Es
war sich wesentlich leichter zu merken, dass das schönste
introvertierte Mädchen in der 11. Klasse Innie genannt wurde, und das
schönste extravertierte Mädchen Ennie, als sich ihre Namen zu merken,
dachte Pi. Auch das war ein Spitzname, und in der Mittelstufe nannten
sie ihn, weil er so süß war, sogar Pikachu-Pi. Er war aber gar nicht der
beliebteste Typ, eher der stille Beobachter, wobei auch kein
Außenseiter, vielmehr ein schöner Jüngling, mit dem Mädchen nichts
hatten, weil sie bei seinem Anblick Minderwertigkeitskomplexe bekamen.
Die anderen beiden Edelmetalle hießen Ice und John, ebenfalls
Spitznamen. Ice war der verschlossenste Typ, ein lebendes Beispiel aus
einem Schizoidie-Lehrbuch, Perfektionist mit Bestnoten in allen Fächern.
Persönliches war über ihn überhaupt nicht bekannt. Keiner kannte ihn
auch nur oberflächlich, auch im fünften Jahr gemeinsamen Schulbesuchs.
So war er, und der leicht autistische John wirkte neben Ice offen und
extravertiert. Und nun war Ice tot.
Die Informationsbeschaffungs- und -bestätigungsspannung stieg von Minute
zur Minute, die Gerüchte begannen auf Stufe 6 zu kochen, bis endlich
die offizielle Bestätigung kam, dass Ice von einer hohen Brücke in
kaltes Wasser gesprungen war, und sich selbst damit erfolgreich getötet
hatte. Da keiner wusste, was war, konnte auch keiner etwas dazu sagen,
und Pi stand in der Ecke und dachte nach, als Ennie mit Fäusten
angeflogen kam und auf Innie losgehen wollte. Zum ersten Mal hatte Pi
Sympathie für Ennie: es war ihr scheinbar nicht egal, was mit Ice
passiert war; scheinbar war ihr nicht die Suizidsensation nicht egal,
sondern die Vorgeschichte, sprich Ice als Mensch. Aber nur scheinbar.
Als Ennie physisch davon abgehalten wurde, auf Innie einzuprügeln,
sprich aufgehalten wurde, indem sie zurückgehalten wurde,
materialisierte sich die Energie des expandierenden Universums durch den
plötzlichen Wirkungsbeginn der Gravitation in konkreten Teilchen,
pardon, äußerte sich Ennies Wut in Worten anstatt mit Schlägen: "Ich
hatte John fast so weit, und jetzt!!? Jetzt wird er es wegen mir nicht
mehr tun, weil sich schon ein anderer umgebracht hat!! Verficktester
Fick, fuck, scheiße, verdammt, ich wollte, dass sich ein Junge wegen mir
umbringt! Und jetzt!? Meine Biographie ist zerstört, das krasseste
Schulerlebnis kommt nicht mehr! Und du hast es mir gestohlen, du
Schlampe!" Das Letzte, was man über Innie hätte sagen können, wäre
Schlampe.
Doch da verstand Innie auf einen Schlag, dass Ice sich aus unerwiderter
Liebe zu ihr umgebracht hatte, und Innie hatte die ganze Zeit nichts
bemerkt. Jemand, der so verschlossen ist, und zugleich so sensibel, muss
doch wenigstens andeutungsweise signalisieren, dass er etwas für ein
Mädchen empfindet, doch wenn er das tatsächlich tut, setzt er seine
zarten Gefühle unberechenbarer Härte aus, und zerbricht bei kleinster
Zurückweisung wie eine ultrafiligrane Eisfigur. Innie brach in Tränen
aus und dann zusammen, der Notarzt wurde gerufen, und Pi sah
verachtungsvoll zu Ennie und dachte: "Ihr Extravertierten seid
Menschenmüll. Wärt ihr Lauten nicht, könnten die Leisen gehört werden.
Würdet ihr euch nicht immer in den Mittelpunkt drängen, könnten die
Feinen gesehen und gehört werden. Aber nein, es muss erst etwas
passieren; es geht euch immer darum, dass etwas passiert. Und immer
anderen, nie euch". Auf der Radfahrt heim dachte Pikachu-Pi: "Schade,
dass Mädchen zu feige sind, sich aus Liebe umzubringen, sonst wären
wegen mir schon zwanzig Stück tot. Was am meisten nervt, sind diese
Fake-Suizide, absichtlich misslungener Suizidversuch als Hilfeschrei..."