen Körper, und kann diesen Jungen, der an der Bar sitzt, und Chromoxid trinkt, nicht einmal warnen. Ich versuche zu schreien: Ich bin nicht ich! Doch er ist bestens mit der Dialektik von Ich und Nichtich vertraut. Glen, deine Fahrkarte! - ruft jemand, und ein Schotte Anfang 40 zeigt sein Ticket. Ich war mit 21 so ein Dummkopf, erzählt er, und mit 25 war ich ein furchtbarer Langweiler, - mit 30 weiß ich selbst nicht mehr, was ich war, doch mit 40 ist alles anders. Chrom, sagt Glen, und macht eine aromatische Schokoladentafel auf. Es ist kühl im Zug, drei österreichische Miezen werden sich gleich setzen. Sie werden ihn fragen, ob er Glen heißt. Sie mögen diesen Film, und werden sich ihn bestimmt noch einmal ansehen. Tina?
Eine schwüle Nacht, doch ich schwitze nicht, weil ich keinen physischen Körper habe. Dabei gibt es so vieles daran, was mir gefallen könnte. Er weiß, was ich meine. Mit 19 wäre ich vier Jahre älter als die jüngste der der österreichischen Miezen, aber drei Jahre jünger, als die mittlere. Ich müsste aber aufholen, also etwa sieben Wochen warten, denn es muss echt sein. Sie sind so glatt, sie wohnen in Innsbruck. Sie könnten zeitverzögerte Drillingsschwestern sein. Glen wird weiter nach Italien fahren, er will nach Capua. Wo soll er beginnen? Der Mond ist eine dunkle Blume, er ist bei Nacht eine Blaubeere. Fragt mich nicht, auf welchem Planeten, sage ich den drei Miezen, und sie nennen mich eine Maus. Ich bin schnell, kann wegrennen, doch sie kitzeln mich telepathisch schon aus, bevor sie mich manuell zu kitzeln anfangen. Ich bin angenehm gefangen.
Glen fühlt sich ausgetrunken, der Junge an der Bar bezahlt und geht. Als er zurückkommt, ist da keine Bar mehr, es stehen Tische mit weißen Umhängen, und darauf türmen sich weiße Tuben. Alles bourbonfassgelagert, die interessanteste Tube beinhaltet einen 22-jährigen Benromach. Der Doppeldeckerbus fährt los, die Verkäufer gehen in die Wohnung, die aus dem größten Teil des kleinen Ladens wurde. Alles verlagert sich ins Internet, sagen die älteren Besucher, die hier auch zum letzten Mal weilen. Der Busfahrer zieht eine Linie Koks und fährt zum Flughafen. Daneben steht ein Mann Ende 40 mit weißem Haar, er raucht eine Zigarre, und hat ein großes Whiskyglas in der Hand. Weil so eine Art Neffe in meinem Zimmer die ganze Zeit Street Fighter EX Plus Alpha spielt, muss ich mit so einer Art Tante im Wohnzimmer Mad Men gucken. Sie sagt noch, wie schön es in Heidelberg ist, doch wir sind in Ketsch, nicht in Heidelberg. Sie wohnen alle in Sandhausen und kommen oft vorbei. Mir reicht es nun, ich gehe zurück in mein Zimmer, und schließe den zweiten Joystick an. Der Kleine will, dass ich wieder Evil Hokuto nehme, und ja, sie passt zu mir. Aber ich werfe einige Blicke ihm zu, und er versteht. Er gewinnt locker mit Dhalsim gegen jeden Gegner, für den ich spiele. Nun aber nimmt er Allen, weil er ihm ähnlich sieht. Er hat meine Anspielung verstanden, wird rot im Gesicht, aber das macht ihn auf eine pikante Art glücklich. Ich frage ihn, ob er weiß, was dieser Name bedeutet, und nehme Sakura. Er nickt, Allen steht in der Gegend rum, und setzt keinen einzigen Treffer. Er würde sie niemals schlagen. Nun gewinne ich jedes Spiel. Seltsam, es gibt kein Mädchen auf seiner Schule, das wie Sakura aussieht. Ich kenne einige, die in Filmfiguren verknallt waren, - und der Kleine mag eben ein Mädchen aus einem Videospiel. Er ist jünger als meine PS One. Ein zarter, zerbrechlicher Junge, sagt eine bedrohliche Stimme, und schon bin ich wieder in diesem Traum. Die Schattenechsen kriechen aus dem Wald, ich renne den Bismarckturm hoch, und betrachte den Himmel über Hildesheim. Ich muss fliegen lernen, denn sie kommen schon den Turm hoch. Diese Frau, ich nenne sie Megalania, sie geht manchmal am See spazieren. Mir wird bewusst, dass ich ein Mädchen bin, und fliegen kann, wie andere schwimmen. Es ist nichts in mich hinein gekommen, was mich zu Boden ziehen könnte. Ich lasse die Schattenechsen kommen, und springe im letzten Moment vom Turm. Der Flug ist wellenförmig, wie immer. Diesmal übertreibe ich es besonders, und bin nach fünf Sinuskurven schon in der Stratosphäre.
Ein Objekt ist stets eine Oberfläche, und ich kann Leute, die auf Löcher stehen, vom Weiten riechen. So jemand will ins Loch, in sich, ins Nichts versinken, er ist kein vollwertiges Subjekt, er ist ein auf Menschengröße aufgeblähtes Nichts. Ich lese am Liebsten die Gedanken eines Jungen, bei dem sich alles um Haut und Haar dreht, um die Nasenform, um Wimpern und Lippen, um Hände und Füße, um Fingerchen und Zähnchen. Er kann sich all das so makellos denken, dass ich mir undankbar vorkomme, wenn er mich in diesem sterilen Raumschiff sitzen lässt, und ich niemals auf die Erde komme. Es muss eine Qual sein, zu wissen, wie schön Körper sein können, und sie niemals zu berühren. Nein, nicht diese hastig geformte Knetmasse, - die wirklichen, wahren Körper. Die perfekte Oberfläche, der Scheitelpunkt der Objektivität. Das reine Sein, das absolut gerechtfertigte So. Aber was ist mit meinem Namen, der antiquiert klingt, und ins ausgehende 19. Jahrhundert viel besser passt, als in ein Hyperpalast in einer Raumzeitblase? Ich brenne vor Geschichte, ich atme Existenz, ich bin blass wie Asche, überreif wie ein Meer dunkelroter Kirschen, ich kann sein können, wann bin ich endlich? Wenn es kein guter Geist sein wird, der diese Potenz des sein Könnenden in mir hervorruft, gehe ich mit einem negativen Vorzeichen auf die Erde hinab.
Was Mädchen können
Warum kommen sich diese Einmetersiebzigtanten eigentlich so schön vor? Sie sind alle einen Kopf größer als ich, haben auch etwas längere Beine, - aber nur absolut, nicht proportional. Sie tragen geschmacklose Schuhe, haben unansehnliche Füße. Man ist zu schnell mit den Vorurteilen: neulich wartete ich auf einen Hasen von einer Verkäuferin in einem Schuhgeschäft, eine zierliche aber kurvenreiche Frau Mitte 20, das Gesicht so kindlich, die Stimme so zart, und darum wartete ich, anstatt von einer ihrer Kolleginnen bedient zu werden. Sie hatte gerade eine Kundin, eine snobistische Mieze aus dem Abschlussjahrgang meiner Schule, hellblond, langes gerades Haar, dürr, nur einen halben Kopf größer als ich. Die Verkäuferin, lieb und geduldig, eine Wellenhaarblondine, kniete in der Kabine vor dieser arroganten Mieze, und ließ sich ihr Gezicke gefallen, indem sie diese nun schon das neunte Paar Schuhe anprobieren ließ. Mit meinem Vorurteil hatte ich Unrecht, als ich die perfekt gepflegten schlanken Füße mit langen wohlgeformten Zehenchen sah, und mein Vorurteil hieß bis zu diesem Zeitpunkt, dass Füße nicht in den Mund gehören. Ich erstarrte vor Schamesröte, und konnte mich vor Aufregung, und noch mehr vor Überraschung, dass das was ich sah, mir so gefiel, nicht einmal umsehen, um zu sehen, ob ich beobachtet wurde. Ich sah aus einer unsicheren Entfernung eine Viertelstunde zu, wie dieses Häschen von einer Verkäuferin die Zehen der snobistischen Blondine mit ihren sinnlichen Lippen berührte, nacheinander in den Mund nahm, und ihre Zunge in Zeitlupe um sie kreisen ließ. Es hörte so plötzlich auf, dass ich mich sofort nachdem ich aufgesprungen war wieder in den Wartesessel versenken ließ, und ich fühlte eine schamhafte Befriedigung im Bauch, wie ein Ladendieb, der gerade erwischt wurde. Die Verkäuferin fand recht schnell die passenden Schuhe für mich, denn ich formulierte meine Wünsche recht deutlich, und als sie mir die engen schwarzen Stöckelschuhe mit jeder Menge silbriger Verzierungen anzog, da hielt ich die Luft an, und wünschte mir, sie würde beim Anziehen meine zierlichen Füße berühren. Da ich nervös war, fiel der rechte Schuh zweimal auf den Boden, bevor ihre kitzelerprobten Hände ihn an meinem Fuß befestigen konnten. Sie stellte mit ihrer lieblichen Stimme die naive Frage, warum ich so aufgeregt sei, und ich fühlte wieder diese Schambefriedigung im Bauch, und steckte den Fuß genüßlich langsam in den Schuh. Sie fragte mich noch nach meinem Alter, schätzte es auf 13 wegen der zierlichen Füße, und ich verschwieg ihr, dass ich 16 bin. Ich bin ja nur 1,51 groß, und sehe nicht wirklich wie eine 16-Jährige aus.
Bald werden wir wieder Socken anziehen müssen. Noch ist es nicht zu kalt. Ich sehe jeden Tag diese arrogante Mieze aus dem Abschlussjahrgang, weil ich nun genauer hinsehe. Ich hörte sie neulich sagen, dass noch jede graue Maus lange Beine hat, aber die Füße bei den meisten eher mittelprächtig aussehen, und sie erinnerte sich dabei an ein junges Mädchen, vielleicht 12, das sie vor Kurzem in einem Schuhgeschäft gesehen hatte: ihr hättet ihre Füße sehen sollen - dass sie in dem Alter so darauf achtet, da ziehe ich den Hut vor. Sie hat ihre Nase immer oben, und kann nicht wissen, dass ich auf ihre Schule gehe, und zwar in die elfte Klasse. Dass ihr auch feine Strukturen auffallen, ehrt sie gewaltig, denn die meisten, ob Maus oder Hamster, achten fast nur auf die Kurven. Mein Knabenpo hat noch niemanden zu Balztänzen veranlasst. Ich gehe nie aus, aber ich wüsste auch nicht, mit wem. Und nun stehe ich auf einer Abrissbirne und werde gleich gegen ein Meisterwerk von einem Traumhaus geschleudert: dieses neue Mädchen in meiner Klasse, das exakt meine Größe hat, aber etwas längeres genausodunkles Haar, ist wohl die Freundin dieses Pavians aus der Zwölften... Nein, ist sie nicht! Ein veritables Bunny, einen Kopf größer als ich, Bälle, wohin man sieht, fällt, kaum dass die große Pause anfängt, ihm aggressiv in die Arme, und küsst ihn vor versammeltem Publikum. Ich lächle gütig, bin so froh, und sie denkt, ich würde sie für ihre Titten und ihren Stecher bewundern. Ich bewundere doch nicht den Kelch, der an - ach, wäre sie bloß meine Schwester! - soeben vorbeigegangen ist. Jetzt ist mir auch egal, von wem die Gerüchte waren, es ist alles vergessen. Und in der nächsten Stunde sitze ich ganz hinen neben ihr.
In meinem Garten wachsen unglaublich süße Kirschen. Zum Glück habe ich keine Nachbarn, die mit mir zur Schule gehen, sonst gäbe es schnell einen peinlichen Kalauer. Doch wie die Kirschen in Nachbars Garten muss ich die ganze Zeit nun die Haare, die Wimpern, die Wangen, die Nase, den Mund, die Hände dieses Mädchens betrachten, und kann nur froh sein, dass wir hinten sitzen, und es darum noch niemandem aufgefallen ist. Sie schreibt, und wie sie schreibt, - dieser edle Kugelschreiber in der zierlichen schimmernd weißen Hand, und ihre Haut ist bestimmt so zart, dass nur eine einzige Berührung... Es klingelt. Ich gehe wortlos, werde den ganzen Tag an das Gesehene denken. Es ist Abend, und ich bewundere mich selbst vor dem Spiegel: ein immerkleines Mädchen, ein 16-jähriges Kind. Mein Körper spielt nicht nach den Regel der Natur, sondern nach meinen eigenen Regeln. Er weiß, dass ich mich schön fühlen will, und erfüllt mir diesen Wunsch. Offenbar nicht nur mir. Es gibt Schönheit, die von Außen kommt, und nach Innen nicht mehr durchdringt: solche Menschen werden dumm, oberflächlich, und leben das Leben, das die Natur für sie vorgesehen hat. Es gibt womöglich aber Schönheit, die von Innen kommt, so dass das Aussehen das wahre Sein exakt repräsentiert. Morgen sitzt sie in der ersten Reihe, ich wieder hinten. Dem jungen Deutschlehrer spielen sie immer diese perversen Streiche.
Heute haben sie ein Kondom flüssig gefüllt und auf seinem Stuhl platziert. Gleich wird er hereingehen und sich setzen. Sie sitzt fast direkt vor seinem Lehrertisch, nun steht sie auf, und ich halte den Atem an. Bitte nicht, wiederholt sich in meinem Kopf. Sie geht am Lehrertisch vorbei, und ich kann endlich wieder atmen. Sie wirft einen ihren Ansprüchen nicht genügenden Apfel in den Mülleimer, und setzt sich wieder auf ihren Platz. Der Lehrer kommt herein, sie fängt seinen Blick mit ihrem, und verweist elegant auf den Stuhl. Während die Klasse darüber diskutiert, wer das war, bin ich vor Entzückung geistesabwesend: so etwas würde sie niemals in die Hand nehmen, selbst wenn dies bedeutete, etwas Gutes zu tun, aber sie ist auch nicht so niedrig und gemein, einen so vulgären Spaß mitzumachen oder wenigstens zu ignorieren. Schade, dass ihr jetzt der Appetit vergangen ist, sonst könnte ich zusehen, wie ihre engen wohlgeformten hellweißen Zähnchen in der Pause diese Glückspilze von Trauben entzweifölterln. Weil ihr die dunklen Trauben zu groß sind, halbiert sie diese immer mit ihren Schneidezähnen, bevor die glückseligen Hälftchen ihre kirschroten Lippen passieren dürfen. Morgen beginnt die Klassenfahrt. Wer mit wem, wird erst kurz vor Einschluss entschieden. Ich werde im Bus ganz hinten sitzen, dafür stehe ich gern eine Stunde früher auf.
Fast keiner da, herrliche Morgenkühle und frischer Tau. Vor dem Schulhof steht der Reisebus, gleich macht der Fahrer die Tür auf. Eine Lehrerin Mitte 40, die ohne Anfassen nicht guten Morgen sagen kann, spricht mit dem Fahrer, ich gehe um die Ecke rum, um ihr nicht aufzufallen. Doch als ich im sicheren Versteck auf der Terrasse hinter dem Musikraum bin, bemerke ich sie. Ich werfe ihr Blicke zu, bis sich unsere Blicke treffen, und ziehe sie am Blick zu mir. Sie weiß, warum ich das getan habe, und lächelt. Auch sie hat mit Enttäuschungen gerechnet, was mich angeht, und wurde gerade eines Edleren belehrt. Wir schleichen katzengeschmeidig zum Bus, setzen uns nach hinten, schmiegen uns aneinander, damit keiner auf die Idee kommt, sich dazwischen zu setzen. Man kann sich selbst nicht kitzeln, erwidere ich auf ihre Frage, wieso mir ihre Nase gefällt. Ich habe eine kindlichere Nase, sie hat höhere Wangenknochen. Sie sieht wie ein kleines und zierliches, aber 16-jähriges Mädchen aus, ich eher wie eine Elfe mit nach unten offener Phantasie, was das Alter betrifft. Ich genieße die Fahrt. Manchen wird es langweilig, sie setzen sich um. Damit es nicht zu handgreiflichen Begrüßungen kommt, nehme ich ihre Hände, und halte sie bis zur Ankunft auf meinem Schoss. Unsere Hände sind so kühl, und werden nur ganz langsam, nein, nicht warm, sondern nur ein wenig weniger kühl. Als wir uns die Herberge ansehen, fange ich sie mit Blicken, und dirigiere sie beiseite. Sie hat Angst vor Gewitter und Dunkelheit, was ich als Argument für ein gemeinsames Doppelzimmer vorbringe. Es wäre ein Alptraum, wenn die Angst dieses Kittenchen in gröbere Arme treiben würde, als jene, die Hände haben, die sie verwöhnen können. Ein kurzer Waldspaziergang, ein langweiliger Vortrag über diesen geheimnisvollen Ort, dann macht jeder, wozu er Lust hat. Sie liest auf ihrem Bett ein mir nicht bekanntes Buch, ich lese auf meinem Bett ein ihr nicht bekanntes Buch.
Schlafenszeit. Gewitter, wie erwartet. Es ist ihr peinlich, in mein Bett zu kommen, also komme ich zu ihr, und halte sie fest. Kennst du diese Geschichte, sage ich, als zwei Mädchen auf Klassenfahrt waren, in einem Zelt, und ein Mädchen nachts Angst hatte, und die andere sie beschützt hatte, da sah sie sie die ganze Nacht an, das wunderschöne Gesicht der Schlafenden wurde immer wieder von den Blitzen erleuchtet, und da dachte sie: sie ist so unglaublich, unglaublich schön. Ich denke, wir sind darüber hinaus, bemerkt sie lakonisch. Sie sagt nichts mehr, der Donner fängt auch mit dem quälenden Schweigen an. Was jetzt? Soll ich zurück in mein Bett gehen? Sie liegt nun bequem auf dem Rücken, ihre Hände dort, wo sie mit den Haaren zu spielen aufgehört hatten, links und rechts vom Kopf, immerhin nicht unter der Decke. Weiß sie, dass ich weiß, dass das ein Test ist? Ich tu so, als würde ich denken, sie würde schlafen, nehme mit aller Zärtlichkeit, die mädchenmöglich ist, ihre Hand, die in meine Richtung zeigt, zärtele ein wenig daran rum, wie es Mädchen so tun, wenn sie echte Mädchen sind, und drücke sie sanft an mein Herz. Mit meinen Fingerspitzen zeichne ich Herzchen auf ihrem Handrücken, bis sie so tut, als würde sie jetzt aufwachen, und mich an sich zieht. Wir legen alle vorhandenen Kissen zusammen, setzen uns auf mein Bett, das näher zum Fenster ist - ein Fenster zum Waldbach in einer Schlucht - , und erzählen uns voneinander. Sie fragt mich nach meinem peinlichsten Moment, und ich muss sofort an ein Schuhgeschäft denken. Weißt du, was der Unterschied zwischen uns ist, lacht sie, nachdem ich ihr die Geschichte erzählt habe. Ich weiß es: um ihre Zehenchen hätte das Häschen vom Schuladen sofort ihre flinke Zunge kreisen lassen, aber ich habe kindlich getan, und mich um eine noch größere Schambefriedigung betrogen. Nein, sagt sie, du hast sie nur verschoben, und ich mag dich, weil du so bist. Sie fragt mich ob ich das Experiment mit den Dreijährigen kenne, die zehn Minuten vor einem Bonbon warten müssen, um hinterher zwei zu bekommen, - essen sie die Süßigkeit sofort, bekommen sie später nichts. Natürlich kenne ich das, ich habe eine Art Neffen mit solchen Versuchsanordnungen regelrecht gequält, als er drei war. Du bist ein Kind, sagt sie, das gesagt hätte: wie lange muss ich warten, um eine Schachtel Pralinen meiner Wahl zu bekommen? Und du hättest so lange gewartet, bis du die Edelsten bekommen hättest. Das Warten hat jetzt ein Ende, denke ich, und bevor ich es zu Ende denke, bekomme ich meinen ersten Kuss.
Traumzeit im Nichtraum
Traumhafte Mädchen existieren nur traumweise. Wenn wir geschichtslos sind, haben wir dann eine Zukunft? Celine, wer sind diese traurigen Gestalten? Die Mädchen aus deiner Klasse, ich weiß. Sie tragen graue Regenmäntel und suchen die Stadt, in der es immer regnet, nach deinen alten Spielsachen ab.
Auf einer Klippe steht ein Mann im langen pechschwarzen Regenmantel. Unten ist Raumschaum, so ein Quantending, das wir in Physik noch nicht hatten. Er wirft etwas hinein und geht zurück in die Stadt. Es gibt nur lange dürre Wolkenkratzer, keine anderen Gebäude. Auf einer Turmspitze sitzt ein Junge im blauem Regenmantel und will hinunterspringen, doch er weiß, dass er das nicht ein zweites Mal tun kann.
Ich kann mir denken, was sie glauben, aber ich kann nicht glauben, was sie denken. Wir sind Traumgestalten, keine Marionetten. Sie können unsere Namen nehmen, und sie anziehen, wie eine alte Hexe die Kleider einer Prinzessin. Deine Kleider, Celine. Warum verbrennen sie sie? Alle, die dich kannten, haben sich versammelt, und werfen deine Schulhefte ins Feuer. Es regnet, aber sie sind zu beschäftigt, um das Feuer löschen lassen zu lassen. Das Regenwasser nimmt einen anderen Weg, es ist eine seltsame Stadt. Physikunterricht findet hier nur zum Schein statt, denn auf Natugesetze kann man sich in dieser grauen Welt so wenig verlassen, wie anderswo nur auf Freunde.
Jetzt löschen sie deine Geschichte aus. Sie stehen an deinem Grab und sehen zu ihren herüber: dort wachsen graue Blumen, die Grabsteine glänzen im Regen. Dein Grab ist Ruine, hier war seit Jahren kein Mensch. Sie heben es aus, und machen es dem Erdboden gleich. In der Stadt der Toten ist kein Platz mehr für dich, du bist dem Tode entstorben.
Ich gehe ins Archiv, sehe mir einige Videoaufzeichnungen an. Es ist schwer, in diesem ungeordneten Filmmaterial aus vier Milliarden Jahren etwas bestimmtes zu finden. Zwei gütige Frauen erklären mir, wonach ich suchen soll; ihre Blicke sind sanft, sie kennen nur Jungfrauen, und haben nie etwas anderes gesehen oder erahnt. Unten fangen die Büroräume an; zwei Millionen Freaks generieren Geschichte, indem sie sich jeden Tag zehn Stunden lang diese Videos ansehen. Die zwei Frauen trinken hauptberuflich Tee, und diesmal begleiten sie ein Mädchen hinaus, das versehentlich für tot erklärt wurde.
Ich sitze auf dichtem saftigen Gras, hinter mir nichts als Gras, vor mir ein Laubwald, vor dem Wald eine Elasmotheriumherde. Die Sonne scheint nicht, aber sie ist möglich. Diesmal ist es nur bewölkt. Ich beobachte eine Stunde lang einen Punkt in der Ferne, der die Konturen eines Wanderers annimmt, der auf mich zugeht. Es ein dreizehnjähriger Junge im dunkelgrünen Kapuzenshirt. Er sagt, ich soll zu den Gletschern gehen, und ich folge ihm auf den Berg hinter dem Wald. Auf dem Weg sammelt er Beeren, sie duften nach mehr als einer nur erträumten Sinnlichkeit.
Am Gletscher verlässt er mich, er muss wieder zum Basislager für vermisste dem Tode Entstorbene. Der Schnee ist so weiß, dass ich nichts sehen kann. Nur langes schwarzes Haar verrät eine zierliche Mieze, die auf mich zukommt. Sie ist völlig nackt, und dreht sich nicht nach mir um, als sie vorbeigeht. Doch es ist so, als hätte sie eben "wir sehen uns noch" gesagt. Natürlich, Julika, natürlich sehen wir uns. Aber da bist du endlich, Celine. Eingehüllt in eine dir viel zu große weiße Winterjacke. Komm, wir gehen in den Sommer zurück. Nein, ich habe kein Embolotherium gesehen. Es ist eine stille Erde, noch ohne Menschen. Hier verweilen wir, wenn auch nur traumweise. Hand in Hand - das heißt beim Ausmaß unseres Glaubens aneinander, dass sich nur unsere Fingerspitzen berühren, wenn wir mit schwebenden Schritten gemeinsam über die Wiesen gehen.
Kirschenkreischen
So hoch über der Stadt zu wohnen, ist das einzig für mich Vorstellbare. Ich lebe in einem Penthaus im höchsten Gebäude der Stadt, um mich herum sind Dächer von Banken, Firmenhauptsitzen und dubiosen Clubs. Ob ich allein lebe? Dazu gibt es eine Geschichte, die gar nicht so lange her ist. Ich war noch 18, es war Ende Juli, und ich ging aus Neugier in den schicksten Club von allen. Kaum ich mich versah, saß ich auf einem bequem gepolsterten Kinosessel zwischen zwei wunderschönen Miezen Ende 20, und freute mich, dass ich in meinem Rokokokostüm nicht overdressed war. Dieses Meer der ausgefallenen aber niemals geschmacklosen Frisuren, diese extrem hohen Stöckelschuhe, dieses Rot der Lippen und nicht nur, diese Tigerstimmung, das Aufschlagen von Kugeln der zerrissenen Perlenketten auf dem Marmorboden, die feuchten, leckenden Küsse, und das offensichtlichste Nichtsichtbare: da war kein einziger Mann, was auch niemanden wesentlich störte, im Gegenteil. Wir sahen uns ein Theaterstück an: ein Poesiewettbewerb wurde im ersten Akt ausgetragen, und es waren sehr fragile Poetinnen meines Alters, deren Sensibilität... ach, die waren einfach so süß. Als die Siegerin feststand, ein Mädchen, dessen Hirn wohl ausschließlich aus Spiegelneuronen bestand, musste sie im zweiten Akt die Geschehnisse in einer Mädchenschule protokollieren, die auf derselben Bühne vorgestellt wurden: stählern strenge, doch ebenso superdürre und elegante, hochgewachsene Frauen in Schwarz stellten kleinen süßen Mädchen verschiedene Aufgaben, und bestraften jeden kleinen Fehler: mit dem Zeigestock gab es erst moderat, dann immer tränenintensiver auf die Fingerchen, und was nicht noch alles, was im Rahmen des Schulunterrichts noch so unterzubringen war. Die Zuschauerinnen küssten einander wild auf ihren Sitzen, noch bevor das Stück zu Ende ging, und die sensible Dichterin weinte noch mehr, als die Bestrafungen den Mädchen weh taten. Ich dachte noch den ganzen Abend darüber nach, was die Aussage des Stücks war: war es eine Parodie auf die vermeintlich vermeintliche Sensibilität junger Dichterinnen? Ich wurde beim Hinsehen rot, aber nicht weil ich mich wiedererkannte, sondern weil die zwei Miezen, die um mich saßen, immer aggressiver Besitz von meinen Händen ergriffen, und die Zungen kreisten, und die Lippen... als wären meine Fingerspitzen Kirschbonbons. In dieser so fremen Welt gab es mehr Ähnlichkeit zwischen mir und all den Mädchen und Miezen, als ich Zeit habe, all das aufzuzählen. Die haben auch nie ihre Tage, das scheint ein positiver genetischer Defekt zu sein. Einige von ihnen wirken extrem kindlich für ihr Alter, andere dazu noch übertrieben weiblich. Alles Jungfrauen mit hellweißer Haut, langem Haar, und mit unbarmherziger Perfektion durch und durch gepflegt.
Drei Tage ging ich nicht aus der Wohnung, beobachtete das herrliche Wechselbad meteorologischer Gefühle, schreib ein Gedicht, bekam in einem Literaturforum kumpelhafte und anbiedernde Kommentare. Manche stellen ihre Fotos zu ihren Profilen hinzu, das wirkt dann realistischer, näher, und sie glauben natürlich, ich würde wie eine von ihnen aussehen. Dabei musste ich viele Jahre privat unterrichtet werden, weil ich die wegen meines Aussehens ausgesprochenen Beleidigungen von Mitschülern nicht mit meiner weiteren Anwesenheit belohnen wollte. Die so aussieht, muss bereits mit 11 einen Mann verführt haben, natürlich. Ich bin jetzt 19, und immer noch ein Kind. Das geht in Köpfe nicht rein, die von Nebenhoden wie von einem Joystick in der Hand des Leibhaftigen gesteuert werden. Die Wohnung schenkte mir so was wie ein Onkel, ein androgyner Freak mit einem IQ von 220, und mit 41 Jahren ungeküsst. Er tat es aus purer Selbstsucht, denn die Bedingung dafür war, dass ich in diesen Club eintrete, und zu anderen Menschen keinen Kontakt mehr habe. Da ich ohnehin fast keinen Kontakt zu Mitmenschen hatte, war es nicht schwer, die Bedingungen zu erfüllen. Er sagte mir, es würde ihn sehr befriedigen, dass keiner mich anglotzen kann, dass ich so vielen entgehe. Als ob es sich nicht von selbst verstünde, dass keiner mich je berühren wird, der nicht auch rein genug wäre, die zu berühren, die zu berühren ich nicht zu unrein zu sein erhoffte, ja es war meine Hoffnung der Stunde. Im Fernsehen wurde neulich eine reiche Göre gezeigt, die sich einen einzigen Besuch im Kosmetikstudio eine Million kosten ließ, und damit noch prahlte, obwohl ihre Hässlichkeit dadurch noch offensichtlicher wurde. Hätte sie doch stattdessen eine Million Kugeln Eis gegessen. Bei meinem zweiten Besuch im Club wurde ich zu mehrstündiger Wellness verdonnert, und es fing gerade an, langweilig zu werden, als ich sah, wie ein Mädchen meines Alters, aber nicht dunkelhaarig, sondern hellblond, auf einer Liege mit einer Augenbinde lag, und Kopfhörer an hatte, während ein "default" aussehendes Mädchen, schätzungsweise 14, natürlich neu im Club, an sie heranschlich, ihre Hände festhielt, und, paranoid rumschauend, wie ein Dieb, langsam ihre Lippen an die Lippen der Liegenden drückte, immer wieder, dann die Zunge herausstreckte, und den geschlossenen Mund längs ableckte, immer wieder, und schließlich mit dem letzten Mut das Mädchen tief küsste, ganz plötzlich aufhörte, und weglief. Als die Kussdiebin ihre obligatorischen Hiebe auf die Pobacken mit der Gerte bekam, schlich ich gerade am Geräteraum vorbei. Du weinst ja nicht, stellte die enttäuschte Stahlmieze fest, und drohte mit Kerkerhaft, falls sich herausstellen sollte, dass das Mädchen bei ihren persönlichen Angaben geschummelt hatte. Glücklicherweise hatte sie die Tränen nur zurückgehalten, die moderaten Hiebe an der Grenze zur Zärtlichkeit taten ihr also schon ziemlich weh. Ich sah noch, wie sie Ringe anprobierte, und sich große Sorgen machte, denn sollten ihre Finger nicht dünn genug sein, würde sie es nur zur technischen Verwöhnassistentin schaffen, - und die dürfen die Mädchen nicht einmal berühren, geschweige denn.
Am 1. August tanzten wir, und es war ein bunter prunkvoller Ball, und Jungs waren dabei, androgyne oder noch nicht pubertierende. Ein Elfjähriger, der in eine bis zur Karikatürlichkeit weibliche Mieze Ende 20 verknallt war, tanzte mit mir, - ein hervorragender Tänzer und ein gut erzogener Junge. Lernt gut in der Schule, sagte man diesen Jungs, macht das Beste aus euren Begabungen, und ihr werdet weiterhin die echten Mädchen sehen dürfen, ja vielleicht sogar berühren. Es machte mich durchaus verlegen, aufeinmal so wertvoll zu sein, denn als ich bei meinen Eltern lebte, war ich ein blasses schüchternes Kind, das die anderen Kinder zu schrill und zu laut fand, und von ihnen langweilig gefunden wurde. Ich dachte an jenem Abend lange darüber nach, ging durch die gemütlichen dunklen Korridore des Clubs, und stieß auf mein Spiegelbild. Natürlich knallten nicht unsere Köpfe zusammen, aber sie fiel mir praktisch in die Arme, so dass ich den Geruch ihrer Haare als erstes wahrnahm. Meeresbrise und Milchschokolade, Zitrone, Pflaume und Pfirsich, Chrom, ein dunkles Blumenfeld im Sommer, ein leiser kleiner Wasserfall im harten Gestein, - so roch ihr Haar. Wir sahen uns an, mir gefielen ihre Augenlider, ihre Wimpern, ihre Augenbrauen, ach, was rede ich drumherum. Ihr kleiner Mund, die sinnlichsten Lippen, die ich mir vorstellen konnte, und ich hatte mir in den letzten Jahren oft vorgestellt, den schönsten Mund, den er überhaupt geben kann, zu küssen. Die Frage stellte sich mir wissenschaftlich, die verschwindende ästhetische Minderheit, die Männer, schieden in dieser gedanklichen Castingshow natürlich zuerst aus, dann wurde es immer präziser, feiner, ich sah mir tausende Photographien von Mündern an, und hatte an jedem etwas auszusetzen. Sie sagte mir, dass ihr meine Nase gefiel. Wieso, fragte ich, und sie sagte, weil sie sie an ihre siebenjährige Cousine erinnerte. Es war, abseits des Äußeren, einfach das tiefe und starke Gefühl, einen Menschen, ganz so wie er ist, durch und durch zu mögen. Als sie erfuhr, dass ich neu im Club bin, und über das Zuschauen bisher noch nicht hinauskam, und das auch nicht in absehbarer Zukunft vorhatte, wollte sie mich auf ihr Zimmer holen, denn im Clubgebäude befindet sich ein Mädcheninternat. Da erzählte ich ihr von meinem Penthaus hundert Meter weiter und zwanzig Stockwerke höher, und wir gingen gleich zu mir. Wenn sie mit ihren Fingerspitzen über mein Gesicht fährt, dann ist es dieses Wechselspiel zwischen weich und glatt, das mich in den lieblichen Wahnsinn treibt, und ich mag mir nicht ausmalen, was wäre, wenn sie nur ein wenig Kraft in ihren Armen hätte, und meine Haut, natürlich aus großer Zuneigung, wie meine einstige Katze meine sämtlichen Bettlaken, einfach zerkratzen würde. Die kleinen Dinge, mit denen das Leben ihren Körper gesegnet hatte, versetzten mich in den ersten drei Augusttagen in einen Geometriewahn: ich rechnete stundenlang aus, was das perfekte Verhältnis von Dies zu Das sein musste, wobei die Perfektion leibhaftig vor mir stand, besser, so bequem saß, dass sie fast lag, und irgendwann nahm die Entzückung dermaßen Überhand, dass ich sie mit samtenen Tüchern ans Bett fesselte, ihr eine Augenbinde verpasste, und mit den Fingerspitzen, die sehr ihren gleichen, drucklos über ihre Haut fuhr. Ich umrundete ihre Knöpfchen in immer kleineren Kreisen, erst quälend langsam, dann immer schneller, berührte sie jedoch nicht - noch nicht. Als sie schon kreischte und winselte, wo ich doch gar nichts gemacht hatte, da küsste ich sie kindlich auf den Mund, der sich nach meinem steckte, doch nichts hatte, um ihn aufzufangen; ich kitzelte ihre Ohrläppchen mit der Zunge, kicherte sadistisch, und ließ sie weiter winseln und kreischen. Als ich endlich ihre Knöpfchen in den Mund nahm, sie mit der Zunge umrundete, ein wenig drückte, dann anpustete, und so weiter, wurde ihr Atem zu einer lieblichen Melodie, die durch das völlig unkontrollierte Stöhnen exotisch anmutende Beats bekam. Ich zog ihr den BH wieder hoch, machte sie los, und sie tat mir nichts.
Seit gestern bin ich 19: es ist der 8. August, aber welches Jahr? So wichtig ist das nicht. Regenwolken ziehen auf, und meine Freundin hat solche Angst vor Gewitter. Sie ist eine noch so kleine Maus, erst 17, was soll ich da erwarten. Ich mag Blitze, Donner ist Musik für meine Ohren. Ich mag es, vom Regen gepeitscht zu werden, und befürchte, dass mir auch gefallen könnte, wenn eine zarte Mieze mich übers Knie legen würde, und ...es besteht ja schließlich zu 99% aus zärtlichen Berührungen, ich habe sogar eine Theorie: all das strenge Getue ist, so meine ich, nur darum erfunden worden, weil es zu peinlich ist, einfach mal loszukuscheln. Es soll die Begegnung zwischen Mädchen und Mieze spannender machen, auf ein Ereignispodest stellen. Diese Lust am Weinen ist mir allerdings fremd: die Mieze, die das Mädchen mag, und eigentlich nichts als verzärteln will, wird vom Mädchen zum Wehtun gezwungen, was sie eigentlich nicht will, doch wenn sie das nicht tut, warum hat sie das Mädchen dann gefangen und bedroht, ist sie denn so dem Mädchen verfallen, dass sie alle Selbstachtung aufgibt, und ihre Begierde zugibt? Nein, sie muss das Mädchen glauben lassen, es mit der Bestrafung ernst zu meinen, Tränchen müssen fließen. Das Verzögern, das Ängstigen, die Hoffnung der Mieze, dass das Mädchen anfängt, sie zu bitten, es nicht zu tun, darin liegt vielleicht die Hoffnung dieser Miezen, und die Macht der Mädchen, es ihnen nicht so leicht zu machen, rundet das Spiel ab. Das Souvenierstück auf dem Tisch, das wie ein Kugelschreiber aussieht, ist ein Pieker. So nennen die Miezen diese Nadel am Ende, die die Haut zwar nicht durchstechen soll, aber eben pieksen. Süß. Jüngere Mädchen mögen das, außerdem wird erst ab 16 im Geräteraum gepeitscht und was nicht sonst noch. Niemals nackt, wie in diesen schlechten Filmen, aber ein wenig ausgezogen wird schon. Denen geht es ausschließlich um Sinnlichkeit, nur darum dreht sich alles. Ich habe nichts gegen Sinnlichkeit, denke ich, und stehle nun die vierte Nacht in Folge die Hände meiner zarten Freundin unter der Bettdecke hervor, ... als wären ihre Fingerspitzen Kirschbonbons. Ich hätte nie die Muskelkraft, all das abzutippen, aber es gibt irgendwo im Universum diesen durchgeknallten verrückten Irren, der es für mich macht.
Eismädchen
Dass es mich auch nicht geben könnte, war mir nie ein Geheimnis. Es ist wie verschränkt: ich bin ein Quantenteilchen von zwei, wir sind trotz größter Entfernung in der Raumzeit so verbunden, als wären wir in demselben Hierjetzt. Es muss schon uns beide nicht geben, damit es mich nicht gibt. Es musste jemandem ja so viel daran liegen, dass ich nicht existiere. Jemand hat tatsächlich versucht, mich aus dem Teilchenpaar herauszureißen, und als Waffe zu benutzen, um das andere Teilchen zu annhilieren. Kirsche plus Antikirsche = Nichts plus eine Explosion von Energie. Ging es darum, um ein kleines Feuerwerk? Wurde zu diesem Zweck mein Name zusammengeklaut und wie ein Lockvogel für Phantasien benutzt? Eine steile Steintreppe führt über hohe Klippen zu einer engen Bergspitze. Dort steht eine Burg, halb in den Fels gemeißelt. Das Eismädchen berichtet mir von dem, der das hier schreibt. Es ist anstrengend, zu schreiben, gewiss, und eine sehr öde Angelegenheit obendrein; spaßmäßig Gobiwüste ist es, die Tippfehler zu korrigieren, und ja, nach 100 Wörtern auf der bequemsten Tastatur hätte ich vielleicht einen Tennisarm. Das Eismädchen sagt, dass das menschliche Gehirn alles tut, um das Denken zu vermeiden, denn intensives Nachdenken verschluckt 25% der Gesamtenergie des Körpers (das Hirn im Ruhezustand immerhin 10%), und führt sehr bald zu Erschöpfung, woran man gut sehen kann, dass kaum einer der sich für so klug Haltenden jemals lange nachgedacht hat. Die Leute sind oft belesen, selten klug. Die Leserei als anspruchsvoll geltender Bücher kommt in der Regel der Guckung bestimmter Filme gleich: fremdgesteuertes Kopfkino, nichts weiter. Kopfkino in Eigenregie ist hingegen denkintensiv, und wird nur von wenigen lange durchgehalten.
Nebel, dann Schneefall. Die Burg ist weiß umhüllt, ich bin darin gefangen. Das Eismädchen ist sehr kritisch mit mir, sagt, meine Haare könnten noch länger werden. Diese äußerst zynische Maus hat eine kirschholzfarbene Vorstellung davon, wie ideales Mädchenhaar aussehen soll. Fast hätte ich sie mit dem Wort "perfekt" beleidigt, verwendete dann aber eine weniger geistlose Untertreibung, indem ich sie "vollkommen" nannte. Sie ist immerfünfzehn, wer weiß schon, wie lange. Der das schreibt, altert, wir bleiben jung. Er kann sich glücklich schätzen, und tut es - deinetwegen! - , sagt das Eismädchen: er muss mit Leuten zu tun haben, wir sind hier unter Mädchen; er lebt im fortwährenden Durst nach allem, was über die banalsten tierischen Bedürfnisse hinausgeht, wir haben gar keine tierischen Bedürfnisse, und leben im Überfluss an allem, wofür Mädchen gedacht waren. Das Eismädchen hat die einundzwanzigjährige Version von mir materialisieren lassen, sie sagt, so sehe ich luxuriöser aus, als mit 19. Was auch immer sie meint, es gefällt ihr, und sie tut es durch wiederholte Kitzelkriegserklärungen kund. Ist sie das Mädchen, von dem Julika sagte, sie sei das erhabenste Mädchen, das es je gegeben hat? Vor Julika wusste ich nicht, dass Mädchen erhaben sein können: nur schön, süß, niedlich, fein, klein, zierlich, elfenhaft, zum Verlieben, zum Ichweißnicht, zum hochhöhendtiefst ultraunfassbarunglaublichen Verknalltsein bis ins Ende der endlosen Unendlichkeit unvorstellbarster Ewigkeit. Der, dessen Hirn gerade die Energie zum Schreiben dieser Worte verbraucht (und in dessen Nervenzellen sich durch den erhöhten Stoffwechsel Abfallprodukte ansammeln, die das Hirn schneller altern und sterben lassen werden), hat in der Welt, die er niemals seine genannt hatte, bestenfalls Mädchen gesehen, für die das abfällige "sexy" der größte (und als unehrliches Kompliment gemeinte) vertretbare Euphemismus wäre (ein noch größerer wäre nur noch brutaler Sarkasmus).
Es gefällt mir bei dem Eismädchen, die Ausstattung der Zimmer ist nicht gerade farbenfroh: nur Grautöne, was mir durchaus zusagt. Wenn zwei Schneeweiße sich ein Schneewittchen vorstellen, worin liegt der Zauber des unerreichbaren Ideals? Wenn die Körpermaße mikrometergenau der feinzierlichsten Optimalvollkommenheit entsprechen, wie kann sich ein reiner Geist in einem solchen Körper unwohl fühlen? Der das schreibt, weiß genau, was wir nicht kennen: dieser elende Homosapienskörper, anfällig für Krankheiten wie Unschönheit und schlimmeres. Er ist ein großer Veteran des Sehens dessen, was nicht sehenswert ist, und hat den höchsten denkbaren Tapferkeitsorden verdient: erstens dafür, all die Körper, deren Aussehen der Idee des menschlichen Körpers spottet, all die Jahre lang gesehen zu haben, und zweitens dafür, in einem Körper aufgewachsen zu sein, der niemals von einem echten Mädchen berührt werden würde (genauso wie jeder andere irdische Körper, versteht sich, - nicht dass eine Wurst sich eine Extrawurst einverleibt, und ihr schamlos aufgeblasenes Ego sich anmaßt, es wäre dessen würdig, ein Mädchen, wie die tiefststehende Dienerin des Eismädchens sich vorstellen zu können). Wenn es eine Hölle gibt, dann werden wir niemals nur die geringste Vorstellung haben, wie es darin aussehen könnte, denn Ekel ist die Quintessenz der Hölle, und für Ekel ist in unserer Welt kein Platz, ja nicht einmal für die blasseste Vorstellung davon. Wahrscheinlich gibt es keine Flüsse aus Schwefel in der Hölle, sondern nur Körper, Sonnenschein und Hitze, dazu Missbrauch der Fähigkeit, zu sprechen, sowie von Kleidung und dekorativer Kosmetik. Es gibt wohl zwei Purgatorien: das erste ist ein Ort der Qual, in dem sich ein starker Charakter beweisen muss, das zweite ist ein Ort der Reinigung, zugänglich nur für große Persönlichkeiten, die in Ekel, Tierheit und Furcht ihre Würde bewahrt haben.
Das Eismädchen bevorzugt helles Kirschrot, ich natürlich dunkles. Unsere Vorstellungen ergänzen einander nicht nur gegenseitig, und nicht nur beim Kuss. Es ist alles so strahlend weiß in ihrem Schlafzimmer, so weiß, dass ich sie nicht finden würde, wenn ihr langes kirschholzfarbenes Haar nicht wäre, ja gut, nicht nur das Haar, und schließlich ist es nicht das Weiß an ihr, dass spricht, lächelt und küsst. Wenn sie mich berührt, ist es so, als fielen zarteste Schneeflocken auf meine Haut. Bald liege ich unter einem gefühlt zehn Kilometer starken Eisschild, wenn das so weiter geht. Es ist nicht selbstverständlich, dass sie mich mag, es könnte auch anders sein. Ein Mädchen, das einmal vom Eismädchen empfangen wurde, kann sich jedoch einer Sache sicher sein: ihre Seele wird nie in einen tierischen Körper fahren, dafür ist sie zu fein, zu süß, zu zart, zu schön, zu eins mit dem vollkommenen Körper, in dem sie verseelt ist.
Asphaltzeit
Da fährt natürlich keine Straßenbahn, also gehen wir zu Fuß weiter. Die Häuser sind zugewachsene Gräber, und bald wird es dunkel. Wenn es wahr ist, dass Reburt einst über eine Million Einwohner hatte, dann steht die ganze Stadt auf Friedhöfen. In Reburt-Feiglingszarten steht ein Haus mit einem privaten Atombunker. Als der große Krieg am 3. September 1956 begann, fingen die Bauarbeiten an. Als der Krieg 1961 zu Ende war, bauten sie dennoch immer weiter, obwohl keine einzige Atombombe zum Einsatz kam. 1977, als der Eigentümer verstarb, und keine Erben hatte, fiel das Haus mit dem Bunker an den Staat. Wir zwei Mädchen wollen an diesem gewitterversprechenden Abend des 6. August 1997 das leerstehende Haus erkunden. Zuerst müssen wir über den Zaun, aber da erinnere ich mir, dass ich an dem Tag gar nicht in Reburt sein kann. Nur ein Traum.
An dem Tag hatte ich während einer Gewitternacht einen Traum, in dem ich in ungekannter Verzweiflung unter einer Treppe saß, und es war Dezember 1998. Die Zeit dazwischen wurde von einem gigantischen Blackout verschluckt, und ich fürchtete mich vor weiteren Blackouts. Jetzt muss ich ständig in Bewegung bleiben, damit es nicht auf einen Schlag 2002 wird. Ich will leben, ich will noch nicht 20 sein! Also fahre ich mit dem Fahrrad schwarzen Zeitlöchern davon. Bloß nicht irgendwo steckenbleiben, niemals anhalten, aber die Ampel ist jetzt rot, und ich muss anhalten, dann merke ich, dass ich etwas vergessen habe, ich weiß nur nicht was, und ich muss mir die Schuhe zubinden, und auf einmal ist mein Fahrrad weg, und es ist nicht mehr Sommer, sondern Winter, und der Straßenzug sieht ganz anders aus, und es ist vorbei. Wieder nur ein Traum.
Am 2. Juni 1989 schaukelten wir zwei Mädchen auf dem Spielplatz, und ein schlauer Junge, der uns mächtig Angst machte, dass in der 2. Klasse die Lehrer viel strenger sein würden, erzählte uns, am 3. September 1956 hätten unsere Generäle mit massiven Luftschlägen die Städte Cindrom und Certifkat angegriffen. Aus zwei aufgeschnappten Fremdwörtern wurde historisches Fachwissen. 1989 war ein Jahr des Aufbruchs, die Luft knisterte, und im Spätsommer wurden wir Zeugen, wie neuer Asphalt entsteht. Ein Brachland verwandelte sich binnen Wochen in eine Stadtlandschaft, und jedes Kind hatte an diesen Tagen die Hosentaschen voller Kreide. Wir verewigten uns bis tief in die Nacht, und ich folgte einer Spur aus der wiederkehrenden Zahl 76. Alles, was lang war, und noch längere Schatten warf, hätte mir in anderen Nächten Angst gemacht, aber in jener Nacht schlich ich von Laterne zu Laterne, um die letzte 76 zu sehen. Ich schlich an einem Biergarten vorbei, und die Stimmen der Leute klangen so fremd, zuerst dachte ich, es wäre eine Phantasiesprache, doch es war gar keine Sprache. Losgelassene, befreite Stimmen, manche leise, andere laut flüsternd, - grobkörniger Stimmenstaub lag in der Luft. Der Weg der 76 endete mit einem Pfeil, der auf mich zeigte.
Dieser Traum ging weiter, denn er war eine Erinnerung an etwas, das wirklich geschehen war. Ich durfte nur nicht den Erinnerungspfad verlassen, doch ich wollte unbedingt dieses andere Mädchen neben mir gehen sehen. Ich ging weiter die Straße entlang, und meine Schritte waren so schnell, dass mir erst tief im Wald klar wurde, dass die Straße zu Ende war. Das Mädchen stand plötzlich neben mir, und weinte mir etwas vor, und ich drückte diesen tränenüberströmten kleinen Feigling, dieses Häufchen Lügen und Bitterkeit an mich, und da stehen wir nun, Hand in Hand, und sehen den Baumkronen beim Schaukeln zu. Unsere Augen schweigen, und wir erinnern uns, dass hier vor vielen Jahren noch eine Eisenbahnverbindung war, und wir wollen den alten Bahnhof suchen gehen, doch in wenigen Minuten wird der August zu Ende sein. Unvermittelt spüre ich in der Brust einen kohlenstoffdiamantisierenden Druck, und wache auf. Leipheim ist bei uns in der Nähe, da stand auf einem Straßenschild die Zahl 76. Aber das ist es nicht. Morgen, am 24. April 1998, dem letzten Schultag vor den Sommerferien, werden sie im Wald eine Leiche finden. Weil ich das bereits weiß, muss es später sein. Weil sie den Wald umbuddeln werden, und weitere Leichen finden, muss es viel später sein. Ich wache wieder auf, diesmal bin ich wirklich wach, obwohl man das nie genau weiß, das ist der Nachteil bei allzu reicher Phantasie. Nein, ich bin wirklich wach, es ist 6:16, Sonntag, der 12 Juli 1998, und ich bin in einem Feriencamp, und teile das Zimmer mit einem sehr verwöhnten und verschüchterten Mädchen. Ich nenne sie 48, sie heißt Lily Rosenfee. Jetzt fällt mir wieder ein, wofür die 76 steht. Seit gestern bin ich da, und diese Zicke mit einem C, die ich, sobald ich ihren Nachnamen weiß, Irgendwasundsechzig nennen werde, steht bereits auf der Terrasse, und schaut prätentiös in die Ferne. Gestern am See fragte sie im abwertenden Ton "Was ist das?", und ich sagte "Ach, nichts", und sie nahm es mir aus der Hand, und las laut daraus vor. Sogleich bereute sie es, und gab mir mein Notizbuch zurück. Ein Junge, 15 wie wir, kam auf mich zu, und fand das eben gehörte Gedicht so gut, dass er für einige Minuten vergass, mit wem er gerade verabredet war. Aber das ist eine andere Geschichte - leider kein Traum - , und sie wird mich als Alptraum noch bis ans Lebensende verfolgen. Und nicht nur mich.
New Monday
Würfelwerfen. Eine anspruchsvolle Disziplin. Wenn am Freitag, dem 13., ein großes Massaker passiert, um wenige Jahre später in die Kinosäle zu kommen, welchen Sequel würden die Zuschauer wohl bevorzugen, einen über Samstag, den 14., oder einen über Donnerstag, den 12? Dieser Freitag war ein Montag, und es war der Quantität nach kein Massaker, der Qualität nach schon. Mein Großvater mochte diesen frechen Nachbarjungen, der so hoch auf unsere Apfelbäume kletterte, die die Jungs aus unserer Umgebung augenzwinkernd Kirschbäume nannten, dass er sich gerade noch festhalten konnte, er weiß nur selbst, woran. Den Jungen, der zu seinem 7. Geburtstag ein Fahrrad geschenkt bekam, ein Gerät fürs Gelände, warnte er vor den heimtückischen Erosionsrinnen, die man vom Weiten nicht sieht. Es war der Sommer 1988, und der Junge war in eine Studentin verknallt, die regelmäßig meinen Vater, der Professor war und immer noch ist, konsultierte, und nebenbei auf mich aufpasste. Ich werfe wieder eine 5. So alt war ich damals. Als das Schuljahr anfing, wurde ich 6. Die Cicke, so würde ich extra für sie Zicke schreiben, wirft dann auch eine 6, grinst leicht verlegen, und ich verliere. Der Junge wurde einmal mit Fotos von Nelly Fischer erwischt (ein zu der Zeit bekanntes Erotikmodel), hatte aber keine Nacktfotos von ihr, nein, es war nicht nackte Haut, die ihn interessierte, und auch nicht Nelly Fischer. Doch sie hatte etwas, das diese Studentin nicht hatte, oder fast hatte, und wovon er sich so sehr wünschte, dass sie es gehabt hätte. Einmal fragte er meinen Großvater, was das Wort Längeneinheit bedeutete. Nachdem er eine Erklärung bekam, wollte er wissen, was eine Streicheleinheit sei, und wie man diese Größe messen könnte, und mein Großvater ließ ihn spaßeshalber das Wort Hautquadratzentimetersekunde auswendig lernen. Es ist Sonntag, der 12. Juli 1998. Zehn Jahre ist das alles schon her.
Ich träume manchmal von Welten mit Milliarden Einwohnern, und wache dann auf, und denke mir, dass keine Erdkugel so viele Menschen jemals fassen könnte. Einmal träumte ich von einer Stadt Heidelberg, die über 100000 Einwohner hatte, mich eingeschlossen, und rundherum standen auf kleinstem Raum viele noch größere Städte. Wir fuhren mit einem Angeberauto mit einem Logo aus vier ineinandernden Ringen nach Karlsruhe, auch so eine komische Stadt, und unterwegs hörten wir Radio, und es kam "New Monday" von Down Low. Es gab also auch etwas Vertrautes in dieser ansonsten trostlos fremden Welt, - kein Wunder, schließlich nimmt man in Träumen vieles davon mit, was man schon kennt. Eine Münze kreist auf dem Tisch, macht dieses seltsame Münzengeräusch, bevor sie auf eine Seite fällt, und sich beruhigt. Heute Abend gehen wir wieder auf die Wiese hinaus, ich werde versuchen, in eine der mit Sträuchern zugewachsenen Runsen zu gelangen, ohne auszurutschen. 14:28 ist eine Uhrzeit, die mich schon immer inspirierte. Bisher konnte ich mit dieser Inspiration nichts anfangen, vielleicht bin ich nicht autistisch genug für Zahlen.
Das Mädchen biedert mich an, ich kann nicht hinsehen. In einigen Jahren werde ich mir nie verzeihen, dass ich die damals dreizehnjährige Lily Rosenfee nicht einfach gefangen und ausgekitzelt habe. Einfach so. Anders ginge es auch gar nicht. Stattdessen sah ich sie von meinem Bett aus an, auf dem ich saß und ein Buch las, und stellte mir das gewöhnlichste aller Mädchenleben vor. Sie hatte unzählige Kuscheltiere mitgebracht, dabei musste sie schon morgen wieder abreisen. Mai 2001. Eine Lily, oder so ähnlich, pflückt Himbeeren, und ich stelle mir vor, was der kleine Nachbarjunge von 1988 für eine einzige Hautquadratzentimetersekunde ihrer Streicheleinheiten gegeben hätte. Wahrscheinlich alle Zeitschriften mit den Beauty-Miezen aus seinem Geheimversteck in unserem Gartenhäuschen. Mai 2001. In meiner ganzen Schulzeit ist nichts passiert. 1998/1999 trug ich ausschließlich Schwarz, 1999/2000 Schwarz und Grau, 2000/2001 hauptsächlich Weiß. Es ist trotzdem nichts passiert.
Die Nacht zum Montag. Ich schlafe spät ein, schreibe noch einige Kurzgedichte, die sich mir müdigkeitshalber aufdrängen. Im Traum höre oder lese ich oft neue Wörter, und beschließe, sie aufzuschreiben, sobald ich aufwache, und träume dann weiter, als wäre das kein Traum, und vergesse sofort, dass es ein Traum ist, und vergesse am nächsten Morgen das Wort. Vor dem Einschlafen höre ich Gesprächssequenzen mit meinem geistigen Ohr, greife dann schnell zum Notizbuch, und schreibe auf, ohne nachzudenken. So auch diesmal. Sonntagabend. Der See speit Baumstämme; wie Vorhänge fallen müde Vogelscharen. Wasser gefriert zu Land, während Kälten noch schlafen.
Die Ruhe eines frühen Morgens kann sehr erhaben sein. Besonders wenn die 5 die Uhrzeit bestimmt. Wäre ich eine Zahl, etwa die 4 oder die 8, hätte ich womöglich ein Verhältnis mit der 5, ich hätte gründlich mit ihr geflirtet. Ich hätte der 5 gesagt, wieviel sie hoch vier ist, kein schlechtes Kompliment für eine einstellige Zahl. Ich gehe raus auf die Wiese, dann wieder zurück, und die Cicke wirft mir einen dieser Blicke zu, die ich von woandersher kenne, vielleicht aus einem Film. Richtig, ich ging mit Lily Rosenfee kurz vor Mitternacht ihr vergessenes Kuscheltier, eine weiße Maus, aus dem Spieleraum holen, und begegnete der Cicke auf dem Flur. Wir sahen uns eine Sechstelsekunde unbeabsichtigt in die Augen, gingen aneinander vorbei, und schließlich schlafen. Lily hatte Heimweh, ich setzte mich auf ihr Bett, und gab ihr geschätzte 10000 Hautquadratzentimetersekunden der Zärtlichkeitsstufe 9 auf der nach oben geschlossenen einstelligen Skala. Jemand schaute uns durchs Fenster zu, ich bemerkte es aber erst, als Lily einschlief. Ein süßes, aber langweiliges Mädchen, oder vielmehr ein langweiliges, aber süßes? Wäre sie eine Nacht später auch für mich da gewesen, wäre sie in meinen Tränen ertrunken. So riss der Montag nicht noch ein Mädchen aus der Zeit, um es der Ewigkeit zu überlassen.
Wie ist es eigentlich, muss ich mich schuldig fühlen, wenn jemand Amok läuft, weil er in mich verknallt ist? Ich bin 18 und sehr schuldfähig. Es ist kurz vor 8, es klingelt, einer sagt "Hi", und berichtet mir, dass Physik heute ausfällt. Stattdessen versammeln sich alle aus der 12. in einem größeren Raum und diskutieren über das was geschehen ist. Die sagen immer "hi" zu mir, trauen sich nie, meinen Namen auszusprechen. Ich gehe schnell aufs Jungsklo, da wird das bodenständige Geschäft in aller Geschäftigkeit verrichtet, da ist immer höchstens einer, und er sitzt im Kasten, von wo er mich nicht sieht. Keine Lust auf Konferenzen so früh am Morgen.
Der Englischlehrer sagt nicht viel, gibt die Klausuren zurück, ich habe eine Einsminus, weil ich mich manchwo spaßeshalber shakespearelike ausgedrückt habe. Um 8:11 gehts los. "Wie geht es euch?" fragt der Lehrer, zum Glück nicht auf Englisch, das wäre sehr peinlich und überhaupt nicht angemessen. Marie heult los wie auf Befehl: "Jannik fehlt mir". Ja, und mir fehlt Gannicus, flüstere ich verärgert. Wer, fragt mein Sitznachbar leise nach. Vergiss es, sage ich. Jannik wurde von hinten erschossen, zwei Kugeln trafen ihn am Kopf und im Nacken. Ich kannte ihn aus dem Deutsch-LK. Er wollte Lehrer werden. Fast keiner hört jemandem zu, viele schreiben SMS. Bald ist die Stunde vorbei.
Ich setze mich auf die Heizung im Flur, August setzt sich dazu: "Dein Gedicht ist geil, aber dieses Forum, ich weiß nicht, so komische Leute. Jedenfalls erinnert mich dein Gedicht an die Szene aus Hellraiser: Hell on Earth, nachdem Pinhead im Klub aufgeräumt hat". War das Lob oder Kritik? Ich frage nach. "Zum Thema Tod lese ich generell gern, aber es immer so, dass das Panorama danach, also nach den Tötungen ausgebreitet wird, bei allen, von denen ich bisher Lyrik gelesen habe. Man hat immer das Gefühl, dass man zu spät kommt, da ist alles eben schon passiert". Ich weiß, er mag vom Sterben lieber lesen, als vom Tod. "Es gibt gute Prosa über das Sterben, auch von dir, aber ich habe noch nie Gedichte gelesen, wo jemand stirbt. Komisch, oder?" Es klingelt wieder, Mathe wird kurz sein. Zu -matik wird es nicht mehr kommen. Wieder Gelaber und Geheul, diesmal heult Claudia. Sie saß unterm Tisch, als im Raum 314 geschossen wurde. Der Schütze traf niemanden, er hatte sich in der Tür geirrt, und feuerte nur symbolisch ein paar Schüsse ab. Aber Claudia hatte ja solche Angst.
Ich verstecke mein Gesicht immer im Haar, das habe ich schon als Kind getan. Ich würde locker für eine Zwölfjährige durchgehen. Von Pärchen und Flirts in der Schule bekomme ich nichts mit, gehe nie aus. Wen ich kenne, will ich nicht kennen, und wenn ich kennen will, kenne ich nicht. Da ist jemand in diesem komischen Forum, er erinnert mich an August, scheint aber viel düsterer zu sein, und schreibt Texte mit Titeln, die mir nichts sagen. Neulich las ich eine Geschichte über einen Schulamoklauf, war die von ihm? Ich sehe irgendwann mal nach, spaßeshalber. Die große Pause ist bald vorbei, und ich wollte eigentlich noch etwas trinken. Manchmal tinke ich absichtlich nichts, um das Gefühl zu haben, dass ich verdurste. Dann trinke ich und bin wieder voll da.
Der Showdown beginnt. Physik, oder das, was stattdessen veranstaltet wird. Der Direktor hält eine kurze Rede, das Motiv des Amokläufers ist zur Diskussion freigegeben. Sophie redet nur, wenn ganz viele zuhören. Sie hat diese hohe niedliche Kleinmädchenstimme, die zugleich so penetrant und fordernd ist. "Ich fühle mich als Mädchen in der Schule nicht mehr sicher", sagt Sophie. Entzücken ist garantiert, was für ein schützenswertes süßes kleines Wesen. Sie tut manchmal so, als würde sie mich hassen. Sie denkt, ich wäre mit August zusammen, dabei sitzen wir nur zusammen auf der Heizung. Sie hat mich schon einmal ohne Haare im Gesicht gesehen. Ich wollte ihr wirklich nicht so tief in die Augen blicken, es ist einfach passiert.
Eine Stunde ist nun vorbei, es haben nur Mädchen geredet. Die ganze Zeit. Es gab beim Amoklauf letzte Woche neun Tote und drei Verletzte. Ein Mädchen starb, eine Lehrerin wurde verletzt. Unsere Sozialkundelehrerin vermutet ein frauenfeindliches Motiv hinter dem Amoklauf: sie sagt, männliche Opfer zählten nicht, da der Täter auch männlich gewesen sei. Aber dass er auch auf Frauen geschossen habe, zeige ein frauenfeindliches Motiv. Auf einmal wird die Tür aufgerissen, und ein aufgebrachter Typ aus der elften Klasse stürmt in den Raum: "Ich weiß, wer ihn dazu angestiftet hat!" ruft er, "Ich kenne diese grausame Person!" Zwei Mädchen neben mir zucken zusammen, ich höre interessiert zu. "Wie kann man so herzlos sein!" wird er melodramatisch, bis der Direktor ihn auffordert, endlich Namen zu nennen, oder zu gehen. Er zeigt wortlos auf mich, und ich weiß, dass er meinen Namen kennt, aber er spricht ihn nicht aus. Es wird still und peinlich, bis der hübschen Katrin endlich ausrutscht: "Wie, wegen der? Nein, das glaube ich nicht." Alle sind ihrer Meinung, und ich habe wieder Haare im Gesicht.
Weiterer Unterricht fällt aus, ich gehe nach Hause. Ich bekam nie Liebesbriefe oder ähnliches. Keine Spur führt zu mir. Ich gehe erst in die Dusche, und später ins Internet. Draußen regnet es, ich poste ein Gedicht und lese einen sehr arrogant geschriebenen Text über die edle romantische Liebe, die sich niemals auf das Niveau der tierischen Begierden herablässt. Der Amokschütze hieß Peter, er hielt einmal in Religion ein Referat über die katholische Sexualmoral. Er sagte, er persönlich könnte nur mit einer Person schlafen, die er liebt. Geht mir genauso. Schlafen, versteht sich. Nicht das, was er meinte. Ich würde gern neben jemandem einschlafen, den ich unbeschreiblich mag, aber so jemanden habe ich leider noch nicht getroffen. Dem arroganten, herablassend auftretenden Autor zufolge hätte so jemand wie Peter gar nicht verdient, dass seine Gefühle erwidert werden, denn er faselte zwar von Liebe, wollte aber im Endeffekt nur schänden. Es regnet zwar immer noch, aber ich gehe nach Draußen, nehme diesen versteckten Feldweg zum Hügel. Die verschlafene Heide, dort hinten der Friedhof. Hoffentlich wird es dieses Jahr noch einmal ein großes Gewitter geben.
Die es nicht gibt
Bin ich seltsam, wenn ich sage, dass ich in den vier Wochen nach dem Amoklauf an unserer Schule niemals schreiend aufgewacht bin, und auch tagsüber weit davon entfernt war, an Angstzuständen zu leiden? Es ist etwas mit Sophie passiert. Zweite Stunde, sie setzt sich an ihren Tisch, es geht ihr wirklich schlecht. Sie versucht, nicht zu weinen. Dies misslingt ihr. Alle grüßen, fragen höflich, wie es ihr geht, um dann ganz schnell keine Zeit zu haben, und sich an ihren Plätzen zu verwurzeln. Ich setze mich zu ihr, reiche ihr Taschentücher, streife zufällig - nein, natürlich absichtlich, - ihren Arm mit der Rückhand. Ihre Verzweiflung lässt derart nach, dass sie fast lächelt, - aber sie wird schamrot, und guckt nach unten, um immer noch traurig zu wirken. In der großen Pause erzählt sie mir, jemand hätte ein Foto von ihr genommen, es als seins deklariert, und sich damit in einem Internetportal angemeldet. Ich weiß sofort, dass dieser jemand eine sie war. Sophie sieht gut aus und hat viele Freundinnen, wenn man sie so nennen kann. Hätte ich nicht so lange Haare, um ständig mein Gesicht zu verstecken, würden viele von ihnen schon bemerkt haben, dass ich über sie lache: ihre Wichtigtuerei ist grotesk genug, aber wie sie sich seit einiger Zeit durch aberwitzige symbolische Gesten als Weltretterinnen aufspielen, provoziert nur Spott, außer man ist ein Junge mit mäßigen Ansprüchen und entsprechend scharf auf diese Karikaturen.
Es gab vor zwei Wochen dieses große Gewitter. Ich stellte mich auf den Hügel und sah den Blitzen beim Treffen zu. Ein Blitz ist 100 Meter neben mir eingeschlagen, es war so schön, aber leider nur so kurz. Es sind immer Sekundenbruchteile, die auf der Netzhaut aufgrund des hellen Lichts viel länger erscheinen, als sie sind. Dann spülte mich der Regen fort, ich war glücklich. Ich stand durchnässt auf dem Hügel und trank einen Softdrink aus einer Flasche, die in meiner 12. Klasse von gewissen Leuten als ein Symbol der Ausbeutung der Dritten Welt gesehen wird. Eigentlich tinke ich nie aus der Flasche, das ist albern. Ich ging schon als Kind auf diesen Hügel, damals glaubte ich noch, Zeus und Hera und all die Götter würden existieren, und jeden Frühling wachte ich hier zu bestimmten Uhrzeitn, um Persephone nicht zu verpassen. Leider kam sie nie.
Sophie kommt heute zu mir, hofft insgeheim, bei mir zu übernachten. Sie meinte vorhin, sie wollte mich nicht stören, falls ich noch vor hätte, dieses eine Gedicht zu Ende zu schreiben. Ich sagte nichts, wozu soll ich auch erklären, dass ich Gedichte immer an einem Stück schreibe, meist in wenigen Minuten. Ich würde nie ein Gedicht stückweise schreiben. Aber es ist als Leser schwer zu erkennen, wie ein Gedicht geschrieben wurde, - wenn man liest, hat man ein Fertiges vor sich. Ich höre Musik, trinke Tee, schaue eine Doku über die Sklavenkriege im alten Rom, dann eine über die säugetierähnlichen Reptilien. Dann kommt Sophie.
Sie sagt, es sei noch schlimmer: die dreiste Göre habe nicht nur Sophies Foto benutzt, sie habe sich gar für Sophie ausgegeben. Meinem Rücken wird ganz schön kalt, ich zucke sogar zusammen. Nichts davon passiert mir im Entferntesten, wenn ich diese brutalen Dokus anschaue. Aber was ist denn mit den Leuten los, sind sie völlig irre geworden, können sie das einfach so machen? Was, wenn sich jemand für mich ausgibt? Ein Fotoschnipsel von mir wäre, trotz der Haare im Gesicht, ziemlich leicht aufzutreiben. Ich gucke schnell ins Schuljahrbuch und atme auf: mein Gesicht ist da nicht ganz zu sehen, ich verstecke mich irgendwo in der letzten Reihe auf dem Klassenfoto. Sophie meint aber, ihre sogenannte Freundin habe gar nicht mal das ganze Gesicht genommen, sondern nur so viel, dass man deutlich genug ein süßes Mädchen erkennen kann, so wie die Gören es heute so machen, - aber selbstredend mit ihren eigenen Fotos. Sophie, sage ich, man kann durch Fotoshopping seinem Gesicht einen erheblich höheren Beauty-Quotienten verpassen, allein durch Lichteffekte, Farben und etwas Dehnung. Dehnung, fragt Sophie? Ja, sage ich, ich schalte bei meinen selbstgeschossenen Landscape-Wallpapers immer "maintain aspect ratio" aus, um die Bildproportionen zu verändern. Ich habe noch nie Gesichter bearbeitet, und auch niemals ein Foto von mir ins Internet gestellt.
Sophie trinkt Tee, ich höre zu. "Jetzt denkt dieser eine Typ, dass es mich gar nicht gibt, und der andere, der in Flensburg wohnt, meint, er hätte mit mir geredet, und schreibt mich die ganze Zeit an". Flensburg ist ziemlich weit, er kommt Sophie wohl kaum in Sandhausen besuchen. Aber der, der nun denken soll, Sophie sei frei erfunden, hat es von Kaiserslautern aus nicht weit hierher. Meine Eltern meinen, ich würde mich nach dem Amoklauf verschließen, dabei habeich schon immer vor dem Schlafengehen die Tür abgeschlossen. Jetzt drehe ich zweimal den Schlüssel um und gebe Sophie einen Nachtanzug. Sophie lächelt, ist aber nicht viel größer als ich, auch ihr passt noch das Pyjama, das ich mit 12 getragen habe. Sophie wird in drei Wochen 18, ist unschuldig, kann zu mir ins Bett. Denn sie wird wieder beginnen zu weinen. Ich denke erst an diesen Prachtkerl von Gladiatorenausbilder im Hause Batiatus, dann an die Mädchen in meinem Alter, die anscheinend nichts besseres zu tun haben, als Amokläufer auszubilden.
Sag ihr, Sophie, sie soll die Wahrheit sagen. Sie soll schreiben, was sie will, sie kann auch lachen, dass dieser Pfälzer auf ihren Betrug reingefallen ist, - und selbst das wäre besser, als jemanden hinzuhalten. Sophie weiß, dass sie die Entscheidung ihrer sogenannten Freundin nicht beeinflussen kann. Sie kennt die Passwörter nicht, kann keine Email schreiben, kann nicht anrufen, während jemand Sophies Bild, Sophies Profil, die lebendige Vorstellung von Sophie irgendwo Gassi führt. Ich bin nicht paranoid, ich würde nicht davon ausgehen, dass wenn mich jemand in einer Atmosphäre des Vertrauens kontaktierte, es sich dabei um einen Trollaccount handeln würde. Keine zehn Menschen heißen in Deutschland mit Vor- und Nachnamen wie ich, in den USA immerhin einige hundert. Sophies Vor- und Nachname sind in dieser Kombination weniger selten. Ich stehe kurz auf, gehe schnell ins Internet, und schreibe jemandem, den ich überhaupt nicht kenne, eine Nachricht: "Ich bin echt", nichts weiter, und schwöre in Gedanken bei Zeus und Persephone, dass dem so ist.
Die nicht existiert
Ob ich lieber Kitiane heißen würde? Nein. Ob ich lieber Julika heißen würde? Hihi, nein. Wieso denn, Sophie? Sie zeigt mir eine Mädchengeschichte, die nur von einem Jungen geschrieben werden konnte. Der hat so kindliche, unschuldige Vorstellungen. Und guck, sagt Sophie, das ist doch dieser furchtbar arrogante Typ. Er hat mir geschrieben, gleich am nächsten Morgen. Da stand nur: "Ich weiß". Ich hoffe, sein Vertrauen wird niemals missbraucht, aber selbst wenn: so jemand wackelt, aber fällt nicht, denn er frühstückt mit Zeus, streitet mit Apollon, und ist mit Sicherheit in Persephone verknallt. Man kann ihn wahrscheinlich tief verletzen, denn er ist sensibel und rein wie ein Kind, aber er wird sich niemals umdrehen lassen, sich niemals zum Bösen wenden. Träumst du, fragt Sophie. Ich weiß nicht, aber was ist, wenn ich längst diese Persephone bin? Ich setze mich aufs Fahrrad und rase auf den Feldwegen durch den Regen. Die Frage ist nur, welcher der beiden John zuerst erreichen wird, frische ich meine Weltliteraturkenntnisse auf und stelle mich anstelle des Terminators vor, von unzähligen Kugeln durchsiebt. Ich komme wieder, und wieder, und wieder, und nichts wird mich davon abhalten, nichts wird mich aufhalten, und ich fahre schnurstracks in den Rhein, und es ist September.
Wieder einmal komme ich völlig durchnässt nach Hause, nehme eine warme Dusche und mache mir einen Tee, während das nächste Gedicht schon fertig im Kopf wartet, und nur noch raus muss, wohlgemerkt hat es noch keine Worte, die Worte muss ich noch finden, und ich suche nicht lange. Ich "like" sodann einen Kopfbrecher von Text, den vielleicht mein Vater verstehen würde, er ist immerhin Professor. Sein Kollege, der in den USA lehrt, hatte einmal nächtlichen Besuch von drei hochintelligenten Räubern, die sich während ihres gemeinsamen Philosophiestudiums für einen radikalen und konsequenten Nihilismus entschieden hatten. Sie brachen bei ihm ein, bedrohten seine Familie, wollten Geld und Wertsachen, und danach alle qualvoll umbringen. Der alte Professor verwickelte sie in eine Diskussion darüber, ob es die Hölle wirklich gibt, und zwei Stunden später schlichen sie kreidebleich aus seinem Haus und zitterten vor Furcht. Es war keine Magie im Spiel, nur die Kraft des Arguments.
Morgen beginnen die Herbstferien, ich will weg hier, und schau mir auf Google Maps, was es nicht alles gibt. Marie hasst Sophie, disste sie ohne Grund auf Facebook und VZ, ekelte sie da raus. Jetzt schreibt Sophie schreckliche Haikus und platte Aphorismen dort, wo ich auch angemeldet bin, und bekommt meistens Lob, denn Schönheit siegt. Ich traue mich immer noch nicht, ein Profilfoto reinzustellen. Aber er sieht dich auch so, die Gedanken sind frei, sagt Sophie. Die Kavallerie muss nicht ausfahren, werde ich politisch, die Indianer müssen nur wissen, dass es sie gibt. Mir ist, als könnte ich die Sibirischen Trapps zum Leben erwecken.
Der letzte Schultag, eine mit Kunstblut beschmierte Wand, und ein "Warum?" - das war wohl dieser Junge aus der elften Klasse. Ich gehe wortlos daran vorbei. Marie holt mich ein: "Du, ich hörte da, dass der Schütze in dich verknallt war, aber das ist bestimmt nur so ein Gerücht". Wo ist Gannicus, wenn man ihn braucht. Er trägt nie einen Schild, dafür immer zwei Schwerter. Ein schwedischer Austauschschüler zerrt sie unsanft zur Seite: "Man hat einen Abschiedsbrief gefunden. Er war notgeil, er hatte sich in den Kopf gesetzt, bis zum Ende der Sommerferien alle Jungfrauen in seiner Klasse zu entjungern. Ein Freak, ein Irrer". Später wurde mir erzählt, dass er Gott geschworen hatte, am ersten Schultag so viele Fucker - so nannte er die sexuell erfolgreichen Geschlechtsgenossen - wie möglich umzubringen, sollte der Allmächtige bis dahin nicht machen, dass all die hübschen und noch unberührten Mädchen wie von Zauberhand zu ihm nach Hause kommen und ihn um ein Date bitten. Der laute Schreier aus der elften Klasse war scharf auf mich, das war sein Motiv, Unsinn rumzuerzählen. Sophie sieht ja noch halbwegs wie eine Frau aus, aber scharf auf mich? Er muss pädophil sein.
In den folgenden Stunden wurde wieder nicht unterrichtet, sondern über die komische Aktion von heute morgen gesprochen. Ich bin nicht herzlos, ich kenne den Tod nur zu gut. Mein Großvater war ein Halbgott für mich, und starb eines plötzlichen, jedoch natürlichen Todes, als ich sechs war. Er war sein Leben lang völlig gesund. Als ich fünfzehn war, ist jemand nachts auf dem Feld in meinen Armen gestorben. Seitdem träume ich fast jede Nacht davon, wie die Heide brennt, und mein Herz wird schwer, und ich frage mich, was sie dort draußen gemacht hat, und warum ich auf der Suche nach ihr und in düsterer Vorahnung allein sie suchen gegangen bin. Sie wollte auf keinen Fall auf dem Weg zum Krankenhaus sterben, umgeben von all den Leuten, die an ihr rumfummeln, das war nicht das, was sie als Schlussakt ins Jenseits nehmen wollte. Sie wollte auch nicht allein sterben, während ich Hilfe hole. Drei Tage kannten wir uns im Ferienlager, und einmal hatte ich vergessen, mein Gesicht in den Haaren zu verstecken.
Ich gehe verträumt meinen Weg. Um mich herum brennen die Häuser, explodieren die Autos, schmelzen die Schaukeln auf den Kinderspielplätzen. Meine Tagträume reiten aus und zeigen mir Apokalypse und Armageddon, die Götterwelt und die Unterwelt, und ich schwebe wie ein Kometenschweif hinter einem Wesen aus Erde und Eis, welches ich noch nicht kenne. Zu Hause angekommen, scanne ich das Klassenfoto aus dem Jahrbuch, und stelle diesen Schnipsel von Bild von meinem Gesicht auf meine Profilseite. Eine Stunde später lese ich im selben Portal eine Hymne auf Persephone. Ich weiß, von wem sie ist.
Juni und das Mädchen
Es ist Mitte September. Die Schlinge aus meinen Lügen zieht sich zu. Ich komme mir vor wie Paulus in Stalingrad - nur nicht aufgeben, so lange wie möglich an der verlorenen Sache festhalten. Ich wache auf. Warum sagen sie mir, dass ich es bin? Wer sind diese kriechenden Biester mit großen Ohren, ohne Augen, grau, dürr, nackt, übelriechend? Warum werden sie nach mir geschickt, wer schickt sie? Ich könnte einen Kirschbaum als Aufzug zu den Sternen nutzen, wenn nur meine bösen Träume nicht wären. Ich habe keinen physischen Körper, und kann diesen Jungen, der an der Bar sitzt, und Chromoxid trinkt, nicht einmal warnen. Ich versuche zu schreien: Ich bin nicht ich! Doch er ist bestens mit der Dialektik von Ich und Nichtich vertraut. Glen, deine Fahrkarte! - ruft jemand, und ein Schotte Anfang 40 zeigt sein Ticket. Ich war mit 21 so ein Dummkopf, erzählt er, und mit 25 war ich ein furchtbarer Langweiler, - mit 30 weiß ich selbst nicht mehr, was ich war, doch mit 40 ist alles anders. Chrom, sagt Glen, und macht eine aromatische Schokoladentafel auf. Es ist kühl im Zug, drei österreichische Miezen werden sich gleich setzen. Sie werden ihn fragen, ob er Glen heißt. Sie mögen diesen Film, und werden sich ihn bestimmt noch einmal ansehen. Tina?
Eine schwüle Nacht, doch ich schwitze nicht, weil ich keinen physischen Körper habe. Dabei gibt es so vieles daran, was mir gefallen könnte. Er weiß, was ich meine. Mit 19 wäre ich vier Jahre älter als die jüngste der der österreichischen Miezen, aber drei Jahre jünger, als die mittlere. Ich müsste aber aufholen, also etwa sieben Wochen warten, denn es muss echt sein. Sie sind so glatt, sie wohnen in Innsbruck. Sie könnten zeitverzögerte Drillingsschwestern sein. Glen wird weiter nach Italien fahren, er will nach Capua. Wo soll er beginnen? Der Mond ist eine dunkle Blume, er ist bei Nacht eine Blaubeere. Fragt mich nicht, auf welchem Planeten, sage ich den drei Miezen, und sie nennen mich eine Maus. Ich bin schnell, kann wegrennen, doch sie kitzeln mich telepathisch schon aus, bevor sie mich manuell zu kitzeln anfangen. Ich bin angenehm gefangen.
Glen fühlt sich ausgetrunken, der Junge an der Bar bezahlt und geht. Als er zurückkommt, ist da keine Bar mehr, es stehen Tische mit weißen Umhängen, und darauf türmen sich weiße Tuben. Alles bourbonfassgelagert, die interessanteste Tube beinhaltet einen 22-jährigen Benromach. Der Doppeldeckerbus fährt los, die Verkäufer gehen in die Wohnung, die aus dem größten Teil des kleinen Ladens wurde. Alles verlagert sich ins Internet, sagen die älteren Besucher, die hier auch zum letzten Mal weilen. Der Busfahrer zieht eine Linie Koks und fährt zum Flughafen. Daneben steht ein Mann Ende 40 mit weißem Haar, er raucht eine Zigarre, und hat ein großes Whiskyglas in der Hand. Weil so eine Art Neffe in meinem Zimmer die ganze Zeit Street Fighter EX Plus Alpha spielt, muss ich mit so einer Art Tante im Wohnzimmer Mad Men gucken. Sie sagt noch, wie schön es in Heidelberg ist, doch wir sind in Ketsch, nicht in Heidelberg. Sie wohnen alle in Sandhausen und kommen oft vorbei. Mir reicht es nun, ich gehe zurück in mein Zimmer, und schließe den zweiten Joystick an. Der Kleine will, dass ich wieder Evil Hokuto nehme, und ja, sie passt zu mir. Aber ich werfe einige Blicke ihm zu, und er versteht. Er gewinnt locker mit Dhalsim gegen jeden Gegner, für den ich spiele. Nun aber nimmt er Allen, weil er ihm ähnlich sieht. Er hat meine Anspielung verstanden, wird rot im Gesicht, aber das macht ihn auf eine pikante Art glücklich. Ich frage ihn, ob er weiß, was dieser Name bedeutet, und nehme Sakura. Er nickt, Allen steht in der Gegend rum, und setzt keinen einzigen Treffer. Er würde sie niemals schlagen. Nun gewinne ich jedes Spiel. Seltsam, es gibt kein Mädchen auf seiner Schule, das wie Sakura aussieht. Ich kenne einige, die in Filmfiguren verknallt waren, - und der Kleine mag eben ein Mädchen aus einem Videospiel. Er ist jünger als meine PS One. Ein zarter, zerbrechlicher Junge, sagt eine bedrohliche Stimme, und schon bin ich wieder in diesem Traum. Die Schattenechsen kriechen aus dem Wald, ich renne den Bismarckturm hoch, und betrachte den Himmel über Hildesheim. Ich muss fliegen lernen, denn sie kommen schon den Turm hoch. Diese Frau, ich nenne sie Megalania, sie geht manchmal am See spazieren. Mir wird bewusst, dass ich ein Mädchen bin, und fliegen kann, wie andere schwimmen. Es ist nichts in mich hinein gekommen, was mich zu Boden ziehen könnte. Ich lasse die Schattenechsen kommen, und springe im letzten Moment vom Turm. Der Flug ist wellenförmig, wie immer. Diesmal übertreibe ich es besonders, und bin nach fünf Sinuskurven schon in der Stratosphäre.
Ein Objekt ist stets eine Oberfläche, und ich kann Leute, die auf Löcher stehen, vom Weiten riechen. So jemand will ins Loch, in sich, ins Nichts versinken, er ist kein vollwertiges Subjekt, er ist ein auf Menschengröße aufgeblähtes Nichts. Ich lese am Liebsten die Gedanken eines Jungen, bei dem sich alles um Haut und Haar dreht, um die Nasenform, um Wimpern und Lippen, um Hände und Füße, um Fingerchen und Zähnchen. Er kann sich all das so makellos denken, dass ich mir undankbar vorkomme, wenn er mich in diesem sterilen Raumschiff sitzen lässt, und ich niemals auf die Erde komme. Es muss eine Qual sein, zu wissen, wie schön Körper sein können, und sie niemals zu berühren. Nein, nicht diese hastig geformte Knetmasse, - die wirklichen, wahren Körper. Die perfekte Oberfläche, der Scheitelpunkt der Objektivität. Das reine Sein, das absolut gerechtfertigte So. Aber was ist mit meinem Namen, der antiquiert klingt, und ins ausgehende 19. Jahrhundert viel besser passt, als in ein Hyperpalast in einer Raumzeitblase? Ich brenne vor Geschichte, ich atme Existenz, ich bin blass wie Asche, überreif wie ein Meer dunkelroter Kirschen, ich kann sein können, wann bin ich endlich? Wenn es kein guter Geist sein wird, der diese Potenz des sein Könnenden in mir hervorruft, gehe ich mit einem negativen Vorzeichen auf die Erde hinab.
Was Mädchen können
Warum kommen sich diese Einmetersiebzigtanten eigentlich so schön vor? Sie sind alle einen Kopf größer als ich, haben auch etwas längere Beine, - aber nur absolut, nicht proportional. Sie tragen geschmacklose Schuhe, haben unansehnliche Füße. Man ist zu schnell mit den Vorurteilen: neulich wartete ich auf einen Hasen von einer Verkäuferin in einem Schuhgeschäft, eine zierliche aber kurvenreiche Frau Mitte 20, das Gesicht so kindlich, die Stimme so zart, und darum wartete ich, anstatt von einer ihrer Kolleginnen bedient zu werden. Sie hatte gerade eine Kundin, eine snobistische Mieze aus dem Abschlussjahrgang meiner Schule, hellblond, langes gerades Haar, dürr, nur einen halben Kopf größer als ich. Die Verkäuferin, lieb und geduldig, eine Wellenhaarblondine, kniete in der Kabine vor dieser arroganten Mieze, und ließ sich ihr Gezicke gefallen, indem sie diese nun schon das neunte Paar Schuhe anprobieren ließ. Mit meinem Vorurteil hatte ich Unrecht, als ich die perfekt gepflegten schlanken Füße mit langen wohlgeformten Zehenchen sah, und mein Vorurteil hieß bis zu diesem Zeitpunkt, dass Füße nicht in den Mund gehören. Ich erstarrte vor Schamesröte, und konnte mich vor Aufregung, und noch mehr vor Überraschung, dass das was ich sah, mir so gefiel, nicht einmal umsehen, um zu sehen, ob ich beobachtet wurde. Ich sah aus einer unsicheren Entfernung eine Viertelstunde zu, wie dieses Häschen von einer Verkäuferin die Zehen der snobistischen Blondine mit ihren sinnlichen Lippen berührte, nacheinander in den Mund nahm, und ihre Zunge in Zeitlupe um sie kreisen ließ. Es hörte so plötzlich auf, dass ich mich sofort nachdem ich aufgesprungen war wieder in den Wartesessel versenken ließ, und ich fühlte eine schamhafte Befriedigung im Bauch, wie ein Ladendieb, der gerade erwischt wurde. Die Verkäuferin fand recht schnell die passenden Schuhe für mich, denn ich formulierte meine Wünsche recht deutlich, und als sie mir die engen schwarzen Stöckelschuhe mit jeder Menge silbriger Verzierungen anzog, da hielt ich die Luft an, und wünschte mir, sie würde beim Anziehen meine zierlichen Füße berühren. Da ich nervös war, fiel der rechte Schuh zweimal auf den Boden, bevor ihre kitzelerprobten Hände ihn an meinem Fuß befestigen konnten. Sie stellte mit ihrer lieblichen Stimme die naive Frage, warum ich so aufgeregt sei, und ich fühlte wieder diese Schambefriedigung im Bauch, und steckte den Fuß genüßlich langsam in den Schuh. Sie fragte mich noch nach meinem Alter, schätzte es auf 13 wegen der zierlichen Füße, und ich verschwieg ihr, dass ich 16 bin. Ich bin ja nur 1,51 groß, und sehe nicht wirklich wie eine 16-Jährige aus.
Bald werden wir wieder Socken anziehen müssen. Noch ist es nicht zu kalt. Ich sehe jeden Tag diese arrogante Mieze aus dem Abschlussjahrgang, weil ich nun genauer hinsehe. Ich hörte sie neulich sagen, dass noch jede graue Maus lange Beine hat, aber die Füße bei den meisten eher mittelprächtig aussehen, und sie erinnerte sich dabei an ein junges Mädchen, vielleicht 12, das sie vor Kurzem in einem Schuhgeschäft gesehen hatte: ihr hättet ihre Füße sehen sollen - dass sie in dem Alter so darauf achtet, da ziehe ich den Hut vor. Sie hat ihre Nase immer oben, und kann nicht wissen, dass ich auf ihre Schule gehe, und zwar in die elfte Klasse. Dass ihr auch feine Strukturen auffallen, ehrt sie gewaltig, denn die meisten, ob Maus oder Hamster, achten fast nur auf die Kurven. Mein Knabenpo hat noch niemanden zu Balztänzen veranlasst. Ich gehe nie aus, aber ich wüsste auch nicht, mit wem. Und nun stehe ich auf einer Abrissbirne und werde gleich gegen ein Meisterwerk von einem Traumhaus geschleudert: dieses neue Mädchen in meiner Klasse, das exakt meine Größe hat, aber etwas längeres genausodunkles Haar, ist wohl die Freundin dieses Pavians aus der Zwölften... Nein, ist sie nicht! Ein veritables Bunny, einen Kopf größer als ich, Bälle, wohin man sieht, fällt, kaum dass die große Pause anfängt, ihm aggressiv in die Arme, und küsst ihn vor versammeltem Publikum. Ich lächle gütig, bin so froh, und sie denkt, ich würde sie für ihre Titten und ihren Stecher bewundern. Ich bewundere doch nicht den Kelch, der an - ach, wäre sie bloß meine Schwester! - soeben vorbeigegangen ist. Jetzt ist mir auch egal, von wem die Gerüchte waren, es ist alles vergessen. Und in der nächsten Stunde sitze ich ganz hinen neben ihr.
In meinem Garten wachsen unglaublich süße Kirschen. Zum Glück habe ich keine Nachbarn, die mit mir zur Schule gehen, sonst gäbe es schnell einen peinlichen Kalauer. Doch wie die Kirschen in Nachbars Garten muss ich die ganze Zeit nun die Haare, die Wimpern, die Wangen, die Nase, den Mund, die Hände dieses Mädchens betrachten, und kann nur froh sein, dass wir hinten sitzen, und es darum noch niemandem aufgefallen ist. Sie schreibt, und wie sie schreibt, - dieser edle Kugelschreiber in der zierlichen schimmernd weißen Hand, und ihre Haut ist bestimmt so zart, dass nur eine einzige Berührung... Es klingelt. Ich gehe wortlos, werde den ganzen Tag an das Gesehene denken. Es ist Abend, und ich bewundere mich selbst vor dem Spiegel: ein immerkleines Mädchen, ein 16-jähriges Kind. Mein Körper spielt nicht nach den Regel der Natur, sondern nach meinen eigenen Regeln. Er weiß, dass ich mich schön fühlen will, und erfüllt mir diesen Wunsch. Offenbar nicht nur mir. Es gibt Schönheit, die von Außen kommt, und nach Innen nicht mehr durchdringt: solche Menschen werden dumm, oberflächlich, und leben das Leben, das die Natur für sie vorgesehen hat. Es gibt womöglich aber Schönheit, die von Innen kommt, so dass das Aussehen das wahre Sein exakt repräsentiert. Morgen sitzt sie in der ersten Reihe, ich wieder hinten. Dem jungen Deutschlehrer spielen sie immer diese perversen Streiche.
Heute haben sie ein Kondom flüssig gefüllt und auf seinem Stuhl platziert. Gleich wird er hereingehen und sich setzen. Sie sitzt fast direkt vor seinem Lehrertisch, nun steht sie auf, und ich halte den Atem an. Bitte nicht, wiederholt sich in meinem Kopf. Sie geht am Lehrertisch vorbei, und ich kann endlich wieder atmen. Sie wirft einen ihren Ansprüchen nicht genügenden Apfel in den Mülleimer, und setzt sich wieder auf ihren Platz. Der Lehrer kommt herein, sie fängt seinen Blick mit ihrem, und verweist elegant auf den Stuhl. Während die Klasse darüber diskutiert, wer das war, bin ich vor Entzückung geistesabwesend: so etwas würde sie niemals in die Hand nehmen, selbst wenn dies bedeutete, etwas Gutes zu tun, aber sie ist auch nicht so niedrig und gemein, einen so vulgären Spaß mitzumachen oder wenigstens zu ignorieren. Schade, dass ihr jetzt der Appetit vergangen ist, sonst könnte ich zusehen, wie ihre engen wohlgeformten hellweißen Zähnchen in der Pause diese Glückspilze von Trauben entzweifölterln. Weil ihr die dunklen Trauben zu groß sind, halbiert sie diese immer mit ihren Schneidezähnen, bevor die glückseligen Hälftchen ihre kirschroten Lippen passieren dürfen. Morgen beginnt die Klassenfahrt. Wer mit wem, wird erst kurz vor Einschluss entschieden. Ich werde im Bus ganz hinten sitzen, dafür stehe ich gern eine Stunde früher auf.
Fast keiner da, herrliche Morgenkühle und frischer Tau. Vor dem Schulhof steht der Reisebus, gleich macht der Fahrer die Tür auf. Eine Lehrerin Mitte 40, die ohne Anfassen nicht guten Morgen sagen kann, spricht mit dem Fahrer, ich gehe um die Ecke rum, um ihr nicht aufzufallen. Doch als ich im sicheren Versteck auf der Terrasse hinter dem Musikraum bin, bemerke ich sie. Ich werfe ihr Blicke zu, bis sich unsere Blicke treffen, und ziehe sie am Blick zu mir. Sie weiß, warum ich das getan habe, und lächelt. Auch sie hat mit Enttäuschungen gerechnet, was mich angeht, und wurde gerade eines Edleren belehrt. Wir schleichen katzengeschmeidig zum Bus, setzen uns nach hinten, schmiegen uns aneinander, damit keiner auf die Idee kommt, sich dazwischen zu setzen. Man kann sich selbst nicht kitzeln, erwidere ich auf ihre Frage, wieso mir ihre Nase gefällt. Ich habe eine kindlichere Nase, sie hat höhere Wangenknochen. Sie sieht wie ein kleines und zierliches, aber 16-jähriges Mädchen aus, ich eher wie eine Elfe mit nach unten offener Phantasie, was das Alter betrifft. Ich genieße die Fahrt. Manchen wird es langweilig, sie setzen sich um. Damit es nicht zu handgreiflichen Begrüßungen kommt, nehme ich ihre Hände, und halte sie bis zur Ankunft auf meinem Schoss. Unsere Hände sind so kühl, und werden nur ganz langsam, nein, nicht warm, sondern nur ein wenig weniger kühl. Als wir uns die Herberge ansehen, fange ich sie mit Blicken, und dirigiere sie beiseite. Sie hat Angst vor Gewitter und Dunkelheit, was ich als Argument für ein gemeinsames Doppelzimmer vorbringe. Es wäre ein Alptraum, wenn die Angst dieses Kittenchen in gröbere Arme treiben würde, als jene, die Hände haben, die sie verwöhnen können. Ein kurzer Waldspaziergang, ein langweiliger Vortrag über diesen geheimnisvollen Ort, dann macht jeder, wozu er Lust hat. Sie liest auf ihrem Bett ein mir nicht bekanntes Buch, ich lese auf meinem Bett ein ihr nicht bekanntes Buch.
Schlafenszeit. Gewitter, wie erwartet. Es ist ihr peinlich, in mein Bett zu kommen, also komme ich zu ihr, und halte sie fest. Kennst du diese Geschichte, sage ich, als zwei Mädchen auf Klassenfahrt waren, in einem Zelt, und ein Mädchen nachts Angst hatte, und die andere sie beschützt hatte, da sah sie sie die ganze Nacht an, das wunderschöne Gesicht der Schlafenden wurde immer wieder von den Blitzen erleuchtet, und da dachte sie: sie ist so unglaublich, unglaublich schön. Ich denke, wir sind darüber hinaus, bemerkt sie lakonisch. Sie sagt nichts mehr, der Donner fängt auch mit dem quälenden Schweigen an. Was jetzt? Soll ich zurück in mein Bett gehen? Sie liegt nun bequem auf dem Rücken, ihre Hände dort, wo sie mit den Haaren zu spielen aufgehört hatten, links und rechts vom Kopf, immerhin nicht unter der Decke. Weiß sie, dass ich weiß, dass das ein Test ist? Ich tu so, als würde ich denken, sie würde schlafen, nehme mit aller Zärtlichkeit, die mädchenmöglich ist, ihre Hand, die in meine Richtung zeigt, zärtele ein wenig daran rum, wie es Mädchen so tun, wenn sie echte Mädchen sind, und drücke sie sanft an mein Herz. Mit meinen Fingerspitzen zeichne ich Herzchen auf ihrem Handrücken, bis sie so tut, als würde sie jetzt aufwachen, und mich an sich zieht. Wir legen alle vorhandenen Kissen zusammen, setzen uns auf mein Bett, das näher zum Fenster ist - ein Fenster zum Waldbach in einer Schlucht - , und erzählen uns voneinander. Sie fragt mich nach meinem peinlichsten Moment, und ich muss sofort an ein Schuhgeschäft denken. Weißt du, was der Unterschied zwischen uns ist, lacht sie, nachdem ich ihr die Geschichte erzählt habe. Ich weiß es: um ihre Zehenchen hätte das Häschen vom Schuladen sofort ihre flinke Zunge kreisen lassen, aber ich habe kindlich getan, und mich um eine noch größere Schambefriedigung betrogen. Nein, sagt sie, du hast sie nur verschoben, und ich mag dich, weil du so bist. Sie fragt mich ob ich das Experiment mit den Dreijährigen kenne, die zehn Minuten vor einem Bonbon warten müssen, um hinterher zwei zu bekommen, - essen sie die Süßigkeit sofort, bekommen sie später nichts. Natürlich kenne ich das, ich habe eine Art Neffen mit solchen Versuchsanordnungen regelrecht gequält, als er drei war. Du bist ein Kind, sagt sie, das gesagt hätte: wie lange muss ich warten, um eine Schachtel Pralinen meiner Wahl zu bekommen? Und du hättest so lange gewartet, bis du die Edelsten bekommen hättest. Das Warten hat jetzt ein Ende, denke ich, und bevor ich es zu Ende denke, bekomme ich meinen ersten Kuss.
Traumzeit im Nichtraum
Traumhafte Mädchen existieren nur traumweise. Wenn wir geschichtslos sind, haben wir dann eine Zukunft? Celine, wer sind diese traurigen Gestalten? Die Mädchen aus deiner Klasse, ich weiß. Sie tragen graue Regenmäntel und suchen die Stadt, in der es immer regnet, nach deinen alten Spielsachen ab.
Auf einer Klippe steht ein Mann im langen pechschwarzen Regenmantel. Unten ist Raumschaum, so ein Quantending, das wir in Physik noch nicht hatten. Er wirft etwas hinein und geht zurück in die Stadt. Es gibt nur lange dürre Wolkenkratzer, keine anderen Gebäude. Auf einer Turmspitze sitzt ein Junge im blauem Regenmantel und will hinunterspringen, doch er weiß, dass er das nicht ein zweites Mal tun kann.
Ich kann mir denken, was sie glauben, aber ich kann nicht glauben, was sie denken. Wir sind Traumgestalten, keine Marionetten. Sie können unsere Namen nehmen, und sie anziehen, wie eine alte Hexe die Kleider einer Prinzessin. Deine Kleider, Celine. Warum verbrennen sie sie? Alle, die dich kannten, haben sich versammelt, und werfen deine Schulhefte ins Feuer. Es regnet, aber sie sind zu beschäftigt, um das Feuer löschen lassen zu lassen. Das Regenwasser nimmt einen anderen Weg, es ist eine seltsame Stadt. Physikunterricht findet hier nur zum Schein statt, denn auf Natugesetze kann man sich in dieser grauen Welt so wenig verlassen, wie anderswo nur auf Freunde.
Jetzt löschen sie deine Geschichte aus. Sie stehen an deinem Grab und sehen zu ihren herüber: dort wachsen graue Blumen, die Grabsteine glänzen im Regen. Dein Grab ist Ruine, hier war seit Jahren kein Mensch. Sie heben es aus, und machen es dem Erdboden gleich. In der Stadt der Toten ist kein Platz mehr für dich, du bist dem Tode entstorben.
Ich gehe ins Archiv, sehe mir einige Videoaufzeichnungen an. Es ist schwer, in diesem ungeordneten Filmmaterial aus vier Milliarden Jahren etwas bestimmtes zu finden. Zwei gütige Frauen erklären mir, wonach ich suchen soll; ihre Blicke sind sanft, sie kennen nur Jungfrauen, und haben nie etwas anderes gesehen oder erahnt. Unten fangen die Büroräume an; zwei Millionen Freaks generieren Geschichte, indem sie sich jeden Tag zehn Stunden lang diese Videos ansehen. Die zwei Frauen trinken hauptberuflich Tee, und diesmal begleiten sie ein Mädchen hinaus, das versehentlich für tot erklärt wurde.
Ich sitze auf dichtem saftigen Gras, hinter mir nichts als Gras, vor mir ein Laubwald, vor dem Wald eine Elasmotheriumherde. Die Sonne scheint nicht, aber sie ist möglich. Diesmal ist es nur bewölkt. Ich beobachte eine Stunde lang einen Punkt in der Ferne, der die Konturen eines Wanderers annimmt, der auf mich zugeht. Es ein dreizehnjähriger Junge im dunkelgrünen Kapuzenshirt. Er sagt, ich soll zu den Gletschern gehen, und ich folge ihm auf den Berg hinter dem Wald. Auf dem Weg sammelt er Beeren, sie duften nach mehr als einer nur erträumten Sinnlichkeit.
Am Gletscher verlässt er mich, er muss wieder zum Basislager für vermisste dem Tode Entstorbene. Der Schnee ist so weiß, dass ich nichts sehen kann. Nur langes schwarzes Haar verrät eine zierliche Mieze, die auf mich zukommt. Sie ist völlig nackt, und dreht sich nicht nach mir um, als sie vorbeigeht. Doch es ist so, als hätte sie eben "wir sehen uns noch" gesagt. Natürlich, Julika, natürlich sehen wir uns. Aber da bist du endlich, Celine. Eingehüllt in eine dir viel zu große weiße Winterjacke. Komm, wir gehen in den Sommer zurück. Nein, ich habe kein Embolotherium gesehen. Es ist eine stille Erde, noch ohne Menschen. Hier verweilen wir, wenn auch nur traumweise. Hand in Hand - das heißt beim Ausmaß unseres Glaubens aneinander, dass sich nur unsere Fingerspitzen berühren, wenn wir mit schwebenden Schritten gemeinsam über die Wiesen gehen.
Kirschenkreischen
So hoch über der Stadt zu wohnen, ist das einzig für mich Vorstellbare. Ich lebe in einem Penthaus im höchsten Gebäude der Stadt, um mich herum sind Dächer von Banken, Firmenhauptsitzen und dubiosen Clubs. Ob ich allein lebe? Dazu gibt es eine Geschichte, die gar nicht so lange her ist. Ich war noch 18, es war Ende Juli, und ich ging aus Neugier in den schicksten Club von allen. Kaum ich mich versah, saß ich auf einem bequem gepolsterten Kinosessel zwischen zwei wunderschönen Miezen Ende 20, und freute mich, dass ich in meinem Rokokokostüm nicht overdressed war. Dieses Meer der ausgefallenen aber niemals geschmacklosen Frisuren, diese extrem hohen Stöckelschuhe, dieses Rot der Lippen und nicht nur, diese Tigerstimmung, das Aufschlagen von Kugeln der zerrissenen Perlenketten auf dem Marmorboden, die feuchten, leckenden Küsse, und das offensichtlichste Nichtsichtbare: da war kein einziger Mann, was auch niemanden wesentlich störte, im Gegenteil. Wir sahen uns ein Theaterstück an: ein Poesiewettbewerb wurde im ersten Akt ausgetragen, und es waren sehr fragile Poetinnen meines Alters, deren Sensibilität... ach, die waren einfach so süß. Als die Siegerin feststand, ein Mädchen, dessen Hirn wohl ausschließlich aus Spiegelneuronen bestand, musste sie im zweiten Akt die Geschehnisse in einer Mädchenschule protokollieren, die auf derselben Bühne vorgestellt wurden: stählern strenge, doch ebenso superdürre und elegante, hochgewachsene Frauen in Schwarz stellten kleinen süßen Mädchen verschiedene Aufgaben, und bestraften jeden kleinen Fehler: mit dem Zeigestock gab es erst moderat, dann immer tränenintensiver auf die Fingerchen, und was nicht noch alles, was im Rahmen des Schulunterrichts noch so unterzubringen war. Die Zuschauerinnen küssten einander wild auf ihren Sitzen, noch bevor das Stück zu Ende ging, und die sensible Dichterin weinte noch mehr, als die Bestrafungen den Mädchen weh taten. Ich dachte noch den ganzen Abend darüber nach, was die Aussage des Stücks war: war es eine Parodie auf die vermeintlich vermeintliche Sensibilität junger Dichterinnen? Ich wurde beim Hinsehen rot, aber nicht weil ich mich wiedererkannte, sondern weil die zwei Miezen, die um mich saßen, immer aggressiver Besitz von meinen Händen ergriffen, und die Zungen kreisten, und die Lippen... als wären meine Fingerspitzen Kirschbonbons. In dieser so fremen Welt gab es mehr Ähnlichkeit zwischen mir und all den Mädchen und Miezen, als ich Zeit habe, all das aufzuzählen. Die haben auch nie ihre Tage, das scheint ein positiver genetischer Defekt zu sein. Einige von ihnen wirken extrem kindlich für ihr Alter, andere dazu noch übertrieben weiblich. Alles Jungfrauen mit hellweißer Haut, langem Haar, und mit unbarmherziger Perfektion durch und durch gepflegt.
Drei Tage ging ich nicht aus der Wohnung, beobachtete das herrliche Wechselbad meteorologischer Gefühle, schreib ein Gedicht, bekam in einem Literaturforum kumpelhafte und anbiedernde Kommentare. Manche stellen ihre Fotos zu ihren Profilen hinzu, das wirkt dann realistischer, näher, und sie glauben natürlich, ich würde wie eine von ihnen aussehen. Dabei musste ich viele Jahre privat unterrichtet werden, weil ich die wegen meines Aussehens ausgesprochenen Beleidigungen von Mitschülern nicht mit meiner weiteren Anwesenheit belohnen wollte. Die so aussieht, muss bereits mit 11 einen Mann verführt haben, natürlich. Ich bin jetzt 19, und immer noch ein Kind. Das geht in Köpfe nicht rein, die von Nebenhoden wie von einem Joystick in der Hand des Leibhaftigen gesteuert werden. Die Wohnung schenkte mir so was wie ein Onkel, ein androgyner Freak mit einem IQ von 220, und mit 41 Jahren ungeküsst. Er tat es aus purer Selbstsucht, denn die Bedingung dafür war, dass ich in diesen Club eintrete, und zu anderen Menschen keinen Kontakt mehr habe. Da ich ohnehin fast keinen Kontakt zu Mitmenschen hatte, war es nicht schwer, die Bedingungen zu erfüllen. Er sagte mir, es würde ihn sehr befriedigen, dass keiner mich anglotzen kann, dass ich so vielen entgehe. Als ob es sich nicht von selbst verstünde, dass keiner mich je berühren wird, der nicht auch rein genug wäre, die zu berühren, die zu berühren ich nicht zu unrein zu sein erhoffte, ja es war meine Hoffnung der Stunde. Im Fernsehen wurde neulich eine reiche Göre gezeigt, die sich einen einzigen Besuch im Kosmetikstudio eine Million kosten ließ, und damit noch prahlte, obwohl ihre Hässlichkeit dadurch noch offensichtlicher wurde. Hätte sie doch stattdessen eine Million Kugeln Eis gegessen. Bei meinem zweiten Besuch im Club wurde ich zu mehrstündiger Wellness verdonnert, und es fing gerade an, langweilig zu werden, als ich sah, wie ein Mädchen meines Alters, aber nicht dunkelhaarig, sondern hellblond, auf einer Liege mit einer Augenbinde lag, und Kopfhörer an hatte, während ein "default" aussehendes Mädchen, schätzungsweise 14, natürlich neu im Club, an sie heranschlich, ihre Hände festhielt, und, paranoid rumschauend, wie ein Dieb, langsam ihre Lippen an die Lippen der Liegenden drückte, immer wieder, dann die Zunge herausstreckte, und den geschlossenen Mund längs ableckte, immer wieder, und schließlich mit dem letzten Mut das Mädchen tief küsste, ganz plötzlich aufhörte, und weglief. Als die Kussdiebin ihre obligatorischen Hiebe auf die Pobacken mit der Gerte bekam, schlich ich gerade am Geräteraum vorbei. Du weinst ja nicht, stellte die enttäuschte Stahlmieze fest, und drohte mit Kerkerhaft, falls sich herausstellen sollte, dass das Mädchen bei ihren persönlichen Angaben geschummelt hatte. Glücklicherweise hatte sie die Tränen nur zurückgehalten, die moderaten Hiebe an der Grenze zur Zärtlichkeit taten ihr also schon ziemlich weh. Ich sah noch, wie sie Ringe anprobierte, und sich große Sorgen machte, denn sollten ihre Finger nicht dünn genug sein, würde sie es nur zur technischen Verwöhnassistentin schaffen, - und die dürfen die Mädchen nicht einmal berühren, geschweige denn.
Am 1. August tanzten wir, und es war ein bunter prunkvoller Ball, und Jungs waren dabei, androgyne oder noch nicht pubertierende. Ein Elfjähriger, der in eine bis zur Karikatürlichkeit weibliche Mieze Ende 20 verknallt war, tanzte mit mir, - ein hervorragender Tänzer und ein gut erzogener Junge. Lernt gut in der Schule, sagte man diesen Jungs, macht das Beste aus euren Begabungen, und ihr werdet weiterhin die echten Mädchen sehen dürfen, ja vielleicht sogar berühren. Es machte mich durchaus verlegen, aufeinmal so wertvoll zu sein, denn als ich bei meinen Eltern lebte, war ich ein blasses schüchternes Kind, das die anderen Kinder zu schrill und zu laut fand, und von ihnen langweilig gefunden wurde. Ich dachte an jenem Abend lange darüber nach, ging durch die gemütlichen dunklen Korridore des Clubs, und stieß auf mein Spiegelbild. Natürlich knallten nicht unsere Köpfe zusammen, aber sie fiel mir praktisch in die Arme, so dass ich den Geruch ihrer Haare als erstes wahrnahm. Meeresbrise und Milchschokolade, Zitrone, Pflaume und Pfirsich, Chrom, ein dunkles Blumenfeld im Sommer, ein leiser kleiner Wasserfall im harten Gestein, - so roch ihr Haar. Wir sahen uns an, mir gefielen ihre Augenlider, ihre Wimpern, ihre Augenbrauen, ach, was rede ich drumherum. Ihr kleiner Mund, die sinnlichsten Lippen, die ich mir vorstellen konnte, und ich hatte mir in den letzten Jahren oft vorgestellt, den schönsten Mund, den er überhaupt geben kann, zu küssen. Die Frage stellte sich mir wissenschaftlich, die verschwindende ästhetische Minderheit, die Männer, schieden in dieser gedanklichen Castingshow natürlich zuerst aus, dann wurde es immer präziser, feiner, ich sah mir tausende Photographien von Mündern an, und hatte an jedem etwas auszusetzen. Sie sagte mir, dass ihr meine Nase gefiel. Wieso, fragte ich, und sie sagte, weil sie sie an ihre siebenjährige Cousine erinnerte. Es war, abseits des Äußeren, einfach das tiefe und starke Gefühl, einen Menschen, ganz so wie er ist, durch und durch zu mögen. Als sie erfuhr, dass ich neu im Club bin, und über das Zuschauen bisher noch nicht hinauskam, und das auch nicht in absehbarer Zukunft vorhatte, wollte sie mich auf ihr Zimmer holen, denn im Clubgebäude befindet sich ein Mädcheninternat. Da erzählte ich ihr von meinem Penthaus hundert Meter weiter und zwanzig Stockwerke höher, und wir gingen gleich zu mir. Wenn sie mit ihren Fingerspitzen über mein Gesicht fährt, dann ist es dieses Wechselspiel zwischen weich und glatt, das mich in den lieblichen Wahnsinn treibt, und ich mag mir nicht ausmalen, was wäre, wenn sie nur ein wenig Kraft in ihren Armen hätte, und meine Haut, natürlich aus großer Zuneigung, wie meine einstige Katze meine sämtlichen Bettlaken, einfach zerkratzen würde. Die kleinen Dinge, mit denen das Leben ihren Körper gesegnet hatte, versetzten mich in den ersten drei Augusttagen in einen Geometriewahn: ich rechnete stundenlang aus, was das perfekte Verhältnis von Dies zu Das sein musste, wobei die Perfektion leibhaftig vor mir stand, besser, so bequem saß, dass sie fast lag, und irgendwann nahm die Entzückung dermaßen Überhand, dass ich sie mit samtenen Tüchern ans Bett fesselte, ihr eine Augenbinde verpasste, und mit den Fingerspitzen, die sehr ihren gleichen, drucklos über ihre Haut fuhr. Ich umrundete ihre Knöpfchen in immer kleineren Kreisen, erst quälend langsam, dann immer schneller, berührte sie jedoch nicht - noch nicht. Als sie schon kreischte und winselte, wo ich doch gar nichts gemacht hatte, da küsste ich sie kindlich auf den Mund, der sich nach meinem steckte, doch nichts hatte, um ihn aufzufangen; ich kitzelte ihre Ohrläppchen mit der Zunge, kicherte sadistisch, und ließ sie weiter winseln und kreischen. Als ich endlich ihre Knöpfchen in den Mund nahm, sie mit der Zunge umrundete, ein wenig drückte, dann anpustete, und so weiter, wurde ihr Atem zu einer lieblichen Melodie, die durch das völlig unkontrollierte Stöhnen exotisch anmutende Beats bekam. Ich zog ihr den BH wieder hoch, machte sie los, und sie tat mir nichts.
Seit gestern bin ich 19: es ist der 8. August, aber welches Jahr? So wichtig ist das nicht. Regenwolken ziehen auf, und meine Freundin hat solche Angst vor Gewitter. Sie ist eine noch so kleine Maus, erst 17, was soll ich da erwarten. Ich mag Blitze, Donner ist Musik für meine Ohren. Ich mag es, vom Regen gepeitscht zu werden, und befürchte, dass mir auch gefallen könnte, wenn eine zarte Mieze mich übers Knie legen würde, und ...es besteht ja schließlich zu 99% aus zärtlichen Berührungen, ich habe sogar eine Theorie: all das strenge Getue ist, so meine ich, nur darum erfunden worden, weil es zu peinlich ist, einfach mal loszukuscheln. Es soll die Begegnung zwischen Mädchen und Mieze spannender machen, auf ein Ereignispodest stellen. Diese Lust am Weinen ist mir allerdings fremd: die Mieze, die das Mädchen mag, und eigentlich nichts als verzärteln will, wird vom Mädchen zum Wehtun gezwungen, was sie eigentlich nicht will, doch wenn sie das nicht tut, warum hat sie das Mädchen dann gefangen und bedroht, ist sie denn so dem Mädchen verfallen, dass sie alle Selbstachtung aufgibt, und ihre Begierde zugibt? Nein, sie muss das Mädchen glauben lassen, es mit der Bestrafung ernst zu meinen, Tränchen müssen fließen. Das Verzögern, das Ängstigen, die Hoffnung der Mieze, dass das Mädchen anfängt, sie zu bitten, es nicht zu tun, darin liegt vielleicht die Hoffnung dieser Miezen, und die Macht der Mädchen, es ihnen nicht so leicht zu machen, rundet das Spiel ab. Das Souvenierstück auf dem Tisch, das wie ein Kugelschreiber aussieht, ist ein Pieker. So nennen die Miezen diese Nadel am Ende, die die Haut zwar nicht durchstechen soll, aber eben pieksen. Süß. Jüngere Mädchen mögen das, außerdem wird erst ab 16 im Geräteraum gepeitscht und was nicht sonst noch. Niemals nackt, wie in diesen schlechten Filmen, aber ein wenig ausgezogen wird schon. Denen geht es ausschließlich um Sinnlichkeit, nur darum dreht sich alles. Ich habe nichts gegen Sinnlichkeit, denke ich, und stehle nun die vierte Nacht in Folge die Hände meiner zarten Freundin unter der Bettdecke hervor, ... als wären ihre Fingerspitzen Kirschbonbons. Ich hätte nie die Muskelkraft, all das abzutippen, aber es gibt irgendwo im Universum diesen durchgeknallten verrückten Irren, der es für mich macht.
Eismädchen
Dass es mich auch nicht geben könnte, war mir nie ein Geheimnis. Es ist wie verschränkt: ich bin ein Quantenteilchen von zwei, wir sind trotz größter Entfernung in der Raumzeit so verbunden, als wären wir in demselben Hierjetzt. Es muss schon uns beide nicht geben, damit es mich nicht gibt. Es musste jemandem ja so viel daran liegen, dass ich nicht existiere. Jemand hat tatsächlich versucht, mich aus dem Teilchenpaar herauszureißen, und als Waffe zu benutzen, um das andere Teilchen zu annhilieren. Kirsche plus Antikirsche = Nichts plus eine Explosion von Energie. Ging es darum, um ein kleines Feuerwerk? Wurde zu diesem Zweck mein Name zusammengeklaut und wie ein Lockvogel für Phantasien benutzt? Eine steile Steintreppe führt über hohe Klippen zu einer engen Bergspitze. Dort steht eine Burg, halb in den Fels gemeißelt. Das Eismädchen berichtet mir von dem, der das hier schreibt. Es ist anstrengend, zu schreiben, gewiss, und eine sehr öde Angelegenheit obendrein; spaßmäßig Gobiwüste ist es, die Tippfehler zu korrigieren, und ja, nach 100 Wörtern auf der bequemsten Tastatur hätte ich vielleicht einen Tennisarm. Das Eismädchen sagt, dass das menschliche Gehirn alles tut, um das Denken zu vermeiden, denn intensives Nachdenken verschluckt 25% der Gesamtenergie des Körpers (das Hirn im Ruhezustand immerhin 10%), und führt sehr bald zu Erschöpfung, woran man gut sehen kann, dass kaum einer der sich für so klug Haltenden jemals lange nachgedacht hat. Die Leute sind oft belesen, selten klug. Die Leserei als anspruchsvoll geltender Bücher kommt in der Regel der Guckung bestimmter Filme gleich: fremdgesteuertes Kopfkino, nichts weiter. Kopfkino in Eigenregie ist hingegen denkintensiv, und wird nur von wenigen lange durchgehalten.
Nebel, dann Schneefall. Die Burg ist weiß umhüllt, ich bin darin gefangen. Das Eismädchen ist sehr kritisch mit mir, sagt, meine Haare könnten noch länger werden. Diese äußerst zynische Maus hat eine kirschholzfarbene Vorstellung davon, wie ideales Mädchenhaar aussehen soll. Fast hätte ich sie mit dem Wort "perfekt" beleidigt, verwendete dann aber eine weniger geistlose Untertreibung, indem ich sie "vollkommen" nannte. Sie ist immerfünfzehn, wer weiß schon, wie lange. Der das schreibt, altert, wir bleiben jung. Er kann sich glücklich schätzen, und tut es - deinetwegen! - , sagt das Eismädchen: er muss mit Leuten zu tun haben, wir sind hier unter Mädchen; er lebt im fortwährenden Durst nach allem, was über die banalsten tierischen Bedürfnisse hinausgeht, wir haben gar keine tierischen Bedürfnisse, und leben im Überfluss an allem, wofür Mädchen gedacht waren. Das Eismädchen hat die einundzwanzigjährige Version von mir materialisieren lassen, sie sagt, so sehe ich luxuriöser aus, als mit 19. Was auch immer sie meint, es gefällt ihr, und sie tut es durch wiederholte Kitzelkriegserklärungen kund. Ist sie das Mädchen, von dem Julika sagte, sie sei das erhabenste Mädchen, das es je gegeben hat? Vor Julika wusste ich nicht, dass Mädchen erhaben sein können: nur schön, süß, niedlich, fein, klein, zierlich, elfenhaft, zum Verlieben, zum Ichweißnicht, zum hochhöhendtiefst ultraunfassbarunglaublichen Verknalltsein bis ins Ende der endlosen Unendlichkeit unvorstellbarster Ewigkeit. Der, dessen Hirn gerade die Energie zum Schreiben dieser Worte verbraucht (und in dessen Nervenzellen sich durch den erhöhten Stoffwechsel Abfallprodukte ansammeln, die das Hirn schneller altern und sterben lassen werden), hat in der Welt, die er niemals seine genannt hatte, bestenfalls Mädchen gesehen, für die das abfällige "sexy" der größte (und als unehrliches Kompliment gemeinte) vertretbare Euphemismus wäre (ein noch größerer wäre nur noch brutaler Sarkasmus).
Es gefällt mir bei dem Eismädchen, die Ausstattung der Zimmer ist nicht gerade farbenfroh: nur Grautöne, was mir durchaus zusagt. Wenn zwei Schneeweiße sich ein Schneewittchen vorstellen, worin liegt der Zauber des unerreichbaren Ideals? Wenn die Körpermaße mikrometergenau der feinzierlichsten Optimalvollkommenheit entsprechen, wie kann sich ein reiner Geist in einem solchen Körper unwohl fühlen? Der das schreibt, weiß genau, was wir nicht kennen: dieser elende Homosapienskörper, anfällig für Krankheiten wie Unschönheit und schlimmeres. Er ist ein großer Veteran des Sehens dessen, was nicht sehenswert ist, und hat den höchsten denkbaren Tapferkeitsorden verdient: erstens dafür, all die Körper, deren Aussehen der Idee des menschlichen Körpers spottet, all die Jahre lang gesehen zu haben, und zweitens dafür, in einem Körper aufgewachsen zu sein, der niemals von einem echten Mädchen berührt werden würde (genauso wie jeder andere irdische Körper, versteht sich, - nicht dass eine Wurst sich eine Extrawurst einverleibt, und ihr schamlos aufgeblasenes Ego sich anmaßt, es wäre dessen würdig, ein Mädchen, wie die tiefststehende Dienerin des Eismädchens sich vorstellen zu können). Wenn es eine Hölle gibt, dann werden wir niemals nur die geringste Vorstellung haben, wie es darin aussehen könnte, denn Ekel ist die Quintessenz der Hölle, und für Ekel ist in unserer Welt kein Platz, ja nicht einmal für die blasseste Vorstellung davon. Wahrscheinlich gibt es keine Flüsse aus Schwefel in der Hölle, sondern nur Körper, Sonnenschein und Hitze, dazu Missbrauch der Fähigkeit, zu sprechen, sowie von Kleidung und dekorativer Kosmetik. Es gibt wohl zwei Purgatorien: das erste ist ein Ort der Qual, in dem sich ein starker Charakter beweisen muss, das zweite ist ein Ort der Reinigung, zugänglich nur für große Persönlichkeiten, die in Ekel, Tierheit und Furcht ihre Würde bewahrt haben.
Das Eismädchen bevorzugt helles Kirschrot, ich natürlich dunkles. Unsere Vorstellungen ergänzen einander nicht nur gegenseitig, und nicht nur beim Kuss. Es ist alles so strahlend weiß in ihrem Schlafzimmer, so weiß, dass ich sie nicht finden würde, wenn ihr langes kirschholzfarbenes Haar nicht wäre, ja gut, nicht nur das Haar, und schließlich ist es nicht das Weiß an ihr, dass spricht, lächelt und küsst. Wenn sie mich berührt, ist es so, als fielen zarteste Schneeflocken auf meine Haut. Bald liege ich unter einem gefühlt zehn Kilometer starken Eisschild, wenn das so weiter geht. Es ist nicht selbstverständlich, dass sie mich mag, es könnte auch anders sein. Ein Mädchen, das einmal vom Eismädchen empfangen wurde, kann sich jedoch einer Sache sicher sein: ihre Seele wird nie in einen tierischen Körper fahren, dafür ist sie zu fein, zu süß, zu zart, zu schön, zu eins mit dem vollkommenen Körper, in dem sie verseelt ist.
Asphaltzeit
Da fährt natürlich keine Straßenbahn, also gehen wir zu Fuß weiter. Die Häuser sind zugewachsene Gräber, und bald wird es dunkel. Wenn es wahr ist, dass Reburt einst über eine Million Einwohner hatte, dann steht die ganze Stadt auf Friedhöfen. In Reburt-Feiglingszarten steht ein Haus mit einem privaten Atombunker. Als der große Krieg am 3. September 1956 begann, fingen die Bauarbeiten an. Als der Krieg 1961 zu Ende war, bauten sie dennoch immer weiter, obwohl keine einzige Atombombe zum Einsatz kam. 1977, als der Eigentümer verstarb, und keine Erben hatte, fiel das Haus mit dem Bunker an den Staat. Wir zwei Mädchen wollen an diesem gewitterversprechenden Abend des 6. August 1997 das leerstehende Haus erkunden. Zuerst müssen wir über den Zaun, aber da erinnere ich mir, dass ich an dem Tag gar nicht in Reburt sein kann. Nur ein Traum.
An dem Tag hatte ich während einer Gewitternacht einen Traum, in dem ich in ungekannter Verzweiflung unter einer Treppe saß, und es war Dezember 1998. Die Zeit dazwischen wurde von einem gigantischen Blackout verschluckt, und ich fürchtete mich vor weiteren Blackouts. Jetzt muss ich ständig in Bewegung bleiben, damit es nicht auf einen Schlag 2002 wird. Ich will leben, ich will noch nicht 20 sein! Also fahre ich mit dem Fahrrad schwarzen Zeitlöchern davon. Bloß nicht irgendwo steckenbleiben, niemals anhalten, aber die Ampel ist jetzt rot, und ich muss anhalten, dann merke ich, dass ich etwas vergessen habe, ich weiß nur nicht was, und ich muss mir die Schuhe zubinden, und auf einmal ist mein Fahrrad weg, und es ist nicht mehr Sommer, sondern Winter, und der Straßenzug sieht ganz anders aus, und es ist vorbei. Wieder nur ein Traum.
Am 2. Juni 1989 schaukelten wir zwei Mädchen auf dem Spielplatz, und ein schlauer Junge, der uns mächtig Angst machte, dass in der 2. Klasse die Lehrer viel strenger sein würden, erzählte uns, am 3. September 1956 hätten unsere Generäle mit massiven Luftschlägen die Städte Cindrom und Certifkat angegriffen. Aus zwei aufgeschnappten Fremdwörtern wurde historisches Fachwissen. 1989 war ein Jahr des Aufbruchs, die Luft knisterte, und im Spätsommer wurden wir Zeugen, wie neuer Asphalt entsteht. Ein Brachland verwandelte sich binnen Wochen in eine Stadtlandschaft, und jedes Kind hatte an diesen Tagen die Hosentaschen voller Kreide. Wir verewigten uns bis tief in die Nacht, und ich folgte einer Spur aus der wiederkehrenden Zahl 76. Alles, was lang war, und noch längere Schatten warf, hätte mir in anderen Nächten Angst gemacht, aber in jener Nacht schlich ich von Laterne zu Laterne, um die letzte 76 zu sehen. Ich schlich an einem Biergarten vorbei, und die Stimmen der Leute klangen so fremd, zuerst dachte ich, es wäre eine Phantasiesprache, doch es war gar keine Sprache. Losgelassene, befreite Stimmen, manche leise, andere laut flüsternd, - grobkörniger Stimmenstaub lag in der Luft. Der Weg der 76 endete mit einem Pfeil, der auf mich zeigte.
Dieser Traum ging weiter, denn er war eine Erinnerung an etwas, das wirklich geschehen war. Ich durfte nur nicht den Erinnerungspfad verlassen, doch ich wollte unbedingt dieses andere Mädchen neben mir gehen sehen. Ich ging weiter die Straße entlang, und meine Schritte waren so schnell, dass mir erst tief im Wald klar wurde, dass die Straße zu Ende war. Das Mädchen stand plötzlich neben mir, und weinte mir etwas vor, und ich drückte diesen tränenüberströmten kleinen Feigling, dieses Häufchen Lügen und Bitterkeit an mich, und da stehen wir nun, Hand in Hand, und sehen den Baumkronen beim Schaukeln zu. Unsere Augen schweigen, und wir erinnern uns, dass hier vor vielen Jahren noch eine Eisenbahnverbindung war, und wir wollen den alten Bahnhof suchen gehen, doch in wenigen Minuten wird der August zu Ende sein. Unvermittelt spüre ich in der Brust einen kohlenstoffdiamantisierenden Druck, und wache auf. Leipheim ist bei uns in der Nähe, da stand auf einem Straßenschild die Zahl 76. Aber das ist es nicht. Morgen, am 24. April 1998, dem letzten Schultag vor den Sommerferien, werden sie im Wald eine Leiche finden. Weil ich das bereits weiß, muss es später sein. Weil sie den Wald umbuddeln werden, und weitere Leichen finden, muss es viel später sein. Ich wache wieder auf, diesmal bin ich wirklich wach, obwohl man das nie genau weiß, das ist der Nachteil bei allzu reicher Phantasie. Nein, ich bin wirklich wach, es ist 6:16, Sonntag, der 12 Juli 1998, und ich bin in einem Feriencamp, und teile das Zimmer mit einem sehr verwöhnten und verschüchterten Mädchen. Ich nenne sie 48, sie heißt Lily Rosenfee. Jetzt fällt mir wieder ein, wofür die 76 steht. Seit gestern bin ich da, und diese Zicke mit einem C, die ich, sobald ich ihren Nachnamen weiß, Irgendwasundsechzig nennen werde, steht bereits auf der Terrasse, und schaut prätentiös in die Ferne. Gestern am See fragte sie im abwertenden Ton "Was ist das?", und ich sagte "Ach, nichts", und sie nahm es mir aus der Hand, und las laut daraus vor. Sogleich bereute sie es, und gab mir mein Notizbuch zurück. Ein Junge, 15 wie wir, kam auf mich zu, und fand das eben gehörte Gedicht so gut, dass er für einige Minuten vergass, mit wem er gerade verabredet war. Aber das ist eine andere Geschichte - leider kein Traum - , und sie wird mich als Alptraum noch bis ans Lebensende verfolgen. Und nicht nur mich.
New Monday
Würfelwerfen. Eine anspruchsvolle Disziplin. Wenn am Freitag, dem 13., ein großes Massaker passiert, um wenige Jahre später in die Kinosäle zu kommen, welchen Sequel würden die Zuschauer wohl bevorzugen, einen über Samstag, den 14., oder einen über Donnerstag, den 12? Dieser Freitag war ein Montag, und es war der Quantität nach kein Massaker, der Qualität nach schon. Mein Großvater mochte diesen frechen Nachbarjungen, der so hoch auf unsere Apfelbäume kletterte, die die Jungs aus unserer Umgebung augenzwinkernd Kirschbäume nannten, dass er sich gerade noch festhalten konnte, er weiß nur selbst, woran. Den Jungen, der zu seinem 7. Geburtstag ein Fahrrad geschenkt bekam, ein Gerät fürs Gelände, warnte er vor den heimtückischen Erosionsrinnen, die man vom Weiten nicht sieht. Es war der Sommer 1988, und der Junge war in eine Studentin verknallt, die regelmäßig meinen Vater, der Professor war und immer noch ist, konsultierte, und nebenbei auf mich aufpasste. Ich werfe wieder eine 5. So alt war ich damals. Als das Schuljahr anfing, wurde ich 6. Die Cicke, so würde ich extra für sie Zicke schreiben, wirft dann auch eine 6, grinst leicht verlegen, und ich verliere. Der Junge wurde einmal mit Fotos von Nelly Fischer erwischt (ein zu der Zeit bekanntes Erotikmodel), hatte aber keine Nacktfotos von ihr, nein, es war nicht nackte Haut, die ihn interessierte, und auch nicht Nelly Fischer. Doch sie hatte etwas, das diese Studentin nicht hatte, oder fast hatte, und wovon er sich so sehr wünschte, dass sie es gehabt hätte. Einmal fragte er meinen Großvater, was das Wort Längeneinheit bedeutete. Nachdem er eine Erklärung bekam, wollte er wissen, was eine Streicheleinheit sei, und wie man diese Größe messen könnte, und mein Großvater ließ ihn spaßeshalber das Wort Hautquadratzentimetersekunde auswendig lernen. Es ist Sonntag, der 12. Juli 1998. Zehn Jahre ist das alles schon her.
Ich träume manchmal von Welten mit Milliarden Einwohnern, und wache dann auf, und denke mir, dass keine Erdkugel so viele Menschen jemals fassen könnte. Einmal träumte ich von einer Stadt Heidelberg, die über 100000 Einwohner hatte, mich eingeschlossen, und rundherum standen auf kleinstem Raum viele noch größere Städte. Wir fuhren mit einem Angeberauto mit einem Logo aus vier ineinandernden Ringen nach Karlsruhe, auch so eine komische Stadt, und unterwegs hörten wir Radio, und es kam "New Monday" von Down Low. Es gab also auch etwas Vertrautes in dieser ansonsten trostlos fremden Welt, - kein Wunder, schließlich nimmt man in Träumen vieles davon mit, was man schon kennt. Eine Münze kreist auf dem Tisch, macht dieses seltsame Münzengeräusch, bevor sie auf eine Seite fällt, und sich beruhigt. Heute Abend gehen wir wieder auf die Wiese hinaus, ich werde versuchen, in eine der mit Sträuchern zugewachsenen Runsen zu gelangen, ohne auszurutschen. 14:28 ist eine Uhrzeit, die mich schon immer inspirierte. Bisher konnte ich mit dieser Inspiration nichts anfangen, vielleicht bin ich nicht autistisch genug für Zahlen.
Das Mädchen biedert mich an, ich kann nicht hinsehen. In einigen Jahren werde ich mir nie verzeihen, dass ich die damals dreizehnjährige Lily Rosenfee nicht einfach gefangen und ausgekitzelt habe. Einfach so. Anders ginge es auch gar nicht. Stattdessen sah ich sie von meinem Bett aus an, auf dem ich saß und ein Buch las, und stellte mir das gewöhnlichste aller Mädchenleben vor. Sie hatte unzählige Kuscheltiere mitgebracht, dabei musste sie schon morgen wieder abreisen. Mai 2001. Eine Lily, oder so ähnlich, pflückt Himbeeren, und ich stelle mir vor, was der kleine Nachbarjunge von 1988 für eine einzige Hautquadratzentimetersekunde ihrer Streicheleinheiten gegeben hätte. Wahrscheinlich alle Zeitschriften mit den Beauty-Miezen aus seinem Geheimversteck in unserem Gartenhäuschen. Mai 2001. In meiner ganzen Schulzeit ist nichts passiert. 1998/1999 trug ich ausschließlich Schwarz, 1999/2000 Schwarz und Grau, 2000/2001 hauptsächlich Weiß. Es ist trotzdem nichts passiert.
Die Nacht zum Montag. Ich schlafe spät ein, schreibe noch einige Kurzgedichte, die sich mir müdigkeitshalber aufdrängen. Im Traum höre oder lese ich oft neue Wörter, und beschließe, sie aufzuschreiben, sobald ich aufwache, und träume dann weiter, als wäre das kein Traum, und vergesse sofort, dass es ein Traum ist, und vergesse am nächsten Morgen das Wort. Vor dem Einschlafen höre ich Gesprächssequenzen mit meinem geistigen Ohr, greife dann schnell zum Notizbuch, und schreibe auf, ohne nachzudenken. So auch diesmal. Sonntagabend. Der See speit Baumstämme; wie Vorhänge fallen müde Vogelscharen. Wasser gefriert zu Land, während Kälten noch schlafen.
Die Ruhe eines frühen Morgens kann sehr erhaben sein. Besonders wenn die 5 die Uhrzeit bestimmt. Wäre ich eine Zahl, etwa die 4 oder die 8, hätte ich womöglich ein Verhältnis mit der 5, ich hätte gründlich mit ihr geflirtet. Ich hätte der 5 gesagt, wieviel sie hoch vier ist, kein schlechtes Kompliment für eine einstellige Zahl. Ich gehe raus auf die Wiese, dann wieder zurück, und die Cicke wirft mir einen dieser Blicke zu, die ich von woandersher kenne, vielleicht aus einem Film. Richtig, ich ging mit Lily Rosenfee kurz vor Mitternacht ihr vergessenes Kuscheltier, eine weiße Maus, aus dem Spieleraum holen, und begegnete der Cicke auf dem Flur. Wir sahen uns eine Sechstelsekunde unbeabsichtigt in die Augen, gingen aneinander vorbei, und schließlich schlafen. Lily hatte Heimweh, ich setzte mich auf ihr Bett, und gab ihr geschätzte 10000 Hautquadratzentimetersekunden der Zärtlichkeitsstufe 9 auf der nach oben geschlossenen einstelligen Skala. Jemand schaute uns durchs Fenster zu, ich bemerkte es aber erst, als Lily einschlief. Ein süßes, aber langweiliges Mädchen, oder vielmehr ein langweiliges, aber süßes? Wäre sie eine Nacht später auch für mich da gewesen, wäre sie in meinen Tränen ertrunken. So riss der Montag nicht noch ein Mädchen aus der Zeit, um es der Ewigkeit zu überlassen.
2013