Dienstag, 2. Mai 2017

La Mädchenique




 Die Welt hat den Stecker gezogen. So jedenfalls fühlte es sich an, als von 22:21 auf 22:22 überall die Lichter ausgingen. Ich lag auf einer welligen Holzliege am Baggersee, und sah nur, wie all die Häuser und Laternen dunkel wurden. Ich wartete: vielleicht ein Stromausfall. Nach einer gefühlten halben Stunde wurde es mir zu kalt und ich ging nach Hause, nur war es hinter dem Bahnhof Richtung Norden so stockdunkel, dass ich nicht weiter gehen konnte. Ein Radfahrer fuhr weiter, an mir vorbei. Er verschwand im Dunkeln. Ich dachte, ich taste mich schon bis zu meiner Wohnung, sie ist doch nur einen lächerlichen Kilometer weit. Ich setzte meinen Fuss nach Vorn und sprang zurück - der Boden war nicht zu fühlen.
 

 So ging ich in die andere Richtung, nach Süden. Hunde bellten, Menschen riefen etwas, aber ich verstand diese Sprache nicht. Taschenlampen funktionierten nicht, Autos kamen ohne Licht von der Straße ab, und nur wenn etwas brannte, sah man gut. 

 Ich ging noch mehrere Stunden lang nach Süden, legte mich schließlich auf eine Parkbank und schlief ein. Morgen, dachte ich, werde ich mehr wissen. Ein EMP? Vielleicht. Aber das Loch, der verschwundene Boden... Ich hatte einen Alptraum, in dem ein halb Affe halb Dinosaurier mit Flügeln mich verfolgte. Nun spürte ich aber die Härte und Kälte der Parkbank wieder, und musste nur noch die Augen öffnen.
 

 Ich dachte, es wäre ein Traum im Traum gewesen, und nur wäre ich in einem einfachen Traum. Nochmal aufwachen, dachte ich, aber es ging nicht, denn es war kein Traum. Es musste Mittag sein, aber es war dunkel. Als ich aufstand, fiel ich fast in ein Loch. Der ganze Boden war von diesen scheinbar endlos tiefen Löchern vom Durchmesser eines Autoreifens übersät. Ich ging einen Slalom um die Löcher herum, hinter mir fielen Bäume um. Heute ist der dritte August, murmelte ich, um nicht den Verstand zu verlieren.
 

 Ich fand endlich ein Haus, in dem Licht brannte. Viele Kerzen standen auf einem Tisch, und ein Mädchen unbestimmbaren Alters ängstigte sich im Pyjama auf einem Bett. Sie griff nach meiner Wasserflasche und trank alles gierig aus. Dass es warm geworden war, bemerkte ich erst daran. Sie hielt die leere Nullkommafünfliterflasche fest, und ihre langen Krallenchen glitzerten in einer undefinierbaren Farbe. Ich sah ihr Haar hinab, wollte wissen, wie lang es war, aber fand nicht, wo es aufhörte. Ich ging in den dunklen Keller und holte eine Kiste Mineralwasser. Sie hatte viel Wasser da, aber keinen Mut, es zu holen. Fast wäre ich in ein Loch im Wohnzimmer gestolpert.
 

 Wir tranken, dann küssten wir uns. Ihre Lippen, ihre Haut, alles wollte ich küssen, langsam, ausführlich, endlos; ich hielt ihre Arme fest und küsste mich vom Mund runter zum Hals. Ich ließ los und ihre Hände gierten nach meiner Haut wie meine Küsse nach ihrer - vielleicht wollten wir uns versichern, dass die andere Person keine Ausgeburt der Phantasie im Dunkeln war. Nach etwa einer Stunde leidenschaftlichen Küssens bemerkte ich, als ich bei ihrem Bauchnabel war, das völlige Fehlen sexueller Erregung: es war Leidenschaft, es war Gier, aber in der Hose war Windstille. Und auch sie führte meine Hände nicht in ihren Schambereich, sondern griff nach ihnen so, dass sie stets auf ihrer Haut sein mussten. Das Kerzenlicht wurde schwächer, sie krallte sich mit ihrem ganzen hauchdünnen Körper in meine Umarmung hinein.
 

 Wir erkalteten. Ich schwang die Decke über uns, sie senkte sich langsam auf uns, das Mädchen ließ los. Das erste Wort fiel, und ich nannte ihr meinen Namen. Ich fragte sie auch etwas, und zwar  was die Ursache dieser Dunkelheit sein könnte, woraufhin sie sich wieder an mich krallte, als wollte sie in meinen Brustkorb hineinschlüpfen. Ja, ich hätte sie durchaus ins Herz geschlossen. Die Kerzen brannten nicht mehr lange, bald war es stockdunkel. Alle dreißig bis vierzig Sekunden fuhr sie mit ihren Händen über mein Gesicht, um sicherzugehen, dass es seine Form nicht veränderte.

 Ich wollte sie wieder küssen, hielt ihre Arme fest, aber sie bekam unbeschreibliche Angst und rief, ich sollte sie sofort loslassen, damit sie, wie jede Minute zweimal, mein Gesicht ertasten konnte. Sie flüsterte, als ich sie losließ, ich könnte sie verschlingen, wenn sie nicht aufpasste. Mit dem rechten Fuss wollte ich den Boden neben dem Bett ertasten, aber da war kein Boden mehr. Ich versuchte, ihr zuzuflüstern, dass da kein Boden mehr war, aber sie legte immer wieder ihre Hand auf meinen Mund. Dann sagte sie, ich sollte sie in die Halsschlagader beißen, sie flehte darum. Ich hielt wieder ihre Arme fest, fragte sie aus, wovor genau sie solche Angst hatte, und sagte, ich würde sie erst dann mein Gesicht ertasten lassen, wenn sie mir alles erzählt.
 

 Sie sagte mir fünf oder sechs Mal, dass ich es nicht hören wollen würde, aber ich bestand darauf. Menschen verwandelten sich in schlangenartige Monster oder einfach in Schleim, Tentakeln schwangen durch die Luft umher, und Fangarme kamen aus dem Boden hervor. So sei es mindesten zwanzig anderen Gästen ergangen, erzählte sie. Als ich kam, da wollte sie mich mit aller Macht in meiner menschlichen Form festhalten, was ihr ja bisher gelungen war. Als ich fragte, wie lange sie schon hier sei, und etwa fünfzehn bis zwanzig Stunden seit dem Stromausfall ausrechnete, da flüsterte sie kaum hörbar: vier Jahre. 


7.2011