Freitag, 12. Mai 2017

Der Kallophile und die Lesbe




"Du musst die Frau nehmen, die dich nimmt", gab mir Torsten einen Rat von Mann zu Mann. Dass ich kein dressierter Mann bin, wusste er nicht. Rolf zeigte mit dem Blick auf ein vorbeischneiendes Häschen, doch ich antwortete mit energischem Kopfschütteln und dem Spruch: "Arsch und Titten sind nicht genug". Seine lesbische kleine Schwester, gerade 18 geworden, rebellierte auf erfrischende Weise gegen die selbst in den Zeiten der größten Aufgeklärtheit von fast keinem hinterfragte Gynaikokratie mit der Bemerkung: "Warum muss er überhaupt eine Frau nehmen?" Torsten verzog die Miene: "Aber guck doch, jeder in diesem Raum hat eine Freundin, nur er nicht. Kein Wunder, dass viele denken, dass er gestört ist". Ich wollte schweigen, doch eine ferne Silhouette erfüllte mich mit Sehnsucht und Bitterkeit, also sagte ich: "Ich bin mir durchaus bewusst, wie gestört ich bin, ich bin nämlich kallophil. Ich stehe auf extreme Schönheit, die es nur in der Vorstellung gibt, aber nicht in der Realität. Und Reinheit setze ich voraus". Rolf dachte nach, ob er seine heute aus physiokalendarischen Gründen abwesende Freundin mit dem aufreizenden Häschen an der Theke betrügen wollte, oder es diesmal besser lassen. Bevor er sich fürs Erste entschied und unseren Tisch verließ, sagte er zu mir: "Ich verwette meinen Arsch, dass du einsam stirbst". Mir war nicht erst seit heute klar, dass er Recht hatte, vielmehr hatte ich mich seit Jahren damit abgefunden. Torsten und seine beiden mir nur flüchtig bekannten Freunde standen auf und gingen tanzen; Torsten sagte noch: "Ich lasse euch beide mal allein, aber nicht weil sie eine Lesbe ist, sondern weil man dich mit jeder Frau allein lassen kann, da wird nämlich gar nichts passieren". Und auch er hatte Recht, wozu also mit Zynismus kontern. Während ich mich mit Rolfs Schwester über das im Film "Martyrs" thematisierte Schuldtrauma unterhielt, knallte Rolf im Nebenraum das Häschen. Ein Hengst hielt Frauenheld Torsten aufgrund seiner Tanzbewegungen für schwul, und behielt offenbar seine Meinung auch nach dem erhaltenen Korb.


Nur der Kallophile und die Lesbe verließen den Club nüchtern, die anderen waren gut angeheitert bis mäßig besoffen. "Du bist ein arrogantes Arschloch", schleuderte mir Torsten entgegen. Da ich nicht jedem von meinem Asperger-Syndrom erzähle, das mich manchmal arrogant wirken lässt, rege ich mich über solche Bemerkungen auch nicht auf. Rolf scherzte: "Ja, Menschen, die von unmöglichen Dingen träumen, sind wirklich das Allerletzte! Was sind schon Mörder oder Vergewaltiger dagegen". Torsten war nicht klar, dass dies ein zynischer Witz war, und er sprach, unterstützt von Alkohol: "Ja, arrogante Arschlöcher sind echt das Allerletzte, mit einem Mörder kannst du wenigstens normal reden. Aber wartet, nein, die Pädophilen, die sind noch schlimmer, das sind aber auch die einzigen..." Mit diesen Worten verabschiedete er sich, und an der nächsten Haltestelle stiegen seine mir namentlich - da ich auch nicht gefragt hatte - nicht bekannte Freunde in den Bus. Wir gingen zuviert weiter: Rolf, seine lesbische Schwester, sein schlechtes Gewissen und ich, und wir hatten noch einen weiten Weg. Nachdem wir uns vergewisserten, dass wir uns gegenseitig mögen und wertschätzen, fiel die Erleichterung der Herzen leichter: jeder gestand nun der Reihe nach, in wen er oder sie verknallt war. Rolf liebte tief, fest und heimlich eine der jungen und sehr hübschen Schulfreundinnen seiner Schwester. Als Realist lebte er mit einer nicht so unerreichbaren Kommilitonin zusammen, auf die er sexuell ja durchaus stand. Rolfs Schwester wollte es als Letzte gestehen, und so sagte ich ein Kurzgedicht auf, - Hand aufs Herz, in dieses Geistesbild von einem Mädchen bin ich seit Jahren verknallt. Es gab einfach keine reale Person, in die er verliebt war, - sollte ich etwa lügen und eine erfinden, um mich für die anderen sympathischer zu machen? Zu meiner Überraschung war zumindest einer meiner Begleiter von meiner Antwort alles andere als enttäuscht, und zwar derjenige, der lesbisch war. "Ich kenne so ein Mädchen", sagte sie, und man sah ihr an, wie ihr Herz schon bei dem Gedanken sofort höher schlug. Rolf glaubte nicht: "Du kennst sein Traummädchen? Du kennst eine, die ihm gefallen könnte?" Wir schwiegen eine Weile, dann sagte Rolfs Schwester: "Mich würde sie sofort durchschauen, aber du hast keine erotischen Absichten, wer weiß, vielleicht ist sie so rein, wie du es dir erträumst". Dann stieg sie in den Bus, und ließ dabei ein paar lautlose Tränen fallen. Ich machte einen Umweg wegen Rolf, der unbedingt sein Gewissen erleichtern wollte. Ich konnte sein Fremdgehen nicht mit Argumenten unterstützen, aber ich hatte Verständnis und Mitgefühl mit allen Beteiligten.


Am nächsten Nachmittag ging ich in die Universitätsbibliothek; im Foyer mangelte es nicht an durchaus hübschen Studentinnen, doch keine war wirklich bis ins Detail schön. Ich suchte den Leseraum, in dem mein Traummädchen angeblich regelmäßig las, und war auf eine wohltuende Enttäuschung vorbereitet. Stattdessen sah ich ein Engelwesen, wie es mir bisher nur in der Phantasie erschien. Natürlich hat mich diese Erstsemestermaus sofort durchschaut, denn meine Triebe verrieten mich augenblicklich: ich hatte einen entrückten Gesichtsaudruck, starrte sie an, und meine Beschützerinstinkte waren außer Kontrolle. Doch sie lächelte mich engelhaft an; dieses zerbrechliche Wesen was das menschlich Größte und Stärkste, was mir bis dahin begegnete. Wir sahen uns ein weiteres Mal an und gingen schweigend zusammen hinaus; die ersten Worte wechselten wir vor ihrer Haustür. Sie wollte wissen, wie lange schon. Lügen ist verwerflich, einen Menschen anlügen widerlich, und wer einen solchen Engel anlügt, ist das Allerletzte, nein, vielleicht das Allervorletzte. Ich suchte meine Sprachlosigkeit bei der wunderbaren Begegnung also nicht mit einer Geschichte über lange Sehnsucht und extreme Schüchternheit zu begründen, sondern sagte wahrheitsgemäß, dass ich sie heute zum ersten Mal sah. Ihr Atem wurde schneller, sie schaute kurz zu Boden, und sagte dann fast im Flüsterton: "Das ist ja fast wie bei mir". Der Unterschied sei, dass sie es der auf den ersten Blick geliebten Person sofort gesagt hatte, aber diese hatte sie auch nach erstem Blickkontakt direkt gefragt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wen dieses wunderschöne Mädchen auf die Art angesehen hat, auf welche es selbst gewöhnlich angesehen wird.


Am nächsten Tag trafen wir uns wieder in der Bibliothek, sie wollte mich unbedingt sehen, was für mich eine bisher undenkbare Erfahrung war. Doch es ging zu meiner Erleichterung - man ist nämlich erleichtert, wenn lebenswierige Erfahrungen bestätigt werden - nicht um mich, sondern um jemanden, den ich offenbar kannte. "Ich wünschte, ich wäre so wie du, so ...kindlich", suchte sie nach dem richtigen Wort, und war mit dem ersten Adjektiv, das ihr einfiel, so unglücklich, dass sie sofort das Thema wechselte. Autismus mag eine individuell persönlichkeitsfördernde Begabung sein, aber für zwischenmenschliche Kommunikation eher eine - und durchaus erhebliche - Behinderung, so dass man nur mit Kindern reibungslos kommunizieren kann, unter Erwachsenen sich aber wie ein Alien fühlt. Seit einigen Wochen passte ich regelmäßig auf Kinder von drei unterschiedlich verschiedenen aber ähnlich paranoiden Ehepaaren auf. Einer der Väter sagte mir direkt, dass er 90% der Bevölkerung für potentielle Kinderschänder hielt, - im Falle besonders schöner Kinder ging er von 99,9% aus. Die andere Familie war mit einer Freundin von Rolfs Schwester verwandt, und eine Freundin dieser Freundin war auch eine Freundin des Engels, den ich traf. Engel sind wie Autisten: auch sie fühlen sich in der Gesellschaft von Kindern wohler als unter Erwachsenen, und so überraschte es mich nicht, dass sie mitkam, aber es überraschte mich schon, wie gut sie die Kinder kannte. Ich konnte mich sogar für eine Stunde zurückziehen, während sie mit den Kindern ein Gesellschaftsspiel spielte, - kam aber zurück zu den Spielenden, um ein anderes Spiel als das Spiel selbst zu beobachten, nämlich das Spiel ihrer unbeschreiblichen Hände mit ihren unbeschreiblich romantischen Haarsträhnen. So, als würde sie die ganze Zeit flirten. Wer war überhaupt da als potentieller Adressat ihrer lieblichen Reize? Sie war 19, ich 31, und nach Klein und Niedlich klaffte von Jung und Schön aus eine genauso große Lücke wie nach Alt und Grau: ein Junge und ein Mädchen waren 8, ein Junge 7, und ein Mädchen zu den Großeltern verreist. Frauen stehen eigentlich auf ältere Männer, dachte ich, und es waren keine Gleichaltrigen da, nur ich, - doch dann sah ich, wie sie in pissbedingter Abwesenheit der Jungs das Mädchen küsste. Es war natürlich der Kuss eines Engels, aber eines verliebten Engels. Sie hielten die ganze Zeit Händchen und kuschelten nicht bloß weil sie Mädchen waren. "Sie ist niedlich, oder?" versuchte sie das von mir Beobachtete herunterzuspielen, als ich sie nach Hause brachte. "Um es auf eine Größenordnung zu bringen: ich würde nicht bloß einen Mord an dem Teufel begehen, der ihr hypothetischerweise etwas antäte, ich würde es zu einem Massen- , nein, Völkermord ausbauen", tat ich den Ausmaß meiner Beschützerinstinkte für das Mädchen kund. Damit war ich empfindungstechnisch jedoch anscheinend nicht bei meiner Erstsemestermaus, vielmehr beim ultraparanoiden Vater des Mädchens, der mich zu seinem Stellvertreter auf Erden ernannte, nachdem er sich in langen philosophicotheologischen Diskussionen vergewissern konnte, wie sehr ich an die Existenz der Hölle glaubte, - und an den göttlichen Ursprung des Weltganzen.


Sie lud mich auf einen Tee ein, in ihre Wohnung, klein aber rein wie ein Tempel für einen Gott, an den man wirklich glaubt. Sämtliche Hausarbeiten wurden von zwei Kommilitoninnen erledigt, die Hilfsbereitschaft vorspielten, um meine Maus öfter zu sehen, und ihre süße Stimme zu hören; zwei bildschöne lesbische Jungfrauen aus der Abiturklasse von Rolfs Schwester halfen der Unvergleichlichen bei der Entfaltung und Pflege ihrer Schönheit, wofür sie sie aus der Nähe riechen konnten, und schließlich war jeder Hautkontakt mit ihr wie ein Blitzschlag, - wenn Aphrodite statt Zeus Blitze schlüge. Die Unerreichbare wollte mir etwas gestehen, weil ich Verständnis in jeder Situation und Mitgefühl mit allen Wesen hatte. "Es ist noch schwerer, als wenn eine Freundin mir sagen wollte, dass sie lesbisch und in mich verliebt ist", begründete sie die Sprachlosigkeit beim schmerzlich ersehnten Geständnis. Als ich ihre Hand berührte, flossen Tränen: "Ich wünschte, ich hätte deinen Mut". Es kostete mich in der Tat große Überwindung, aber nur zu einem kleinen Teil aus Schüchternheit: Gesicht, Haar und Hände machen 99% meines Interesses an Mädchenschönheit aus, beim Rest erwarte ich zwar Perfektion, aber finde diese Körperteile eher banal. "Sie ist ein Kind, du kannst nie wissen, was sie wirklich möchte, und was sie möchte, weil sie glaubt oder weiß, dass du es möchtest", fasste ich ihre Sorgen für sie zusammen. Auf dem Heimweg dachte ich über das allgemeine Vorurteil über Aussehen und Identität von Pädophilen nach: hässliche, widerliche Männer, 40 oder älter. Am nächsten Tag traf ich Rolf, der mir hasserfüllt berichtete, dass seine Schwester gestern versucht hatte, sich mit Schlaftabletten umzubringen, weil eine eingebildete Zicke so hartherzig gewesen sei, und nicht verstehen wollte, wie schwer es Lesben haben, zu ihren Gefühlen überhaupt zu stehen, geschweige denn sie dem anderen Mädchen zu offenbaren. Auf dem Weg zu meinem Weininger-Seminar wünschte ich mir so sehr, dass meine Maus in ihrer Liebe für die Kleine genauso romantisch anstatt erotisch empfand wie ich für sie, denn das kleine Mädchen hatte mir schon immer von einer Traumprinzessin erzählt und von ihren liebevollen Augen und ihrer süßen Stimme geschwärmt, nur hatte ich als promovierter Phantast diese Erzählungen für Tagträume eines sich nach einer wunderschönen und liebenden großen Schwester sehnenden Einzelkindes gehalten.



9.2014