Dienstag, 22. Dezember 2020

Die Füchse hatten Recht

 

 

 

Nur noch müde und dankbar. Milde Abgeschlagenheit, aber Oxytocinüberschuss. Ich hatte mal an einem Experimentalversuch teilgenommen, in dem Oxytocin-Nasenspray schizoiden Psychopathen wie mir verabreicht wurde, das war künstlich und hielt zwei Stunden. Jetzt habe die hundertfache Dosis natürlich und rund um die Uhr. Aber der Weg zur letztlich finalen Closure war hart, der psychische Körper muss sich erholen, vom physischen ganz zu schweigen. All die Sonnenaufgänge waren nicht umsonst so nett zu mir. Das Versprechen hat gehalten.

Ich sehe auch gern die Mühen des Bösen ins Leere laufen, den gebrochenen Kreis der schizoiden Paranoia, diesen Negativteilchenbeschleuniger, der der Psyche mehr abzweigte als korrupte Politiker dem Staat. Wer kein Urvertrauen hatte, muss vertrauen lernen, aber wem und wie? Alles Vertrauen fängt vom Misstrauen an. Vertraut habe ich bisher nur Sophie und Charlotte, den Füchsen, die mich in einer Juninacht 2012 durch die leeren Straßen führten und dezent etwas andeuteten, das die größte Prüfung des Vertrauens in die Realität als solche werden sollte. Das Böse trägt es gern dick auf, es will alles haben. Wahnsinn wäre das Maximalziel gewesen, doch die haben sich mit der falschen Psyche angelegt. Eine Narzissmuskanalbetreiberin meinte, Narzissten seien von Dämonen besessen. Das Kampfvergnügen ist aber größer, ohne Vermittlung des narzisstischen Wirts zu kämpfen, von Angesicht zu Fratze.

Beide Parteien sind erschöpft, doch es ist kein Unentschieden. Das Böse besteht aus lauter Sterblichkeiten, das Foltern einer Seele rächte sich als Massaker und Genozide zahlsuperreicher Wesen, die nie wieder leben werden. Göttliche, reine Liebe siegte mit dem Schwert und ohne menschliche Verluste. Als stolzer Terminator, der John versprach, keinen Menschen zu töten, gehe ich in den psychologischen Urlaub. Vom Bauch in die Brust, vom Herzen wieder runter in den Bauch Herbstwärme und Frühlingssonnenschein. Platonische Harmonie und Weltenzufriedenheit. Zu viel Oxytocin für ein einzelnes Glücklichsein, zu viele Gigaelektronenvolt für das Up-Feeling, es ist eher Charm, und geht in die Richtung Top. Die Zeit ist kein Strahl mehr, die Zeit ist aufgespannt. Es gibt direkte Wechselwirkungen mit der so verlegenheitlich genannten Vergangenheit. Leise Minuten lieblicher Nächte tanzen im Wind der Stunden andere Jahrzehnte und Planeten. Und Planeten? Sie nicht nicht bloß mechanisch bewegte Himmelskörper. Das Leben war schon immer mehr als Logistik, doch ich fühlte weniger als selbst das.

Damit ist Schluss. Ich verliere mit Absicht und Zärtlichkeit, wo mein Sieg nur Zerstörung brächte. Ich erkenne den, in dem ich ihn finde, als meinen Meister an. Ich höre den Füchsen zu. Sie sind realer als Nihilismus, der aller Trauer voran und schon immer tot in Persephone war. Das Mädchen liebt nicht das Böse, sie ging freiwillig mit ihm, weil er ein Dark INTJ ist, und wie soll es mich verletzen, wenn es mir doch mit freundlichstem Lächeln schmeichelt? Verletzlichkeit ist da, damit Liebe möglich ist; Schwäche ist da, damit geliebt werden kann. Es wird auch viel zerstört, aber das sind wir doch selbst; keiner zwingt uns, keiner hält uns das Damoklesschwert, wir bilden uns dieses nur ein und all die unzähligen Messer, wenn wir den Rücken zuwenden, und durch diese Angst vor Empathie uns selbst einbilden, den Stich zu verdienen. Augen werden sich öffnen, Münder werden sich schließen. Es lebe der heilige fünfdimensionale Raum, flüstert mir Loki als Schlusssatz ein. Dann soll es halt so stehen bleiben. Es lebe der heilige fünfdimensionale Raum, und ich danke dir.

Donnerstag, 5. November 2020

Die Gatekeeper

 

 

 

 

Es war einmal ein sehr durstiger Mann, der ohne eigenes Verschulden keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hatte. Es gab einen Brunnen mit weitundbreitem Wassermonopol, doch die Politik der Brunnengesellschaft war "Kein Wasser an Durstige!" Das wunderte den Mann, zumal die Brunnengesellschaft sich für einen Club besserer Menschen hielt, und sich selbst Empathie und Mitgefühl mit jeder Art von Benachteiligten besonders hoch anrechnete. Doch diese guten Menschen wollten dem durstigen Mann kein Wasser geben, es sei denn, er würde für ein Glas 1000 Euro bezahlen, doch so viel bezahlen wollte er nicht, da er morgen wieder durstig sein würde und bei diesen Preisen schnell bankrott wäre.

Ein bärtiger Typ aus der Gemeinschaft der Roten Pille lehrte den durstigen Mann, dass er nicht durstig wirken durfte, um an das Wasser des Brunnens zu kommen: "Du musst so tun, als hättest du keinen Durst. Ansonsten wirkst du bedürftig, und die Gatekeeper rümpfen sich ihre feinen Nasen. Tu so, als wäre dir das Wasser egal". Der durstige Mann ging zum Brunnen und tat so, als wäre er gar nicht durstig, doch die Gatekeeper erkannten sofort an seiner Körpersprache, genauer gesagt, an seiner Krankheitssymptomatik, dass er immer noch an Durst litt, und lachten ihn nur aus.

Doch eines Tages fand der durstige Mann auf einem Berg einen Gletscher, aus dessen Schnee und Eis sich prächtiges Trinkwasser gewinnen ließ. Er kam endlich zu Kräften und baute sich im Wald am Berghang eine solide Hütte. Nun wurde er von der Brunnengesellschaft aufgesucht. Sie boten ihm eine Zisterne Wasser umsonst an, doch er lehnte mit einem verachtungsvollen Blick das Angebot ab. Da fingen sie an, ihm Schuldgefühle einzureden: "Du hast unseren Brunnen im Stich gelassen! Was, wenn Räuber kommen, wer schützt uns und unseren Brunnen?" Und sie boten ihm wieder Wasser an, so viel wie er trinken konnte und für immer. Doch der Mann wollte nur seine Ruhe haben und schickte die Gäste fort.

Mittwoch, 23. September 2020

Miezen III

 

 

9. Intschviethel

Der, der die beschützte, die Ariadne so süß fand, mietete an jenem Samstag einen Maur und fuhr erstmal drei Stunden richtung Osten. Kurz vor Reburt fuhr er von der Autobahn ab und fuhr durchs Land: Alling, Himghosting. In Reburt-Feiglingszarten ist er als Kind zur Schule gegangen. Und dort wollte er hin, aber machte noch eine Runde durch das verschlafene alte Himghosting, wo ein alter Tempel stand, den er als Kind bei einem Klassenausflug fotografiert hatte. Daneben war ein zugewachsenes Gelände mit einer alten Hütte. In dieser Hütte hatte jemand Altpapier gebunkert, und daher kam auch dieses Buch, eine wissenschaftliche Abhandlung mit vielen Bildern, in welcher über Monster, die Kinder in ihren Alpträumen sehen, in einer Art geschrieben wurde, wie man über ausgestorbene oder rezente Tierarten schreibt. Und es war ihm mit 8 Jahren so, als hätte er eines dieser Monster gleich auf dem Gelände gesehen, eine Chichinicha. Und nicht nur die. Es ging, wie immer, wenn es um etwas wichtiges geht, um ein Mädchen.

Irgendwo musste eine schmale Dorfstraße sein, fast zugewachsen. Nur Radfahrer und Fußgänger konnten sich hier bewegen. Er ließ den anthrazitfarbenen Zweisitzer-Maur stehen und suchte den Weg. Im Gebüsch verbarg sich schüchterscheu ein Schild: Intschviethel 1km. Er ging den Weg zu Fuß. Auf dem Fahrrad hat dieses Mädchen gesessen. Diese Richtung nahm damals die Maus. Sie war in seinem Alter, fast gleich ähnlich ungefähr genau. Und o, dieses Haar! Ja, Kinder speichern wichtige Eindrücke für das ganze Leben. Nun wollte er die alte Zeit spüren, den Duft, es war September, und der Sonnenstand war beim Vorbeigehen mit der Klasse an dem Ort hier wie jetzt ebengerade an diesem Februartag. Das stolze Schild begrüßte den Besucher im verschlafenen Intschviethel. Vom Edelier Dhae Diedendied Ende des 13. Jahrhunderts als Festung gebaut, wurde es später zum Bauerndorf in der Grafschaft Himghosting. Die Ghoster, Nomaden aus der fernen Steppe im Osten, gründeten diese im kalten 12. Jahrhundert. Kein einziger der 282 Bäume, die damals im heutigen Stadtpark standen, wurde seither gefällt. Intschviethel nun, ein 40-Seelen-Dorf südwestlich von Himghosting, lockte mit noch unberührterer Natur mitten im Ort. Jahrhundertelang wurde beim Leben und Lebenlassen vor allem auf Ästhetik geachtet. Kinder wuchsen in derselben natürlichen Umgebung auf wie ihre Urururgroßeltern und noch weiter ur-.

Da war es, das Fahrrad! Er sah in den weiträumigen Hof und klingelte. Ein Mann Ende 20 kam auf ihn zu und machte die Gartentür auf. „Wem gehört dieses Fahrrad?“ „Meiner Frau“, war das Gespräch kurz. Und als sie aus dem Haus kam, sah er dieses glücklich gealterte Mädchen. Sie zeigte ihm gern die Fotos von damals und er fragte, wem jetzt dieser verlassene Hof mit der Altpapierhütte gehörte. Es war in deren Familienbesitz. Der Besucher kaufte den Inhalt der Hütte ab, ließ zwei Tonnen nach Hause abtransportieren und bedankte sich. Keiner hatte in den letzten 13 Jahren auch nur reingeschaut. Süße, liebliche Nostalgie, ohne Wehmut, ohne Verlustschmerz, vielmehr mit Gewinnlust und Kindheitsrückkehrgefühl. Die zarten Hände des Mädchens damals auf dem Lenkrad, der Miniatur-Schulranzen, das niedliche Nummernschild des Fahrrads. Und jetzt erwartete sie selbst ein Kind, vielleicht ein Mädchen, das in acht Jahren auf demselben Fahrrad vorbeifahrend sich für einen anderen Jungen unvergesslich machen wird.


10. Henthien

Die Frühlingsferien fingen an zu beginnen, und als Julia Juliette wieder traf, beschwerte sie sich umgehend: „Jetzt meidet er mich“. „Hat er sich in ein anderes Mädchen verknallt?“ „Nein, er ist immer allein, aber zurieden jetzt. Als würde er einen Suizid oder Amoklauf planen“. „Du hast zu viele Filme gesehen“. Juliette ging zum Fenster, es regnete. „Miezen“, fing sie an, und Julia hörte mit sprichwörtlich aber nicht wörtlich offenem Mund zu, „sind gar nicht so wichtig wie man immer denkt. Wir alle profitieren von einer Kultur der Miezenverherrlichung, Miezen werden aufs Podest gestellt, als ginge es Leben nur um uns. Der Teil, der daran wahr ist, ist, dass es den meisten von uns eben um uns selbst geht“. Tränen zierten Julias verständnisloses Gesicht. Juliette nahm sie in den Arm und flüsterte: „Oder du bist selbst in eine Mieze verknallt. Dann kannst du immer noch glauben, dass Miezen das Wichtigste sind“.

Er lebte moralisch, ein Leben der psychischen Selbstgeißelung und Askese. Und er beging mit 22 Suizid. „Und jetzt bist du 22“, lachte Anique. Der Beschützer von Aris Schützlingsmaus erzählte weiter: und er kam in die Hölle. Ein düsterer unterirdischer Ort voller Hässlichkeit und Leiden, aber vor allem depressivistisch und leblos. Doch das automatische Weltgesetz hatte ihn nicht nur bestraft: für seinen tadellosen Lebenswandel erhielt er Fähigkeiten. Also kam ein Zenobit, eine Art Bürokrat der Hölle auf ihn zu, und fragte ihn, ob er entflohene Höllenbewohner in der Welt der Lebenden wieder jagen wolle. Er fragte gar nicht nach der Belohnung, sondern willigte ein, seine Pflicht zu tun. Also jagte er sie, das ist der Hauptteil des Films. Und seine Fähigkeiten entwickelten sich weiter, er wurde am Ende selbst so mächtig, dass keiner ihn hätte in die Hölle zurück zwingen können. Soll ich spoliern? Anique nickte. Er kam freiwillig zurück. Damit endet der erste Film.

Wer alles von Shaye Crayden gesehen hat, ist selber schuld. Man muss es sich aufteilen. Es ist deprimierend, wenn man die besten Filme alle schon kennt. Und wenn dann die postapokalyptische Serie, mit der man aufgewachsen ist, zu Ende geht, gibt es einstweilen nur noch Bücher. Oder man mietet einen gemütlichen Arenkord und fährt Lieth nach Henthien. Vor 1000 Jahren war überall hier nichts als dichter Wald. Und es ist heute fast immer noch so. Es gibt im Grunde nur ein paar Schneisen, ein paar Lichtungen, auf denen Gras wächst, Getreide wird eh aus Vengria importiert. Zwischen Reburt und Arenkord noch Heideflächen, aber richtung Südosten, da ist nichts als Wald. Der Wald als Quelle der Furcht in „Frightnight in Streedenborough“. Auf der Insel gibt es halt nicht viel Wald. Eine verlassene Fläche vor dem Zaun, kaum drei Fussballfelder groß. Dann fängt wieer der Wald an. Leben dort schwarze Landkraken auf Bäumen, die mit ihren Tentakeln? Lieths große Schwester zeichnete sie, um die Kleine zu ängstigen, um sie zu beschützen. Jetzt, in Winterstarre, ist es nicht so beeindruckend, wie Lieth erzählte. Aber man kann sich denken, wie es hier im August aussieht. Das letzte Haus vor dem Wald, keine Straße mehr, nichts, gar nichts, alte Schienen, alte Betonklötze, Spuren der Luftabwehr. Füchse kommen immer wieder vorbei. Lieth stieg aus, ihre große Schwester begrüßte sie, winkte dem Fahrer, und der Fahrer fuhr weiter nach Aniaine.

Woher weiß man, wie alt man ist, wie kann man sein geistiges Alter schätzen? Manchmal ist es, als hätte man viele Leben gelebt, und dann fühlt man sich doch auf das eine reduziert und beginnt zu rechnen: wieviel Lust, wieviel Leid? Lohnte es sich? „Und wer ist dein Lieblingsregisseur?“ kam die Fragerunde bei Kithie an. Kithie wusste wahrscheinlich nicht, was ein Regisseur war. Es gab auch Länder, in denen das Hauptaugenmerk auf den Schauspielern lag und der Regisseur nicht immer bekannt war. Andere Länder, andere Sitten, aber Kithie wollte schon Cliff Jules oder Ian Tuhuteru sagen, doch bevor sie sich mit einem Fussballernamen blamierte, fragte sie der kecke Jacques: „Nique Alice Toxvaerd?“ Kithie wurde knallrot. Die lesbischen Hochglanz-BDSM-Filme hatte sie erst diesen Winter entdeckt, aber jeden schon mehrmals gesehen. Heimlich. Allein. Die Peinlichkeitspause zog sich genüsslich in die Länge. „Ich habe ihr davon erzählt“, rettete Julia Kithie.

Julia?“ rief der kecke Jacques mit charmantem Akzent. Er holte sie ein. „Julia, du musst nicht immer alle retten“. Julia blieb fragend stehen. „Lass den Leuten ihre unangenehmen Erfahrungen, sie haben ein Recht darauf“. Am Ende des Julianachhausebringens waren die beiden ein Paar. Kithie hockte nervös in ihrem Kinderzimmer, sie wollte ja nicht mitfahren, und ihre Eltern waren seit wenigen Minuten weg, und die Babysitterin war noch nicht da, und Kithie hoffte einerseits, sie würde nicht mehr kommen, doch hatte andererseits Angst nachts allein. Eine drahtige Mieze Mitte 20 klingelte schließlich an der Tür. „Du sagtest am Telefon, ich sollte Filme mitbringen“, zeigte sie, was sie dabei hatte. Kithie wurde knallrot. Erst um 8 Uhr morgens gingen die Miezen schlafen, während am anderen Ende der Stadt Sophie Fotos von Ariadne betrachtete. Sie konnte nichts in Worte fassen, nur Ein-Wort-Gefülle stallisierten sich kri: Kindheit, Freiheit, Glück, Liebe, Zartheit, Vergänglichkeit.


11. Incel

Die Frühlingsferien vorbei, Abiturprüfungen für Anique und Juliette. In wenigen Wochen großer Identitätsverlust: Schule vorbei. Im Frühjahr Schulmieze, im Herbst Unimaus. Vom Senior unter der Kleinen zum Junior unter den Großen. Und doch ist Schule Schule, als eine Art kindheitschützende Institution war sie kein Ort des Erduldens und Absitzens, sondern ein Ort, an dem das Leben in seiner zartesten und beschütztesten Form stattfand. Zwischen der 10. und der 11. Klasse nahmen die meisten ein Freijahr, um diese schöne Zeit zu dehnen, manche auch zwischen der 11. und 12. Und nach der Prüfungsphase Ende März war die einen Monat längelnde Kältewelle vorbei. Im Ästhetikunterricht der 12. hielt jemand ein Referat über Spezifische Schwäche, es ging um eine wundervolle Eigenschaft des mädchlich-miezlicher Körpers, darum nämlich, dass die Arme zur Schulter hin nicht dicker werden, aber auch nicht ausgehungert dürr aussehen, sondern, man sieht es halt insbesondere bei Anique. Doch manchmal sind nicht die Zartesten die Schwächsten.

Es geschah in diesem großen und frechen Land des siegreichen Liberalismus, in dem das anthropologische Niveau wohl auf die primitivste Formel Essen-Fortpflanzung-Dominanz zurückgekehrt war. Im oberen Café des Eliteinternats unterhielten sich Anique, Ariadne und ihre Maus, als die verängstigte Sophie, reflexartig-beschützerisch nach der Maus greifend, fragte: „Habt ihr die Nachrichten gesehen?“ Eli setzte sich dazu und schüttelte facepalmend mit dem Kopf. Er hatte Verwandte in diesem bescheuerten Land. Fernsehfliegen und Radiogeschmeiß aus jener Richtung griff noch letzte Woche den Gesestzesentwurf diesseits des Ozeans an, nachdem nicht nur in Elite-, sondern in allen Schulen sofortiger Schulverweis bei Verlust der Unschuld drohte. Drüben sah man die Sache anders: Jeder hat das Recht auf Sex, und das so früh wie möglich. Und wer in der 12. Klasse immer noch keinen hatte, ist ein Incel.

Der Junge hatte seine Tat in der Silversternacht geplant: das war die letzte Frist. Wenn dann immer noch nichts mit Miezen gelaufen ist, ist es endlich Zeit, sich zu rächen. Die unerträgliche Ungerechtigkeit der Einsamkeit. Die unhinterfragte Anspruchshaltung. Und so kam er, wie immer unscheinbar, eines Märzmorgens in die Schule, und stellte vor der großen Pause seine Kanone im Schulhofgebüsch auf, ein gewaltiges Maschinengewehr mit so viel Munition wie in seine alte Karre passte. Immerhin noch Führerschein gemacht. Es klingelte, die Schüler kamen in den Hof, an diesem Ende der Welt war es ein warmer Tag. Die Sonne schien und er eröffnete das Feuer. Er schoss und schoss und schoss und schoss und schoss, und der Rest sind Zahlen. „187 Tote“, setzte sich Elis bester Freund kurz an den Tisch, um seine Unlust kundzutun, die Sache morgen im Unterricht besprechen zu müssen. „Wir gehen ins Waffenmuseum“, entschied Eli.

Die unvermeidliche Aufarbeitung der Nachrichten des Abends verdüsterte einen schönen Morgen, der mit Tauwetter lockte. Anique schaute noch bei dem Beschützerfreund von Aris Maus vorbei, er war hat der Teemeister. „Keine Nachricht wert“, kommentierte er das Grauen, „es war ja vorauszusehen. Schaut euch einfach die Serie Endangered Species an, da wird das alles vorweggenommen. Die Nachricht des Tages für mich ist, dass dieser März mit durchschnittlich -2,4° der kälteste der dokumentierten Klimageschichte ist“. Die 12-ten Klassen verschwendeten nicht viel Zeit mit der Besprechung des Unaussprechlichen. Es wurde über das Jahrbuch und den Abschlussball gesprochen. Bei Jüngeren ging die Post ab. „Incel“, nannte er sich im Abschiedsbrief, begann es mit einem Stichwort in Lieths 11-ter Klasse. Es wurde immer heiterer, kam zu politischen Lösungsvorschlägen: „Jeder hat das Recht auf Miezen“. „Und konkret?“ „Wer vor dem Schulabschluss nicht mindestens eine 8 entjungfert hat, der bekommt einen Entjungferungsgutschein vom Staat“. „Reicht mathematisch nicht“. „Das Leben ist keine Mathematik, im Leben geht es um das Streben nach Glück!“ „Haha, um das rücksichstlose, selbstzerstörerische mörderische Streben nach Glück!“ „Und was ist Glück?“ Der junge Aphoristiker und Liedermacher, der neben Lieth saß, bat sie nonverbal, in andächtigem Ernst mit ihrer unschuldigst zarten Stimme seine eben verfasste Antwort vorzulesen. Gespannt auf die Wortmeldung des ultraschüchternen Mädchens, hörte die Klasse in ehrfürchtiger Stille zu. „Glück ist Zeit mal Zärtlichkeit“, versetzte die Maus ihre Klasse in eine Orgie des Kicherns.

Montag, 21. September 2020

Miezen II

 

 

5. Sophie


Ein Dienstag, wie er hätte gewöhnlicher nicht sein können, dazu Anfang Februar. Nicht dass Sophie in Primitivsprache gesprochen keine 10 wäre, aber sie wollte halt optimal aussehen, und verbrachte eine ganze Stunde im Bad. Meistens zahlte sich so eine Investition aufmerksamkeitstechnisch bis zur fünften Stunde aus. Schon vor dem ersten Klingeln kam ein verschüchterter Blick von einem ihren Weg kreuzenden Zwölftklässler, dann ein weiterer respektvoll ihre Schönheit anerkennender Guck von einem jungen Lehrer, und noch ein Guck von der Chemielehrerin, und ein Kuckuckguck vom sich neben Sophie setzen wollenden Jungen, der sich dann doch nicht getraut hatte.

Es gab eine viral gegangene Befürchtung, Sophie würde zur ersten Stunde nicht erscheinen, sondern bequemgemütlich verschlafen. Nun aber stimmte die Chemie. Fast alle bis alle betrachteten nicht die Tafel, sondern halt eben Sophie. Sie saß aber gar nicht mal so weit vorn, sodass zumindest die Hälfte der Klasse niht mitbekam, wie die drahtige Chemielehrerin Mitte 30 ebenfalls die junge Mieze anschmachtete. Es wurde geflüstert und gekichert, ein bisschen auch unterrichtet, doch Sophie verfing sich in einer Unterhaltung mit zwei hübschen aber nicht so hübschen Mädchen wie sie selbst, immerhin jünger und schöner als die Lehrerin, welche frug: „So, und wo kommt das Eisen her? Sophie?“ Sophie drehte sich um und schoss: „Aus sehr schweren Sternen. Und für seine Entstehung braucht es nicht so lange wie ich im Bad“.

In der ersten großen Pause betrachtete Sophie sich bauchfrei im Spiegel und wunderte sich, wie manche Leute breit werden konnten. Sie haben wohl breitere Knochen, räsonnierte Julia, „und bei dir ist alles so dünn. Wäre Ari nicht, würde ich dich zerbrechlich nennen“. „Du findest mich nicht zerbrechlich!?“ Julia wollte sehr schnell was Nettes sagen und sagte: „Du bist extremistischstens zerbrechlich, ein Denkmal für Zartheit und Schwäche“. Sophie lächelte, während die zierliche Zwölftklässlerin, in die Juliette verknallt war, vorbeischneite. „Sie ist schonmal drei Zentimeter kleiner“, kritisierte Sophie sich selbst, „und ist bestimmt auch leichter und schwächer als ich“. Ja, und im April wird sie 19, Anique heißt sie übrigens. Langhaariger als Sophie und noch heller blond.

Sophie dachte über die Vergänglichkeit nach. „Immerhin habe ich noch zweeinhalb Jahre, bis ich 18 bin“, sagte sie zu Julia. „Und du wirst bestimmt unter 1,60 bleiben“. „Danke“, begrüßte Sophie die Ermutigung, weiterzuleben. Sie war auch gar nicht neidisch auf Anique, aber diese Maus von einer Supermieze zeigte ihr halt, dass es immer noch ein Zartchen schöner geht. Endlich traf sie Ariadne, mit der sie Biologieunterricht hatte. „Ich frage mich, ob die Jungen auf ihre Intelligenz oder ihre Begabungen oder was auch immer genau so stolz sind wie wir auf unsere Schönheit. Ob sie sich auch so selbst genießen?“ fragte sie nicht sich, sondern Ariadne. „Bestimmt“, kicherte diese. „Und was macht man, wenn man so viel intelligenter als andere ist wie ich schöner als die meisten anderen?“ Jetzt gab es von Sophie einen anerkennenden Guck: sie sah direkt in die Augen der zierlichen Mieze, wie ein Kind, das einen Erwachsenen mit großem Ernst nach etwas fragt. Ariadne dachte laut nach: „Ich nutze meine Intelligenz, um mich in die, die ich mag, einzufühlen; ich finde, körperlich zu kuscheln, reicht nicht. Ich will Seelen verzärteln... die zärtlichkeitswürdigen natürlich“.

Sophie nahm die begierigen, anerkennenden und neidischen Anguckungsblicke schon nicht mehr wahr. Es war die sechste und letzte Stunde, Physik. Während Ariadne vor der Tafel stand und erklärte, wann die letzten Schwarzen Löcher zerstrahlen werden, wurde Sophie andächtig still. Diese beerige, zart elektrisierende Stimme mit soviel Geist war bezaubernd. Bevor der Tag zu Ende ging, spürte Sophie im Bauch ein immer kitzelnderes Kätzchenkrätzeln. „Ari“, flüsterte sie sinnlich, ließ sich ins weiche Bett fallen und umarmte innig das Kissen.
   

6. Schneeregen


Das Draußen dräußerte derart dräußernd, dass es selbst im bequemgemütlichen Klassenzimmer ungemütlich war. Ein creepies Wetter. Juliette versuchte, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, doch die Wetter gewordene Ungemütlichkeit klatschte gegen die Fensterscheiben. Anique war vor Schwäche gleich im Bett geblieben. Juliette überlegte sich, in ihr Luxusapartment zurückzukehren, denn die Facharbeit, in der sie die soziale Ungleichheit verteidigt hatte, war schon abgegeben. Bald 19-ter Geburtstag. In Anwesenheit zweier Mitmiezen der 12 rief ihr Vater an, und erkundigte sich, ob Juliette lieber einen Geländewagen oder einen Sportwagen wollte, einen luxuriösen Arenkord oder einen neiderregenden Higerado. „Hattest du schon Fahrstunden?“ fragte einer der Miezen. „Der Wagen ist nicht für mich und nicht zum Geburtstag“. „Sondern?“ „Für meinen Mann zum Hochzeitstag“. „Und bis es soweit ist, soll das Auto in der Garage verrotten?“ „Hältst du mich für so degeneriert, dass ich erst mit 25 heirate?“ Neid, purer Neid sprach aus der Zicke, und Ungemütlichkeitssensibilität aus der vewöhnten Juliette. Außerdem war die Erkältung noch nicht ganz ausgestanden.

„Das ist also das moralische Dilemma“, beendete die Referendarin den Satz. „So, wen würdet ihr in den Atombunker lassen, und wen würdet ihr opfern?“ „Rein demographisch betrachtet, zählen die Verdienste der Menschen gar nichts“, gähnte Eli, „es geht ja um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit. Ich würde auch gar nicht selbst entscheiden, sondern die KI entscheiden lassen. Die objektiv beste Lösung wird gefunden. Wer nicht zu den von der KI auserwählten 100 gehört, muss sterben“. „Und wenn einer deiner Freunde unter den Pechvögeln wäre?“ fragte die Nochnichtlehrerin. „Einer meiner Freunde? Ach, entscheiden wir jetzt auf einmal nach Zufallsprinzip?“ Alle lachten, Eli setzte nach: „Welcher meiner Freunde würde den nicht zu der Top-Elite der Patrizier-Optimaten gehören?“ Die Arroganz des blonden Engels brchte einen Bengel auf: „Jemand, der unfruchtbar ist!“ schoss auf ihm heraus.

Nach einer Peinlichkeitspause sagte Eli: „Jetzt wird es persönlich. Wenn es sich um jemanden handelt, den ich liebe, und beziehungweise oder den meine Geliebte liebt, hat das Überleben dieser Person höchste Priorität“. „Unerhört!“ schallte es. „Nepotismus!“ „Ich würde ohne eine gewisse Person nicht mehr leben wollen“, senkte Eli die Stimme. „Dann sind schon zwei Plätze für andere frei!“ polterte ein amerikanischer Austauschschüler. „Aber warum sollten die überhaupt überleben?“ philosophierte Eli, „welchen Sinn hätte das? Nein, ich würde meinen Platz nicht einem anderen überlassen, ich würde meine Gruppe von 10, vielleicht 20 Leuten in den Bunker bringen und dem Rest viel Spaß wünschen“. Es rumorte, die Arroganz der Ehrlichkeit war für manche unerträglich. „Es ist nicht einfach ein Gedankenexperiment“, vermittelte Sophie, „stellt euch vor, ihr wärt wirklich in der Situation“. „Klarer Fall“, scherzte einer ihrer Verehrer nicht ganz ohne Ernst, „dich retten, den Rest töten. Du sollst ja nicht nur überleben, du sollst es richtig gut haben“. „Und das Überleben der Menschheit?“ war die Referendarin den Tränen nicht fern. „Wir zeugen zehn Kinder, wir sorgen schon dafür, dass sich der Bunker füllt...“ Die Jungen lachten, die Mädchen kicherten, Sophie guckte verlegen und spielte mit ihrem Haar.

„Arenkord“, sagte Juliette. Am anderen Ende der Leitung lachte ihr Vater. „Und deine zwei Tanten stritten sich neulich, ob du ein Geldmensch bist oder ein Familienmensch“. „Nur weil ich verwöhnt bin, soll ich auf nutzlose Luxusobjekte aus sein? Haben die zu lange in Amerika gelebt?“ „Übrigens wirst du das Haus in Reburt neben dem Schloss erben“. „Aber ich lebe dort auf keinen Fall!“, ängstigte sich die Maus vor dem Geisterschloss. Kaum legte Juliette auf, klingelte das Telefon again. Es war ein schwedisches Model, ein kühles 19-jähriges Miezchen, das für ihre Fotoshootings immer von einer gewissen 16-jährigen Julia gestylt wurde. „Kannst du Julia einen Gefallen tun?“ „Gern“.


7. Ressentiment


Der Weg ins Luxusinternat nach der Schule fiel Julia nicht schwer. Sie dachte nicht einmal daran, warum die Natur so ungerecht war, sie nicht mit gleicher Schönheit wie Juliette oder Sophie auszustatten. Sie genoss den Umgang mit schöneren Miezen, die Gespräche, die Hautkontakte. Sie konnte den Neid nicht wirklich verstehen. Phantasien, wie etwa den Freund der Schönsten zu verführen, entsprangen allein ihrer Weiblichkeit, nicht dem Neid. Und nun war Juliette da und hörte zu: „Er ist seit Wochen verknallt in mich, aber anscheinend paranoid. Er hat wohl sehr schlechte Erfahrungen mit Mädchen gemacht. Er reagiert auf meine Signale mit Verdacht, zieht sich sofort zurück. Ignoriere ich ihn für ein paar Tage, fängt er wieder an, schüchtern aus der Ferne zu flirten. Ich mag ihn schon von der Erscheinung und habe mich ein wenig über ihn erkundigt. Er ist wirklich cool, aber...“ „Nicht schlechte, gar keine Erfahrungen mit Mädchen“, verstand Juliette. „Magst du ihn immer noch?“ „Ja, warum denn nicht!?“ „Ruf ihn einfach spontan an, brich das Eis“. Julia schwieg verlegen, sie hatte tatsächlich seine Nummer ausspioniert.

In einem nach Schweiß stinkenden Raum klingelte ein Telefon. Keiner ging ran. Der Orator fuhr fort: „Du bist den Weibern scheißegal! Weißt du, was du für sie bist? Ein Geldautomat, nichts weiter! Als mein Vater starb, was meint ihr, wie lange meine Mutter gebraucht hat, um über seinen Tod hinwegzukommen? Einen Monat? Wer sagt eine Woche? Wer sagt einen Tag? Ja, die Mehrheit, das freut mich, aber wartet, es kommt noch dicker. Als er nämlich noch im Sterben lag, schon da hatte sie einen anderen gefunden. Sie fickte mit ihm, während er noch arbeiten ging, während er noch den Nachlass regelte, damit ihr bloß nicht irgendeine seiner Ressourcen entging. Nur Ressourcen, mehr wollen die Weiber nicht von uns. Sie wollen uns nur verarschen, nichts weiter! Darum sage ich euch: ab heute existieren für mich keine Frauen mehr. Sie sind für mich Luft“. Das Telefon klingelte wieder. Diesmal ging der Angerufene ran und verließ den Raum.

In einem Billardcafé kam Julia exakt zur vereinbarten Zeit zum Date. Der Elftklässler zitterte innerlich, doch ließ sich nichts anmerken. Weiter hinten überstrahlte Juliette alles, was im Café sonst noch schön war. Das Date währte eine zweistellige Sekundenzahl und endete mit der Verabredung am Montag in der Schulbibliothek. Nun war aber Freitagabend. Etwas enttäuscht ging Julia nach Hause, während der Junge sein erstes Bier bestellte. „Noch nie Alkhohol getrunken?“ setzte sich Juliette zu ihm. Er erstarrte vor Schönsheitsehrfurcht. „Lass es lieber und komm mit“. Sie nahm seine Hand und führte ihn in einen musikstillen Raum. Sie ließ ihm Zeit, sich vom Schock zu erholen und stellte ihm dann Fragen in der Art wie sie in ihrer Facharbeit vorkamen. „Ich habe kein Problem mit Ungleichheit“, stellt er fest, „ich will nicht das Gleiche haben wie jemand, der mehr hat, ich will nur respektiert werden. Ich will eine Chance, mehr nicht. Dass ein Mädchen wie du für mich unerreichbar ist, ist in Ordnung, solange du in mir einen Menschen siehst. Erst wenn abscheulicher Dreck mir vorgezogen wird, sehe ich rot, und das ist weder bei dir noch bei Julia der Fall. Nein, ignoriert mich sogar, aber bleibt rein, zerstört euch nicht. Deine Verteidigung der Ungleichheit finde ich noch zu mild, die Gesellschaft soll brutal hierarchisch sein. Solange Gold oben und Dreck unten ist, bin ich mit dem dritten Stockwerk zufrieden und habe nicht vor, den 100-sten zu stürmen. Für eine solche Gesellschaft würde ich als Fußsoldat sterben, ohne eine Minute nachzudenken“. Juliette verstand, aus was für einer Gesellschaft dieser Immigrant gekommen war, und sie verstand nicht, wie diese Gesellschaften sich einen Planeten teilen konnten. 


8. MGTOW


Das Immigrantentreffen fand auch am Samstag statt, zwanzig junge Männer redeten schlecht über Frauen und tranken Bier. „Frauen wollen Arschlöcher“ lehrte der Guru, „weil Arschlöcher skrupellos sind. Frauen haben kein Gewissen. Wenn du ein guter Mensch bist, fühlen sich Frauen negativ gespiegelt“. Ein 17-jähriger Junge unterbrach ihn: „Nicht alle sind so“. „NAWALT!“ rief der Guru und alle lachten. „Hör, Junge, alle, und ich meine alle, alle Frauen wollen nur dein Geld und sonst nichts. Du bist kein Mensch für sie, du bist nicht einmal eine Sache. Eine Sache ist immerhin etwas wert. Women are human beings, men are human doings! Men are disposable utilities!“ „Es sind nicht die Frauen, es ist unser Land“, widersprach ihm der Elftklässler. Der Guru zog ihn aufs Podium. „Sprich weiter“, blickte er den Jungen erwartungsvoll an. „Unser Land hat die Frauen verdorben. Wir haben eine abscheuliche Kultur. Wie lange seid ihr denn schon hier? Keiner länger als ein Jahr, oder? Und wenn doch, dann schottet ihr euch ab. Die Menschen hier sind anders“. „Faschisten!“ erklang eine Stimme. „Kann man so sehen. Aber ist es nicht das, was wir sehen wollen, weil wir aus einem minderwertigen Land kommen?“ „Hör auf, wir sind bei allem auf Augenhöhe mit denen“, beschwichtigte ihn der Guru, „sie sind halt eben konservativ und wir liberal“. „Ja, hier schmeißt man eben die Bitch von der Schule, wenn sie ihre Unschuld verliert. Hier heiraten die Weiber früher. Hier rauchen und saufen die Frauen nicht, aber sonst...“ räsonnierte ein älterer Mann. Nach einer Pattpause übernahm der gewohnte Orator das Wort, der dreißigjährige Frauenhass-Guru. Und es ging wieder los.

Mit Hingabe und Zärtlichkeit stylte Julia Juliette. Dann shooteten Unimiezen sie photo, schließlich war Schluss. Julia und Juliette kuschelten in einer Kuschelecke über dem Schulpool. „Ich habe nie geahnt, wie sehr sich ihre Kultur von unserer unterscheidet“, gruselte sich das Model, „der Junge ist schwer traumatisiert schon durch seine Herkunft“. Julia weinte fast. Sie mochte ihn wirklich. „Warum nuken wir sie nicht einfach?“ brach aus ihr heraus. Sie schwiegen, dann dachte Juliette laut nach: „Wie wären wir geworden in einer Gesellschaft entfesselten Abschaums?“ Ihr größter Verehrer nahm nach nonverbaler Erlaubnisanfrage Platz: „Du hast Abschaum gesagt?“ „Hast du eine Ahnung, was auf der anderen Seite des Ozeans los ist?“ „Leider ja“, sagte der Hochspringer, Bildhauer und Photograph.

„MGTOW...was ist MGTOW?“ fragte Julia. „Schau dir dieses Video an“, empfahl der edle junge Mann aus Reburt. Zwanzig Minuten später kommentierte Julia mit einem entsetzten Kopfschütteln. „Das Traurige ist, dass dieser scheinbar misogyne Bastrad recht hat: dort drüben sind die Frauen so“. „Aber... wir sind doch eine Menschheit. Wie kann das sein?“ „Eine anthropologisch interessante Frage. Kiite Aurele, kennst du wahrscheinlich nicht, schrieb noch im letzten Jahrhundert, dass die Frauen dort drüben keine Seelen haben. Die Iciisten neigen dazu, den Grund für alles gleich im Transzendenten zu verorten“. „Und was denkst du?“ „Nicht so einfach. Unsere Vorfahren sind vor Jahrhunderten dorthin emigiert. Natürlich, die meisten Verbrecher, Räuber, Mörder, Piraten. Aber eine andere Menschenart, nein, das ist, wissenschaftlich gesehen...“ Julia erinnerte sich an ein Buch, das ihr Großvater auf dem Tisch liegen hatte. Dort war von 16 sogenannten Piedestallen die Rede. „Wir sind 5-ter Piedestall wie die Kerier und Venger“, entsann sich Julia, „4 Menschenarten stehen über uns, aber irgendwo weiter unten ist eine Grenze...“ „Beseelungsgrenze“, wusste der Künstler, „und die ab dem 10-ten sind NPCs“. „NPCs?“ „Non-player characters. Seelenlose halt“. Julias Seele fror. Sie ging mit dem jungen Mann ins Atelier und trank einen Tee. Auf einmal lachte er los und konnte nicht mehr aufhören. Als er sich schließlich dazu durchrang, sagte er: „Weißt du, wie der Autor die Ränge über dem 5-ten nannte? Elfen, Feen...“ und diesmal lachte er weiter, ohne den Satz beenden zu können, denn Julia musste gehen.

 

Sonntag, 20. September 2020

Miezen

 

 

1. Neid


Eine blonde langhaarige Achtjährige, so zierlich wie eine Maus in diesem Alter überhaupt sein kann, blickte auf die herrschaftlichen Fische mit großen Augen. Sie warf Ariadne einen Blick zu und lächelte. „Warum ist sie glücklich?“ fragte bohrend die blonde, schlanke aber schon vollentwickelte 15-jährige Kithie ihre gleichaltrige Freundin. „Was meinst du?“ schmunzelte Ariadne doppeldeutig. „Wie ich die Frage meine, oder was ich selber denke?“ flüsterte eine blonde unsichere Stimme. Die jungen Miezen setzten sich auf hohe Stühle vor dem Rochenarium. Die sehr zierliche brünette Ari bestellte einen Kaffee schwarz wie die Nacht, Kithie einen Milchshake. „Ich war auch glücklich, als ich so alt war wie sie“, fing Kithie wieder an. „Worin besteht denn das Glück?“ „Ari, als ob das nicht klar wäre!“ war die Blondine der Verzweiflung am nächsten.

Das kleine Mädchen ging Hand in Hand mit einem ungefähr gleichaltrigen Jungen zu den kleinen Aquarien, dann verschwanden Kindin und Kind aus dem Blickfeld der Miezen. „Warum mag ich keinen, der nett ist?“ stellte Kithie ihre blonde Frage keineswegs rhetorisch. „War es früher noch anders?“ lächelte Ariadne wohlwollend. „Als ich 9 war, hat sich ein Junge in mich verknallt, er war so süß zu mir, und das machte mich glücklich. Jetzt habe ich das Gefühl, keiner ist mehr in mich so verknallt wie früher“. „Oder du fühlst dich davon abgeschreckt, wenn jemand rein und ehrlich für dich etwas empfindet“. „Ja... aber warum ist das so? Warum kann ich diese Liebe nicht mehr fühlen?“ Ariadne schwieg. Sie sah sich um, da waren irgendwo drei lachende Miezen, wahrscheinlich aus dekadenterem Ausland. „Warum sind die glücklich!?“ Jetzt musste Ariadne lachen.

Die Mädchen saßen nun auf dem Sofa in der großen Stadtbibliothek und blickten auf die belebte Einkaufsstraße. Es war Ende Januar und sehr kalt, draußen fror man, drinnen war gemütlich. „Ari, der ist doch zu jung für dich und viel zu nett!“ beschrieb Kithie den Freund ihrer Freundin. „Und wo ist er jetzt überhaupt?“ „Er lernt“, schmunzelte Ariadne, aber nicht darüber. „Warum mag ich keinen, der nett ist!?“ „Weil du dabei nichts fühlst. Beziehungsweise nicht das fühlst, was du fühlen möchtest“. Kithie schwieg, weil sie nichts verstand. Doch sie verstand etwas. Also schwieg sie noch angestrengter. „Deine beste Freundin, oder wie auch immer du sie nennst, diese... dieses Kind, das 15 ist wie wir aber wie 11 aussieht. Ihr Freund ist doch viel älter“. „Ja, 21“. „Und er ist so... beschützerisch. Was hat sie davon? Er beschützt sie NUR, weißt du was ich meine? Aber vor wem denn?“ Ariadne kicherte. „Ich meine, wir sind doch alle wohlbehütet, verwöhnt, wir brauchen doch keinen Beschützer?“ „Liebt man denn, was man braucht?“ tötete Ariadne mit einem philosophischen Satz das Mädchengespräch.

Auf dem Heimweg dachte Kithie ausnahmsweise mal nach. Ein Beschützer kann einer Maus nur das geben, was sie schon hat, und einer Maus reicht es, sie ist schwach, zart, hilflos und ängstlich. Aber eine Mieze braucht was anderes, dachte sie. Kithie kam darauf, dass sie sich selbst spüren wollte: ihre Selbstwirksamkeit durch das Begehrtwerden. Liebliche Blicke sagten ihr nichts. Aber sobald jemand was von ihr wollte, war sie erschrocken und ging auf Distanz. Am schlechtesten traf es die, die nett zu ihr waren, WEIL sie was von ihr wollten. Doch da war dieser arrogante Typ, der wollte gar nichts, der war viel älter, wahrscheinlich schon auf der Uni, und dem sie mit Julia und Sophie auf dem Schulhof von Aris Eliteschule begegnet war. Der hatte sich ungeniert über ihre Naivität lustig gemacht, machte keinen Hehl daraus, dass er sie für dumm und einfältig hielt, und sie damit an. So jemanden wollte sie als Freund, das kitzelte. Doch die Kälte des späten Januars sollte Kithies Gehirn aus dem Schädel blasen.

„Was??? Das ist der Beschützerfreund deiner besten Freundin!?“ war Kithie erstaunt, als Sophie und Julia sie über die Identität des arroganten Traumschurken aufklärten. Ariadne nickte. „Den hatte ich mir anders vorgestellt“, murmelte Kithie. Sie blickte neidisch zu Sophie, die den Typen anscheinend besser kannte. „Wie ist er denn zu dir so?“ „Normal“ schulterzuckte Sophie schulterzuckend. Julia musste lachen. „Gar nicht mal scharf auf dich?“ starrte Kithie neidisch auf die topmodelhafte Sophie. „Er ist auf gar keine Mieze scharf. Er ist halt ein Beschützertyp, er verknallt sich ausschließlich über den Beschützerinstinkt“. „“, pflichtete Ariadne bei. „Aber seine Freundin ist 15... und wohlverwöhnt und hochbehütet ehh andersrum... ihr wisst schon...“ „Jedem das Seine, wird wohl die Lösung sein“, philosophierte Julia. „Du bist 16 und weise, aber ich noch 15. Erklär es mir wie einem Kind, was ich eigentlich will!“ zickte die Blondine. „Aufmerksamkeit vielleicht“ lächelte Sophie zärtlich. Aufmerksamkeit hatte sie ja genug, von beiden Geschlechtern. Da kam der Freund von Ariadne: ein Bild von einem 15-jährigen Jungen, dazu noch schulterlanges blondes Haar und ein souverän verknallter Blick. „Ihr seid noch Kinder“ flüsterte Kithie dem sich entfernenden Paar hinterher. „Und du?“ fragte Julia so fragend, dass es nicht mehr Frage war, sondern Fragestellung. Sophie gähnte und drehte sich halb um, als Kithie sich nach dem Wohin erkundigte. „Die beste Freundin von Ari beschützen“, lächelte Sophie. „Aber warum? Sie ist doch die beschützteste und...“ Julia verabschiedete sich mit einem Satz, in dem die Wendung „...falls du etwas brauchst“ vorkam. Aber Kithie wollte nicht mehr brauchen. Sie wollte wollen.       


2. Eli


Ein abgekürzter hochnordischer Name zierte den hundertmäusigen Kugelschreiber in Goldschrift. Die Mädchen guckten auf sein schulterlanges Haar, als er seinen Aktenkoffer auspackte, und konnten nicht genug von ihm sehen. „Sophie, die Begehrtesten sitzen hier“, ließ er die supermodelartige Klassenkameradin neben sich sitzen. Ein herrlich arroganter Jüngling, dieser miezenherzenhochschlagenlassende Eli. Es entbrannte eine geschlechterübergreifende Diskussion darüber, wer der Coolman Champ sei. „Das ist der Typ, der immer den Kopf hinhält und sich am Ende opfert, ohne jede Emotion“, meinte einer. „Nein, das ist der, der alle killt, die ihn gewrongt haben“, meinte ein anderer. Sophie fragte in den Raum, was wohl Ari darüber sagen würde, dass einer sein Leben lang emotionslos seine Pflicht tut, nie lächelt, nie zürnt, nur für seinen Job als Cop lebt. „Sie kennt bestimmt den philosphischen Begriff dafür“ zickte eine Mieze und die Stunde begann.

Sophie und Eli wirkten, wenn sie nebeneinander saßen, wie zwei alte Freunde, wie zwei Jungen, die seit dem Kindergarten zusammen Fussball spielten. Und kein Mädchen war so elegant weiblich-miezenhaft wie die etwas dunkler blonde Sophie. Aber sonst müsste ja Eli wie ein Mädchen wirkten, da sie sich in ihrem Verhalten automatisch einander anglichen; nun war es eben Sophie, die Eli vollkommen spiegelte. Sie war stolz, intelligent genug zu sein, um seinen Wortmeldungen zu folgen, und vervollständigte sie immer wieder so, dass Eli sich zurücklehnte und zufrieden lächtelte. Besonders Gesellschaftskunde machte beiden Spaß, wo sie sich gegenseitig große konservative Bälle zuwarfen. Und da ging auch die Zeit schnell rum. „Weltkulturerbe?“ fragte Eli. Sophie nickte und ging zum täglichen fünfzehnminütigen Photoshooting. Es gab seit einiger Zeit diese Abschlussklassenmiezen, die dafür sorgen, dass mädchenische Schönheit für die Nachfolgegenerationen nicht verlorenging. Es könnte ja ein Atomkrieg ausbrechen.

Der Abend war dem Ende nah, Eli erledigte seine Lern- und Sportroutine und erwartete mit großer Ungeduld den einzigen Menschen, in dessen Gegenwart er sich unsicher fühlte. Und da kam schon sie, diese Eine, die; sie legte ihre zarten Mädchenhändchen in seine edlen Hände und blickte ihm tief in die Augen: „Miaust du etwa in Gedanken? Vergiss nicht, ich kann deine Gedanken lesen“. Sein Herz schlug schnell, er sagte nichts, und ging erstmal in die Designerküche, um etwas zu trinken. Ariadne packte ihre Schulsachen aus, und beim Besprechen des Unterrichtsstoffs war Eli wieder der arrogant Entspannte. Dann aber klopfte das Herz wieder. „Was ist denn, ich bin doch hier?“ „Warum habe ich so eine Angst, dich zu verlieren? Warum bin ich so eifersüchtig, ohne zu wissen, auf wen?“ Ariadne sah ihn verlegen an und er fragte: „Warum bist du so unerreichbar?“ Sie nahm seine Hand und stellte mit großer Zärtlichkeit fest, dass sie doch seine Freundin war. Doch sie verstand, was er meinte.

Kuschelnd saßen sie auf der Couch und hörten sphärische Musik. „Ich will mich nicht so unsicher fühlen, aber es ist das beste Gefühl, was es gibt“, sagte Eli. „Doch es macht mich auch paranoid. Als ob da noch jemand wäre“. „Es gibt keinen“, zärtelte Ariadne in sein Herz. Dieses atmete auf, doch schlug nach kurzer Zeit wieder schneller. „Wie kann jemand so perfekt sein?“ Ariadne kicherte. Eli erstarrte in glücklicher Verzweiflung: „Genau so wie du bist, ich mag dich so sehr, wie kannst du so genau so sein, wie in meinen schönsten Träumen von einem Mädchen...“ Ariadne fing an, ihn zu kitzeln, Eli wurde immer verlegener und verbarrikadierte sein Gesicht mit einem Kissen. Ariadne nahm ihm das Kissen ab und beugte sich über ihm, seine Augenlider anpustend. Er ließ ihre engelhaft-unschuldigen Zärtlichkeiten zu und versuchte nur, die Zeit anzuhalten, welche jedoch verging. Nicht nebeneinander, doch nicht weit voneinander in händchenhaltifiziell optimaler Entfernung schliefen sie ein. „Keine Angst, mir sind Jungen gar nicht so wichtig“, wollte Ariadne seine Eifersucht vertreiben. „Aber ich dann auch nicht“, stellte Eli trocken fest, „...aber ich weiß, was du meinst. Genau so wie du bist, idealer hättest du nicht sein können. Genau so habe ich mir die Liebe meines Lebens vorgestellt“.    


3. Fliegende Kühe


Heiße Sommernacht, auf dem Boden der Veranda schläft eine Dorffamilie. Die Nacht ist hell, obwohl es schon spät ist. Und da kommen sie, fliegen über die Heizzentrale hinweg, da sind sie über der Kreuzung, und die schnell zugemachte Tür soll sie vom Eintritt ins Haus fernhalten. Die Tür bleibt halbgeöffnet, denn da drängt sich schon der Kopf einer gelandeten fliegenden Kuh. Die andere Kuh steckt ihre neugierige Visage ins kleine Fenster. Der Cast wird genannt, und noch bevor ihre Maus von einer besten Freundin zusammenzuckt, nimmt Ariadne sie fest in den Arm. Die dreiköpfige Fraktion der Miezen aus der 10 sitzt auf dem grandiosen Cineastensofa umschlossen von zwei Abschlussklassenmiezen und der aus dem Alter herausgefallenen 17-jährigen Lieth. „Ich habe ständig solche Träume“ flirtet sie mit den Beschützerinstinken von Juliette, der extrovertierten Hellblonden aus der 12. Die Mädchen kuscheln sich in die Nacht und erzählen ihre Alpträume. Mal hört der Beschützer von Ariadnes Schützlingsmaus zu, mal geht er in sein Büro und handelt online ein paar Aktien.

Von jugendlicher Rivalität giftgeschwängerte Atmosphäre. In einem mentalen Schutzanzug sitzt Ariadne neben Sophie, die sich etwas unwohl fühlt, weil überstrahlt. Dabei ist Ariadne so unscheinbar introvertiert. Und doch fühlt sich Sophie überstrahlt. Ariadne setzt sich zu zwei Jungen aus der Abschlussklasse, die sie über laufendes Geflüster aufklären. „Wo seid ihr denn immer?“ „Wer? Achso, die Schönsten“, versteht Ariadne. „Warum geht ihr nicht auf Geburtstage?“ „Die gehen ja schón auf Geburtstage. Nur halt nicht so oft. Und nicht zu jeder Party“. „Läuft heimlich da insgeheim was Geheimes?“ Ariadne kichert. „Was erzählt man denn?“ fragt sie nach einer Peinlichkeitspause. Die Stadtlegende von einer Sexlehrerin wird erzählt: eine scharfe Mieze Ende 20, die aus Lust an jungen Miezen als Lehrerin arbeitet, um die dann nach der Schule bei sich zu Hause, man weiß schon. Die Leute haben eine große aber keine reiche Phantasie, stellt Ariadne fest.

Lieth ist so schüchtern. Wo ist sie? Ariadne findet sie in einem Ausstellungsraum wieder, wo ein Künstler aus der 11 seine Bilder ausgestellt hat. Ein bildhübsches Bild von Sophie ist zu sehen, süß. Stilleben mit Früchten, die nicht existieren, kreativ. Und das hier, sollen das Körbe sein? Tatsächlich, Körbe. Viele Körbe verschiedener Machart und Größe. Und auf jedem die Unterschift von Sophie. „Wo ist deiner?“ fragt ein Elftklässler einen anderen, der verstummt und geht. Ariadne und Lieth gehen, Sophie bleibt noch und verteilt weitere Körbe. Sie wollte sich noch mit Julia unterhalten. Wenn es ein klassisches Nice Girl gibt, dann ist es Julia; wohlbehütet, aber nicht verwöhnt, 16. Ein krasser Außenseiter in ihrer Schule ist in sie verknallt, und sie mag ihn. Aber sie weiß nicht, wie sie ihm klarmachen soll, dass er keine Lächerlichmachung zu fürchten hat „Mäuschen“, flüstert sich ins Ohr der 17-jährigen Lieth. Ariadne bringt sie zu den zwei Miezen aus der 12 und geht in der dunklen Januarnacht aufs Dach ihrer Eliteschule. Es ist unbescheiden kalt.  


4. Unruhige Nacht


Wieder schlief Ariadne bei Eli, wieder trug der herzenszarte Jüngling schwer am Vergehen der Zeit, und abermals flirtete er mit ihr, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt, obwohl sie so fest zusammen waren wie der Punisher und sein Hass auf das Verbrechen. Kithie schlief bei Julia, sie unterhielten sich über Jungs, schliefen dann ein, bis ein Geräusch die scheinbar prüde Julia weckte. „Berührst du dich?“ fragte sie empört. Kithe verneinte, aber ihr Atem war immer noch flach, und noch einmal stöhnte sie. „Doch, du berührst dich, Kithie“, rügte Julia mit süßer Stimme. „Ich will Sex“, gab Kithie zu. „Mit wem denn?“ „Ach, ist kompliziert“.

Die 18-jährigen Abschlussklassenmiezen waren auch zusammen und küssten sich. Lieth las bis 3 Uhr nachts ein Buch, neben ihr schlief mit mit astronomischen Motiven bebilderter Schlafmaske Ariadnes beste Freundin. Eli träumte von einer hohen Treppe, die er schnell hinaufging, oben sah er einen Grundschüler-Schulranzen, der Ari gehörte. Er suchte auf einem geräumigen Dachgelände nach ihr, das Gelände verwandelte sich in einen Basar, teilweise war es auch ein Zoo, eine Eisdiele und eine Universitätsbibliothek. „Was suchst du hier, kleiner Junge?“ fragte freundlich eine elegante dürre Gestalt, etwa Zweimeterzwanzig hoch. Eli wachte nunmehr in einem futuristischen Raum auf und blickte aus dem Fenster: ein Stadtpanorama wie schönste Zukunftsmusik, der Downtownboden war vom Skyscraperfenster gar nicht zu sehen. Nur Wolken schauten kurz vorbei. Elegante dürre Gestalten unterhielten sich. Ihre Stimmen beschämten ihn. Eine männliche Stimme sagte: „Klein, breit, schwer, IQ nur 143“. Ohne dass ihm dies auf irgendeine Weise vermittelt wurde, wusste Ari, dass der Durchschnitts-IQ auf diesem Planeten bei 180 lag. Alle waren extrem schlank und hoch, feingliedrig, kindergesichtig, unsagbar schöner als er, der Schönling. Er wachte auf und Aris Hand lag nicht mehr in seiner.

„Kithie, du berührst dich wieder“, bemängelte Julia, doch diesmal kokett. Der Gedanke, dass Kithie, die neben ihr lag, sich berührte, erregte sie. „Woran denkst du denn?“ fragte Julia nach einer Peinlichkeitspause. „Ähhh... hmmm... hihi... hmmm... ich wäre gern eine erwachsene Frau und würde Sophie vernaschen“. „Wie vernaschen?“ „Vernaschen... lange naschen...“ „Wie vergewaltigen?“ „Ja, schón, aber nicht mit Gewalt. Sie festhalten und ihre Zartheit fühlen. Und du? Hast du auch Phantasien?“ „Eli verführen“. „Was? Den Freund von Ari?“ „Ja“. „Und wie verführen?“ „Einfach verführen“. „Einfach Sex mit ihm haben?“ „Ja“. „Und was ist daran Phantasie?“ „Na das ist meine Phantasie“. „Ist irgendwie... nicht pervers“. Julia schwieg, dann sagte sie entschieden: „Doch. Dass der Freund von Ari, der begehrteste Junge, sie mit mir betrügt“.

Ariadne wachte auf und sah zu Eli. Er hatte sich nach einem Glas Wasser wieder hingelegt und zitterte. Ariadne kuschelte sich an ihn und er fragte nach der Zeit. „Ach, schon halb Sieben“, seufzte Ariadne. Sie kuschelten, still, lange, kindlich; sie kuschelten und kuschelten. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein, der Wecker beeilte sich jedenfalls nicht besonders. Und die Zeit verging nicht. Eli griff nach seiner Armbanduhr und es war 10 vor 5. „Ari, es ist noch nichtmal 5! Vor ein paar Stunden sagtest du, es sei halb Sieben!“ „Ich wollte die Zeit für dich anhalten“, flüsterte Ariadne.

Samstag, 12. September 2020

Antibechdel

 

 

"Du!" herrschte der maskulin-dominant aussehende Greg den etwas schwuchteligen Ignacio an, "Pass auf, dass sich nie zugleich zwei Frauen in diesem Raum befinden!" Ignacio nickte unterwürfig und verwehrte der dicken Drei Mitte 30 den Zutritt. "So, was haben wir da?" "Ich heiße..." begann die kleine zierliche Zehn, doch wurde von Greg sofort unterbrochen. "Nicht tätowiert, gepierct, entjungfert?" Sie wollte etwas sagen, doch Greg stellte klar: "Ich rede nicht mit dir". Er sah den Doktor an, und dieser nickte väterlich. Ein leidenschaftlicher Fischer, dieser Allgemeinmediziner in seinen goldenen Siebzigern. Mild vom Charakter, doch in den Details sehr genau. "Perfekte kleine Brüste, makellose helle Haut, und Genitalien, vor denen man sich nicht ekeln muss". Greg zündete eine Zigarre an und schaute in den großen Glaskasten mit den vielen Kuschelkissen und anderem Frauenzeug. "Was sagst du?" fragte er seinen Türsteher. "Sie passt gut zu den anderen", beantwortete der muskulöse etwas mafiös aussehende langhaarige Mann die Frage, ein korrekter, herzlicher Mann. 

"So", befahl Greg, "schmeißt die Dicke raus!" Alle im Raum versammelten Männer lachten, während der Doktor vervollständigte: "Auch für niedere Frauenarbeiten wollen wir mindestens eine Fünf haben. Und keine Frau über 30 darf jemals diesen Raum betreten". Greg setzte sich in seinen hohen Chefsessel und machte eine Flasche Single Malt auf. Natürlich war es der 25-jährige Lagavulin. Als alle anderen Männer gingen, setzte sich der Doktor Greg gegenüber an den Tisch, nahm ein Whiskyglas und sagte: "Sie passt nicht nur gut zu den anderen, sie ist sogar viel besser als sie alle. Ihre Nase ist einfach perfekt, so eine perfekte Nase habe ich noch nie gesehen. Jeder Attraktivitätsforscher wird angesichts ihrer Gesichtsproportionen jubeln". Greg gähnte: "Kann sie Whisky eingießen?" "Durchaus", lachte der Doktor lebhaft, und ging ins Detail: "...perfektes Handmodel, kleine Hände, lange, sehr schlanke Finger, lange Nagelbetten im perfekten Verhältnis von 1,6 zu 1, wohlgewölbte Krällchen". "Das hört sich luxuriös an. Wenn es was zu präsentieren gibt, sollen die Leute ihre Hände sehen". Der Doktor trank seinen Whisky und schaute sich die wunderschöne junge Frau genüsslich an. Auch Greg penetrierte sie mit eindeutigen Blicken. "Die Schüchterhneit in ihren Augen finde ich süß", wurde er weich, wobei dem Doktor beim ins Lachen übergehenden Lächeln das Zynische an diesem Satz nicht entging.

Als Greg mit ihr allein war, schloss er den großen Glaskasten auf: "Das ist ab jetzt deine Arbeit. Wenn du Kätzchen magst, lasse ich dir Kätzchen bringen. Mach einfach hier drin, wozu du Lust hast. Du bist die Schönste, sozusagen, die Prinzessin. Die anderen Mädchen sind für dich da. Wenn du Wünsche hast, sag es mir, ich bin der Mann, für den nichts unmöglich ist". Sie bedankte sich mit ihrer leisen und zarten Stimme und bereitete sich auf ihren ersten Arbeitsabend vor. Drei Stunden später saß sie mit drei Neunen und einer weiteren Zehn im großen Glaskasten auf den vielen Kuschelkissen, die Miezen spielten mit Schmuck und Kuscheltieren, lachten, kitzelten einander und sahen einfach umwerfend aus. Auf der anderen Seite des Glaskastens begann Greg eine Aktionärsversammlung. "Meine Herren, jeder weiß, was ein Aquarium ist. Tony hat ein großartiges Aquarium, da sind sogar Haie drin. Luke hat ein noch größeres Terrarium mit Anacondas. Meine Freunde, das was diesen Raum von drei Seiten umgibt, ist ein Miezenarium". Es wurde nun über Wichtiges geredet, während die Miezen hinterm Glas beim Händchenhalten & Kuscheln mit großem Interesse und voller Bewunderung über die anwesenden Herren sprachen.

Bechdel, Superbechdel, Beyond Bechdel

Bechdel

Zwei Frauen tranken Kaffee und sprachen miteinander. Und sie hatten Namen. Und sie sprachen nicht über einen Mann.

 

 

Superbechdel

Liliane und Jessica betrachteten einander kampfbereit, beide aus einer Position der Stärke. Frauenfeind, wer glaubt, das wäre ein dummer Zickenkrieg. Liliane war 17 und Jessica erst 14, und doch waren beide sehr reflektiert und wussten über sich selbst mehr als der Leser jemals erfahren wird. Sie wussten auch, dass sie sich in einer Geschichte befanden. "Und doch ist die Welt keine Simulation, denn wir haben eine Identität", stellte Liliane fest. "Das macht unseren Kampf umso bedeutungsvoller", schwängerte Jessica die dicke Luft mit Bedeutung. "Ich wurde am 11.2.2001 erfunden, ich bin deutlich älter als du", belächelte Liliane ihre jüngere Rivalin. "Ich aber dominiere die Narrative von 2007 und 2008 und bewohne mehr Mädchiversen als du dir vorstellen kannst!" "Doch kein einziges Lesbiversum führst du als Hauptperson an. Außerdem ist Lea schöner als du und meine Maus". "Doch die schönste der vielen Leen, die Icy-15, gehört nicht in dein Narrativ". Und so stritten sie ernsthaft und entschlossen mit logischen Argumenten, ohne emotional oder hysterisch zu werden. Charakterlich starke Frauen kennt die Welt der Erzählungen durchaus, doch hier waren zwei charakterlich starke Mädchen ernsthaft miteinander am Kämpfen, die nicht in das diskriminierende Klischee von weiblichen Teenagern passten.

 

 

Beyond Bechdel 

Nach der Verteidigung ihrer Masterarbeit, in der die 16-jährige Anika den Satz des zu vermeidenden Widerspruchs widerlegt hatte, wartete sie bis zur Freitagnacht ab und ging erst in der Dunkelheit aus, und zwar allein. Sie dachte über die falsche Absolutheitstheorie von Alberta Zweistein nach, nach der der Wert der Lichtgeschwindigkeit eine absolute Größe war. Dabei wusste Anika schon als Kindin, wie relativ alles ist. Ihre Professorinnen hatten ihr schon mehrmals indirekt angedeutet, dass es vielleicht vorstellbar wäre, dass Anika ihre Doktorarbeit in Astrophysik schreiben könnte, vielleicht aber auch nicht. Die weiß-silbern glänzenden Schuhe mit 7 Periode 3 Zentimeter hohen Absätzen drückten etwas, vielleicht war es aber auch nicht so, nicht im Sinne von eingebildet, sondern in dem Sinne, dass Anika vor dem Date nervös war.

Anika Sophie Elle spielte mit ihrem langen blonden Haar und den Armbändern, während die starke, selbstbewusste und unabhängige Clarice Ellis Lieth sie vom gegenüberliegenden Sitz buchlesend beobachtete, was mitnichten heißt, dass die kluge und sehr gut aussehende Frau Ende 20 das Buch von Rogeria Penrose nicht auch las. Sie hatte ein Dominanz ausstrahlendes Kleid an und ließ mit sich flirten. Anika flirtete zwar nicht, und nun auf einmal doch, sodass das Date, zu dem sie aufgebrochen war, ebennun ein Date mit Clarice war. Und schon gingen sie Händchen in Hand durch das nächliche Berwien, was nicht heißt, dass Clarice nicht auch schlanke und schöne Hände hatte, nur waren sie halt miezenhaft und nicht mädchenhaft schön, wobei Anikas Hände einerseits dezent miezenhafte Mädchenität und andererseits kindliche Miezifizienz ausstrahlten. "Du wärest das Paradebeispiel für ein sogenanntes Weißhändchen", übersetzte Clarice ein Wort aus einer der neun Sprachen, die sie fließend sprach.

Zwanglos und nicht an maschinenhafte Frage-Antwort-Logik gebunden, kam das Gespräch nach eineinhalb Stunden auf das Thema Weißhändchen zurück, als Anika nebenbei bemerkte, dass ihre wunderschönen Krällchen noch nie im verführerischen Rot erstrahlt hatten. "Dann ist heute der Tag", lächelte Clarice, es sagend, und brach mit einem eleganten Trick in ein luxuriöses Nagelstudio ein, das zur Mitternacht geschlossen hatte. "Dunkles Kirschrot würde super passen", wählte Clarice einen Nagellack aus. "Helles Kirschrot", lächelte Anika verspielt. "Mitteldunkles", wies Clarice nonverbal auf die zur Länge der Krällchen passende Farbe hin. "Oder willst du wie 12 aussehen?" versicherte Clarice sich rück. Als der Nagellack aufgetragen war, flüsterte Clarice bedrohlich: "So zarte Hände, so dünne und lange Fingerchen", vielleicht aus Eifersucht oder Nied, vielleicht weil sich darin der Umstand spiegelte, dass man das Alter an den Händen ablesen kann, während manch eine hübsche und schlanke 29-Jährige, gelingend geschminkt, in einer frühseptemberlichen Freitagnacht für eine 19-Jährige durchgehen könnte.

Donnerstag, 10. September 2020

Female Nature

 

 

Ein anständiger Mann ging seinen eigenen Weg und lernte eine Frau kennen. Sie hatten beruflich miteinander zu tun und wurden gute Bekannte. Als die Frau begriff, dass er trotz großer Sympathie keine Anstalten machte, ihr den Hof zu machen, begann sie, ihm wie ein Hündchen nachzulaufen und fragte nach mehreren ignorierten Flirtversuchen, warum er keine Beziehung mit ihr wollte. Er sagte: "Weil du eine Frau bist. Jetzt, wo du mir egal bist, findest du mich interessant, aber sobald ich Gefühle in dich investiere, findest du mich langweilig. Warum sollte ich mich auf jemanden einlassen, der mich mit Sicherheit verletzen wird? Und das, worauf es meistens hinausläuft, Ehe und Kinder, kann ich moralisch nicht verantworten". Doch sie war sehr attraktiv und überzeugte ihn auf emotionaler Ebene, dass eine glückliche Beziehung möglich war. Und sie heirateten tatsächlich. Sie hatten eine Tochter und einen Sohn, und solange die Kinder klein waren, waren sie eine glückliche Familie. Doch sechs Jahre nach der Hochzeit ließ sich die Frau aus einer Laune heraus scheiden und nahm dem Mann die Kinder weg. Obwohl sie die Kinder vernachlässigte, entschieden die Gerichte immer wieder zu Gunsten der Mutter, deren wechselnde Lebenspartner das Mädchen sexuell missbrauchten und den Jungen misshandelten. Jahre später trafen sich Vater und Mutter auf der Beerdigung ihres Sohnes wieder, der sich eine tödliche Dosis Heroin gespritzt hatte. "Warum hast du uns das angetan?" fragte der Mann. Durch Trauer zur Ehrlichkeit bewegt, sagte die Frau: "Ich konnte nicht anders. Ich bin eine Frau".

Mittwoch, 19. August 2020

9.1999

 

 

 Es ist Ende August und das Fahrradfahren fällt melancholischstens schwer, als wäre g nicht 9,81, sondern 20 bis 30. Jeder Kilometer muss der melancholiebedingten Trägheit hart abgerungen werden. Und man kommt ja doch nirgendwohin. Der letzte Umzug liegt schon ein Jahr zurück, die unmittelbare Umgebung reizt nicht mehr. Die Tankstelle Gottes ist leer, die Firmung, das Mutgemache des angehenden Priesters: vergebens. Das Leben unterliegt schwer der Schwerkraft. Der 3.4.1999 bleibt zweiter Sieger, der 6.11.1998 lächelt nur über den neu gefundenen Glauben, über Gott, Kirche, Gemeinschaft. Dieser Gott ist nicht Gott. Ein furchtbarer Götze der Wüste, Jahrhunderte später zu einer Universalgottheit an den unsterblichen Ohren langgezogen. Ein Frankenstein-Monster von einer transzendenten Vaterfigur. Ein gleichgültiger jenseitiger Wichser.

Doch Neuville trifft zum 2:0 per Seitenfallzieher. Geil ist es. Seit Anfang des Jahres bin ich für Leverkusen. Aber selbst im Verein zu spielen, fehlt nicht nur der Bock. Sprachlich so stockender Verkehr, dass der Mund besser zu bleibt. Doch die Gymmi droht mit Sechsmündlich in allen Fächern, und kein helfender Trick in Sicht. Aber was ist mit Beten? Hilft Beten gegen Stottern? Hilft Radio hören gegen Pickel, sich am Ohr kratzen gegen Vesikel, beim Pissen die Augen schließen gegen Ventrikel? Das weißichnickel. Ist auch egikel. Lange Fußmärsche mit Omabesuchsmotiv sind eine halbwegs wirksame Sichbewegensmotivation. Immerhin elf Kilometer, an manchen Tagen hin und zurück. Alte Menschen können so unterhaltsam Karten spielen. Nur mit alten Menschen macht Karten Spielen Spaß. Ich will das mittlere Alter überspringen: eine lange Jugend und dann gleich 60. Nein, das auch nicht wirklich.

Die erste Bleiwolke fällt auf meine 16-jährigen Schultern: das Schuljahr beginnt. 10. Das klingt ernst, doch irgendwas fehlte, fehlt. Wo war die Sorglosigkeit in der 5 und 6, wo die kindliche Romantik in der 7, wo der Firstkiss in der 8, wo diese schicksalsbewegende Klassenfahrt in der 9? Klasse. 10, einfach nur Klasse. Der Wüstenboss hat sich nach Galiläa verpisst, er hört nicht zu. Das Vaterunser könnte genauso ein Onkeleuer oder Opaderen sein. Keinerlei Wirkung. Das Gelese in diesem meistgehypten Buch aller Zeiten ist quälend langweilig und die Wirkungslosigkeit nervt. Als würde man zu der Wand beten. Als würde man sich selbst narzisstisch missbrauchen. Ohne selbst davon nur im Geringsten. Als würde man in ein längst vergedenkstättetes KZ einkehren und sich selbst dort überwachen, nur um „We shall overcome“ überzeugender mitsingen zu können.

Die Messe ist eine Mess. Immer dieselbe Soße nachbeten. Ich denke ans Pissen, wenn ich schon nicht an Sex denke. Das Handgereiche ist widerlich. Auffallend schon von Anfang an ist die Tatsache des Faktums der Nuance, dass keiner der Anwesenden schön ist. Und alle viel zu alt. Ich bin zum falschen Glauben konvertiert, und das auch noch freiwillig. Eine Aktion der verzweifelten Selbstverdummung. Die Hormone vernebeln das Hirn, der lange Weg zum Erfolg wobei auch immer ist keine Option mehr. Die Jugend ohne ebendiese selbst dauert schon viel zu lange. Mein Hirn weigert sich, 25% des eingeatmeten Sauerstoffs zu verbrauchen und  begnügt sich mit 9. Glauben statt denken. Beten statt lernen. Ich bin ein Ebenbild Gottes, und das ist nicht als Autokompliment gemein: ein Ebenbild dieses öden Gottes, dessen spektakulärste Aktion, seit an ihn geglaubt wird, seine Abwesenheit ist. Zweidreitage Schule, und nur noch die Herbstferien sind ein Lichtblick. Prosieben gucken. Und am nächsten Morgen nicht schon um Halbsieben aufstehen müssen.

Wie all die Lieder heißen, keine Ahnung, aber das Radio ist den ganzen Abend an, und manchmal kommt eben „Twist in My Sobriety“ oder „Sleeping Satellite“. Die Nahost-Einserschülerin und die etwas gealterte Mieze, vermutlich eine weiße Britin Mitte bis Ende 20, lassen träumen. Und Träume gehen unvermittelt in die Realität ein, die Schwere verschwindet. Radfahren wie auf Engelsflügeln. Beten mit einem Lächeln, obwohl der Gott sich nicht geändert hat. Die Luft beginnt zu schmecken, der Frühherbst lockt mit ungeahnter Schönheit, Kleinigkeiten beginnen aufzufallen. Werder Bremen, bisher sieglos, gewinnt 5:0 gegen Kaiserslautern. Weil damals in der 7. all diese Idioten Werder-Fans waren, hasse ich Bremen. Und dennoch freue ich mich. Ein Akt der Feindesliebe, aus Neigung, nicht aus Selbstzwang. Als ob etwas nicht stimmen würde. Als ob etwas so stimmen würde, wie es noch nie gestimmt hat.

Am nächsten Tag schreibe ich an einem Abend ein ganzes Heft voll, ein 24-seitiger Kurzroman, es ist ein Anflug von Weißichauchnicht. Alles ist so leicht, ich könnte nach oben fallen. Was ist mit dem Blei passiert, mit dieser Schutzweste, die vor dem Abheben ins gewisse Ungewisse schützte? Warum glaube ich, dass ich auf einmal glaube, anstatt nur zu glauben, ich würde nur wollen, dass ich glaubte, ohne an das Geglaubte zu glauben? Das Radio erzählt zwischen all den herrlichen Liedern über den Auswärtssieg von Werder Bremen gegen ein so genanntes Bodoglimt, angeblich in Norwegen, wieder Fünfnull. Und ich weiß nicht, Bremen ist cool. Der Schulweg war bisher eine selbstauferlegte Tortur, zu Fuß statt mit Blechgaul, drei unausgeschlafene Kilometer hin, drei müde zurück. Nun ist es ein Ausflug im Sinne von Flug. Und ja, diese mädchenische Mädchenischizität dieses Mädchens, die ist wirklich der Grund. Unfassbar, wie sich die Weltwahrnehmung ändern kann, auch wenn die Weltanschauung dieselbe bleibt.

Sonntag, 2. August 2020

Death Spread (multiple nukes)





45 Minuten. Ich bin der Fremde. Ich habe mich von meinen Schulkameraden jeden Tag mit einem neuen Namen anreden lassen, da ich mich mit keinem Namen identifizieren konnte. Ich war 6, der Junge mit den langen Haaren war 4. Er hatte die tiefsten dunklen Augen der Geschichte, so tief, als hätte er mit einem Dunkleosteus geschwommen. Ich konnte ihn den ganzen Tag auf dem Schlitten vor mir her schieben, und die Welt um mich herum vergessen. Es war eben noch sonnig, jetzt ziehen erste Wolken auf. Die dürre kleine Elfe schlägt ihr Schulbuch zu. Nein, früher noch, als ich selbst 4 war, da lag ich beim obligatorischen Mittagsschlaf auf einer Liege und starrte in die Decke, und neben mir lag ein Mädchen, das auch 4 war, und ich griff immer wieder sacht und verstohlen nach ihrer Hand.

28 Minuten. Ein Kleinkind bindet sich am Fuße des Hügels die Schnürsenkel zu - das konnte ich als Kind nie, selbst in der Grundschule noch nicht. Da war aber dieses Mädchen, das mich immer wieder diese Kunst lehrte, und ich schaute hin und doch nicht hin, denn ich sah mir ihre kleinen Mädchenhände an. Ich habe nie ihre Hand gehalten, die Jahre kamen dazwischen. Die Sonne guckt wieder einmal raus, um sich nun in dunkleren Wolken zu verkriechen. Es sieht nicht nach Regen aus, die Elfe mit den langen dunklen Haaren bleibt noch eine Weile.

22 Minuten. Ich war 11 und hatte einen mehr Schüler denn Freund, der Junge war 9. Ich ging mit ihm oft zum Fluss, lehrte ihn das Periodensystem, brachte ihm Sachen bei. Er war ein Wunder: es ging mir nicht in den Kopf, wie aus einfachen Atomen so etwas wie dieser Junge entstehen konnte - er sah so gewollt, so vollendet aus, konnte laufen, springen, sprechen, lernen, etwas gar Neues ausdenken, und war doch nichts als bloße Chemie. Ich sitze auf dem Hügel und genieße den Sommerwind. Am Himmel ist ein Flugzeug zu sehen. Ich hatte es mit 12 tatsächlich geschafft, ein ganzes Schuljahr neben einem Mädchen zu sitzen, in welches ich furchtbar verknallt war, ohne es ihr nur anzudeuten. Unsere Handrücken berührten sich einmal zufällig, irgendwann Ende November, mehr passierte in diesem Jahr nicht.

16 Minuten. Ist das ein Regentropfen? Ein Ball fliegt zu mir, ich stehe auf, und schieße ihn zurück. Als ich 14 war, lief einer aus der Oberstufe Amok, 10 Schüler knallte er ab, ich träumte noch Jahre davon, wie ich allein im Klassenzimmer saß, während die Schüsse immer näher kamen, und ich keine Waffe hatte, und auch kein Versteck. Gleich würde sich die Tür öffnen, - aber wer im Traum stirbt, wacht nur wieder auf, weiter geht es nicht. Die Elfe ist schätzungsweise 11, als Schätzchen hätte ich sie sehr geschätzt, als ich selbst in ihrem Alter war. Mit 15-16 begehrte ich diese unnahbare arrogante snobistische Maus, das einzige nicht nur an sich, sondern auch für sich schöne Mädchen der Schule. Sie war so makellos. Sie war erst 17 und unscheinbar, dann 18 und nicht zu übersehen, was an ihrer Kleidung, ihren Schuhen und ihren Blicken lag. Sie war klein und sehr dünn, immer elegant, niemals aufreizend, long nails, high heels. Sie ging mit einem 13-Jährigen zum Abschlussball, weil er so zart war, und von seinen Klassenkameraden als Mädchen beschimpft wurde. Ich beneidete ihn, diesen zerbrechlichen kleinen Jungen. Er war ihr edel genug, ich war ein grauer Hund, den man nicht sieht, auch wenn er direkt vor einem steht. Mit wem diese Schönheit all die Zeit zusammen war? Mit einer genau so dürren, aber etwas größeren Unimieze, die sie all die Zeit nach bester BDSM-Tradition folterte und quälte, was keinerlei Spuren bei der Maus hinterließ - außer den Spuren einer tiefen Befriedigung in ihrer Seele. Ich bin so tief in Erinnerungen versunken, dass ich nicht merke, dass die kleine Elfe da nicht mehr sitzt.

9 Minuten. Eine Berührung. Sie hat sich neben mich gesetzt. Als ich 17 war, hat sich ein verspieltes Kätzchen aus der 8. Klasse neben mich gesetzt, wir warfen uns seit Wochen komische Blicke zu. Ich konnte nie zum Ausdruck bringen, was ich empfand, erst recht nicht dann, wenn es mich von Innen förmlich zerriss. Ich stand auf und ging, und sie sah mich nie wieder an.

4 Minuten. Die Elfe fragt mich, was das für ein Streifen am Himmel ist. Ich sehe kein Flugzeug. Als würde ich etwas ahnen, lege ich den Arm um sie und schweige. Sie schmiegt sich an mich und sagt etwas, das ich nicht verstehe. Ich weiß gar nicht, welche Sprache das ist. Vielleicht liegt es nur daran, dass ich den Klang der Sprache vergessen habe. Seit Jahren kenne ich nur noch die Schrift, spreche mit niemandem. Seit ich dieses prinzessinenhafte Wesen aus der 10A nicht zum Abschlussball eingeladen habe, gibt es keinen Grund mehr dazu. Die Zeit hat nicht auf mich gewartet, ich wurde 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26...

Jetzt. Wir stehen auf, die Elfe und ich. Ich ahne es nicht bloß, ich weiß es. Ich lächle, ich bin glücklich, wie zum letzten Mal an dem Tag, als ich in die 7. Klasse kam, und neben ein Mädchen gesetzt wurde, das ich noch an jenem Abend in mein Baumhaus in luftiger Höhe entführen wollte. Wir schmeißen uns zu Boden, richten uns wieder auf, halten uns an den Händen, und wissen, dass unser Alter keine Rolle mehr spielt. Ich finde, es ist ist ein gelungenes Ende der Geschichte. Sie lacht und erzählt, dass sie seit zwei Jahren an jedem warmen Tag zu diesem Hügel ging, um mich beim Lesen zu beobachten; ihr Kopfkino lief auf dem Heimweg, sie dachte sich aus, ich sei ein Bösewicht, der einen geheimen Plan ausheckte, um die Welt zu vernichten. Sie sieht mich an, ihre Augen sind groß und verliebt, sie ist glücklich. Ihr Kopfkino hat Recht behalten. Ich weiß aber nicht, was sie denkt, und genieße das Panorama am Horizont: da steigt ein Pilz zum Himmel auf, und noch einer, und noch einer. Im nächsten Augenblick ist alles hell erleuchtet, und der Augenblick vorbei. Wir werden, was wir sind.

2012

Samstag, 1. August 2020

Das schwächste Mädchen





Als Terminator geht man in eine Klasse, als ob man das Asperger-Syndrom hätte, und fragt ohne Präludien in die Runde: „Wer ist in eurer Klasse der Stärkste?“ Solche Direktheit kommt nicht gut an, aber eine Antwort bekommt man meist nonverbal. Dann fragt man den Hünen: „Zeigst du mir, wer in eurer Klasse die Schwächste ist, oder muss ich dich besiegen?“ Er zeigte sie mir, wollte keinen Stress, doch sie war mir nicht schwach genug. Nein, sie war schon zierlich, süß, sexuell attraktiv. War immerhin die 12-te Klasse, und ich benam mich als wäre ich ältestens 12. Ihr Blick war neugierig, die neue Masche amüsierte sie. So hatte sich noch kein Neuer vorgestellt. Doch ich verlor nach ein paar kurzen Blicken das Interesse. Mein Betrachten ging weiter über den ganzen Schulhof, ich sah ein richtiges Model aus der 10-ten, und es sah mich an wie eine Kuh. Ich konnte mir das Lachen nicht verbieten.

Die Stunden zogen sich zäh in die Länge. In der Mittagspause schlich ich gedankenverloren über den Hof. Erst bemerkte ich gar nichts, bis ich wahrnahm, dass sich etwas rührte. Es hatte langes dunkles Haar und saß im Schneidersitz auf einer Betonplatte. Es hatte in kleinen und zierlichen aber keineswegs zarten Händen ein Buch mit dem Titel „Konstantin XII Noomachos“. Ich stellte mich als Nikephoros Phokas vor und sah ein Lächeln, das mich in seinen Bann zog. Ich blieb stehen und stellte ein paar Fragen. Während sie erzählte, musste ich mal lächeln, mal lachen, mal sie einfach nur ansehen. Die unscheinbare Maus mit dünnen Ärmchen, so klein und so altklug, eigenwillig angezogen, Elftklässlerin. Schön war sie gar nicht, aber ich fange jetzt nicht an, alle Defekte aufzuzählen. Ich dachte auch gar nicht an körperlichen Kontakt.

Später, am Nachmittag, fragte sie mich zwanglos, ob ich im Garten hinter dem Schulhof quatschen wollte. Und ich ließ mir Quatsch erzählen. Dabei sah ich sie immer wieder an und war glücklich. Da war halt jemand drin. Es war kein sprechendes Ding, kein menschensimulierender Apparat, keine Maske über einer Maske über einer Maske, sondern es war wirklich jemand da. Da fühlte ich mich nicht mehr einsam. Natürlich schaffte sie es irgendwann, mich auch wieder zu vergraulen, doch ich erinnerte mich noch lange an diesen einen Moment, als sie in ihrer ganzen Schwäche, Unsicherheit und Verzweiflung vor mir aufblühte. Auf der nächtlichen Radtour an jenem Abend musste ich an Edgar Allan Poes Gedicht „Ulalume“ denken. Und so nannte ich sie damals auch. So nenne ich sie heute noch.

Montag, 27. Juli 2020

Sokrates und Gamma-Boy





Gamma-Boy: Was ist der Unterschied zwischen einer Frau und einem Weib?

Sokrates: Kann ein Mann eine Frau sein?

Gamma-Boy: Nein.

Sokrates: Kann ein Mann ein Weib sein?

Gamma-Boy: Ja.

Sokrates: Hast du auch etwas gelernt, Strong Delta?

Strong Delta: There are only two sexes.

Dienstag, 30. Juni 2020

Die nihilistische Welt




1. Ich würde ihn nicht einen Alptraum nennen. Ich stand vor einem Graben mit einem Maschinengewehr und schoss auf eine Menge. Sie fielen alle in den Graben und ich schlich um den Graben herum, und prüfte, ob alle tot waren. Ich schoss noch lange auf die bewegungslosen Körper, bis alle Schreie verstummten. Ich rief den Söldnern, die friedlich umherwanderten und Zigarren rauchten, es sei soweit. Der Graben wurde zugeschüttet. Das Telefon klingelte. "Cliff?" "Ich komme raus". Mein Anzug war nicht gebügelt, aber das Hemd so weiß wie die Unschuld selbst. Ein Jeep stand in meinem Garten, die Söldner fuhren mich zum Flughafen. "Haben Sie diesen Kibort schon einmal gesehen?" fragte ich einen der Söldner. Er verneinte dies entschieden: "Niemand von uns einfachen Leuten hat John Kibort je gesehen. Der Mann ist eine Legende".   


 Hatte das, wo ich nun hinflog, etwas mit diesem Traum zu tun? Eine Stewardess setzte sich zu mir, der Platz neben mir war frei. "Ich wünsche Ihnen ein gutes Massaker", sagte sie. Ich bedankte mich. Mitten in einer Steppe landeten wir. "Legt falsche Spuren. Reißt kleine Kinder, lasst die Leute glauben, ein Monster triebe sein Unwesen. Wartet, bis alle bewaffneten Männer sich versammeln, um nach dem Monster zu suchen. Fahrt dann mit den Panzerwagen vor zum Dorf und schießt sie ab". Die drei Tage des Wartens verbrachte ich mit dem Lesen. Griechische Mythologie. Alte Populärphysikbücher aus meiner Kindheit. Es war kurz vor Mitternacht, als ich die ersten Schüsse hörte. Ich rief meine Geier und ließ sie die Leichen der Männer beseitigen. Früh am Morgen spazierte ich mit einer leicht bewaffneten Gruppe ins Dorf und wir erschossen Alte, Frauen, Kinder, Tiere. Ich war stolz auf meine Arbeit, die darin bestand, das Massaker so organisiert zu haben, dass es am nächsten Tag keine Lebensspuren mehr gab und das Dorf als verlassen deklariert werden konnte. Eine Regierungsbehörde gab meinem Auftraggeber die Genehmigung, das leere Land für eine moderate Bestechungssumme an sich zu reißen. Es wurde ein schönes Testgelände für Biowaffen.


 "Beeindruckend", lobte mich ein General. "Ich tu, was ich kann". "Wissen Sie, wie viele Menschen es waren?" "Leute". "Was?" "Leute, sagte ich. Es waren 1200 Leute. Der erste Mensch, den ich hier sehe, sind Sie". "Sie sind sehr genau". "Exakt". "Gut. Aber wissen Sie, wie viele ... Leute Sie für Kibort beseitigen müssen?" "Ich hörte was von einer Million". "Es sind deutlich mehr als eine Million". "Es ist das erste Mal, dass ich nicht weiß, ob ich das schaffe. Ein ganzes Volk auszurotten ist etwas Anderes, als ein Dorf auszulöschen". "Ich wünsche Ihnen viel Glück". Der General flog in die Staaten, um eine Waffenlieferung an Kibort zu veranlassen. Ich bestellte zwanzig Mörder für meine Wenigkeit. Als er fort war, dachte ich wieder an meinen Traum. Die Söldner standen die ganze Zeit nur tatenlos rum, keiner gab einen Schuss ab. In meinem Traum habe ich die Leute allein erschossen. Der Duft der Steppe. Die tiefe, aber keineswegs dunkle Nacht. Ich wurde etwas melancholisch, erinnerte mich an meine Kindheit, die ich in einem Steppendorf verbrachte. In den fast zwölf Jahren starb in diesem Dorf kein einziger Mensch eines gewaltsamen Todes.  

2. Eine uniformierte Person, deren Haut man nur mit großem Wohlwollen als hell bezeichnen konnte, fragte mich an der Grenze aus. "Cliff Ceachelle, Eventmanager", stellte ich mich vor. "Waffen? Drogen? Kinder?" "Nur legale Waffenlieferung und legaler Alkohol". "Alkohol? Für wen?" "Für eine Millionen Konzertbesucher, vielleicht noch mehr". Er starrte vor sich hin. "Trauen Sie sich nicht, wegen der Waffen nachzufragen?" Er schaute geschäftig auf seine Uhr, dann auf sein Maschinengewehr. "Fragen Sie ruhig, die Schmiergelder sind bezahlt", ermunterte ich ihn. "Wofür die Waffen?" "Für den Lebensraum für ein kleines Mädchen. Mädchen brauchen viel Raum". "Sie sind verrückt", lächelte er bedrückt. "Verlassen Sie das Land in einer Woche, wenn Sie leben wollen. Eine Epidemie könnte ausbrechen". "Könnte?" Ich ging zu meinem Taxi. "Könnte!?" Ich fuhr weg.


 "Kaum angekommen, schon den ersten Treffer versenkt", lachte ein wie ein Hausmeister angezogener Angestellter von Kibort. "Die Gerüchte? Es gibt immer Gerüchte. Und es gibt kein Urheberrecht für Gerüchte". Ein Mann im weißem Kittel kam dazu. "Eh ich´s vergesse - wir brauchen einen Arzt. Den besten, den es gibt, wenn es ums Töten geht. Das wird kein Spaziergang". "Dr. Ciechelsky", stellte er sich vor. "Sind Sie mein Arzt?" "Der bin ich. Unter meiner Leitung wurde die Epidemie in Afrika vor zwei Jahren ausgelöst". "Die war großartig", lobte ich, "neun Tage - eine halbe Million Tote". "Und das Virus kennt bis heute keiner". "Als die ankamen, waren alle Spuren beseitigt, alle Leichen verbrannt. Das war richtig gut. Und die Bevölkerung ist Ihrem Team bis heute dankbar für ihr schnelles Eingreifen". "Und Sie? Sind Sie auch ein Held?" "Mich muss keiner kennen. Und Sie habe ich auch nicht erkannt. Bekanntsein wird überschätzt". 


 Fünfzig Experten saßen zu Tisch, die Familien waren dabei. Eine ältere Frau bedrängte Ciechelsky, wollte die Einzelheiten wissen, aber nicht, wie ich zunächst dachte, zu dem geplanten Massenmord, nein, es ging um Persephone. Das kleine Mädchen, das zum fünften Geburtstag dieses Land geschenkt bekommen sollte. Ciechelsky hatte die Ehre, das Mädchen vom Weiten zu sehen. Er erzählte der alten Frau den ganzen Abend von ihrer Schönheit, und als diese, vielleicht um ihrem - wie nennt man es doch gleich - Gewissen eine Pralinenschachtel zu überreichen, den Doktor fragte, ob er denn wirklich bereit wäre, so viele Leute zu töten, schloss dieser genüsslich die Augen und antwortete: "Ja, so hell ist ihre Haut".  


 "Wollen wir tanzen?" fragte mich eine junge Dame, wahrscheinlich die Nichte des Generals. "Warum nicht". "Haben Sie schon mal eigenhändig einen Menschen getötet?" "Ich würde nie einen Menschen töten", sprach ich mit einem etwas moralischen Unterton, "aber lassen Sie uns über erfreulichere Dinge reden". "Meine Gene sind mein Schatz", freute sich die junge Frau, "ich habe zwar schon zehn Embyos zerstören lassen, aber die Elf ist meine Glückszahl. Und diesmal werden sie es mit dem Samen von einem Bergsteiger versuchen, der fitteste Mann, der je gelebt hat, sagt man". "Und wenn´s ein Junge wird?" "Dann wird es ein zwölftes Mal geben. Ich bin so aufgeregt, ich wünsche mir so sehr, dass meine Tochter Persephones Hauptverwöhnerin wird!"
 Vier Stunden später, es war fast drei Uhr in der Nacht, sah ich sie im Garten weinen. "Mein Ururgroßvater war nicht..." "Beruhigen Sie sich", beruhigte ich sie. "Nein, nein, sagen Sie mir nicht, dass alles gut wird! Er.. er war... nicht ganz weiß". 

3. Das war das Land: ein See in den Bergen, ein Plateau, ein Tal. Zwei Bergdörfer störten die Aussicht aus Kiborts Palast. Die Gerüchte taten ihr Gutes: niemand protestierte gegen die Quarantäne, und die Bewohner der beiden Bergdörfer wurden von meinem Team in ein Waldlager verschleppt. "Zehntausende haben ihre Häuser verlassen", berichtete Ciechelsky. "Darauf trinke ich. Weniger Tote - weniger Arbeit". "Aber sie werden bald zurückkehren, wenn nichts passiert". "Wer sagt denn, dass nichts passiert?" "Bisher ist nichts passiert. Wir brauchen Leichen. Opfer der Epidemie". "Schlachtet dreißig Stück und zeigt sie der lokalen Presse", befahl ich den Männern, "nicht vergessen: sofort wieder mitnehmen und verbrennen". 


 "Geht´s wieder?" fragte ich die junge Frau, die kein Kind mehr bekommen durfte. "Ich weiß nicht mehr, wozu ich noch da bin". "Zum Leben, wie wir alle. Mehr ist das doch nicht". "Aber vorgestern hatte mein Leben noch einen höheren Sinn". "Meins hatte nie einen Sinn. Gehen wir aus?" Wir fuhren in die Stadt im Tal, verbrachten den Abend in einer Bar. Fröhliche Leute, keiner schön, viele glücklich. Unzählige Kinder auf den Straßen. Sie sah zu, wie ich mit den Kindern Fussball spielte, und fragte mich auf dem Rückweg, wie ich es tun könne. Sie alle töten. Solche Fragen stellt jemand, der an den Morden beteiligt ist oder von ihnen profitiert, aber niemals auf die dadurch erworbenen Annehmlichkeiten des Lebens verzichten würde. Ich schwieg nur, vielleicht aus Ehrfurcht vor dem Leben.


 Tief in der Nacht weckte mich einer der Söldner: "Es gab einen Aufstand im Lager. Sind nur noch fünfzig Leute übrig". "Ihr seid gute Schützen", wurde ich zynisch. Der Mann schwieg beschämt. "Entführt mindestens zweihundert Leute aus den umliegenden Dörfern, aber leise". Er ging seinem Beruf nach. Ich schlief wieder ein. "Vergewaltigung? Wer hat das erlaubt?" Ein alter Priester und Bauer, harter Hund, rief alle zusammen. Drei Söldner hatten in der Nacht dreimal soviele Frauen aus dem Lager vergewaltigt. "Wisst ihr Hurensöhne nicht, dass wir eure Familien haben? Habt ihr vergessen, was in euren Verträgen stand?" ging der Priester vor den in einer Reihe aufgestellten Söldnern auf und ab. Kiborts Männer brachten dem Alten drei Frauen und drei Kinder. "Schande oder Tod?" fragte er den ersten Söldner. "Schande", senkte dieser den Kopf. "Zieht seine Hosen runter und fickt ihn in den Arsch", befahl er den Söldnern neben ihm. Sie kamen der Aufforderung nach. "Schande oder Tod?" fragte der Priester den nächsten Übeltäter. "Tod", wollte dieser den Held spielen. "Frau oder Kind?" "Was!?" "Du hast dich für den Tod entschieden. Soll deine Frau oder dein Kind getötet werden?" Der Mann heulte, der Priester ließ sein Kind töten. "Du Bastard!!" Der Priester zog seine eigene Waffe und schoss der Frau in den Kopf. Der Dritte war an der Reihe. "Schande oder Tod?" "Schande". "Fickt ihn". In der folgenden Nacht befahl ich zwei Männern, die bestraften Söldner im Schlafe zu erschießen. 


 Ciechelsky schenkte sich einen Scotch ein, der älter war, als er selbst. 

"Zwehundertfünfzig werden nicht reichen". "Wir haben nicht genug Männer, um mehr Leute zu kontrollieren. Die hier müssen reichen". Wir schwiegen, es gab noch viel zu tun. "Die Frau hat sich gestern erhängt". Ich war nicht beeindruckt, obwohl sie gut tanzen konnte und gute Manieren hatte, und ihre Haut natürlich so schön hell war. "Sie hatte sich das mit dem Mädchen in den Kopf gesetzt, das war wohl eine fixe Idee". "Nein", unterbrach mich der Arzt, "es war das höhere Ziel, mit dem sie all das Grauen hier rechtfertigen wollte". "Was ist Ihr Ziel?" "Eine Welt ohne Menschen. Persephone wird der reichste, glücklichste und verwöhnteste Mensch in der Geschichte sein, um mit 27 Jahren als letzter Mensch auf der Welt zu sterben". "Ist Kibort in Ihren Lebenstraum eingeweiht?" Ciechelsky ließ sich tief in einen Luxussessel fallen: "Kibort ist ein Technokrat. Ich glaube sogar, er ist ein Roboter. Er wird sich mit einer riesigen Rakete ins All schießen und kommt nie wieder". "Nicht dass er noch beschließt, nach seinem Abflug die sämtlichen Atomarsenale dieser wunderbaren Welt hochgehen zu lassen", scherzte ich. "Aber er ist doch kein Barbar", lächelte der Arzt, "er wird den Planeten so hinterlassen, wie ihn die Menschheit vorfand. Abgesehen von unseren hässlichen Städten, Straßen, Fahrzeugen, - aber die Natur wird viel Zeit haben, hinter uns aufzuräumen".

4. Der Waffen- und Sicherheitsexperte Sanftruh, der für mich arbeitete, packte seine Koffer. "Morgen ziehen wir es durch", so ich, "wozu die Eile?" "Ich bin kein Rassist". "Ich auch nicht". "Hören Sie Ihren Söldnern in den Mittagspausen eigentlich zu?" "Ich höre dem Bodenpersonal nie zu. Das macht der Seelsorger". "Diese Schweine reden über die Menschen wie..." "Wie? Wie reden sie über die Leute?" Sanftruh beruhigte sich etwas, rauchte eine Zigarre. "Acht von neun Ihrer Geschäftspartner sind Despoten in Afrika und Südasien, wenn ich mich recht entsinne". "Acht. Keine neun. Der Weißrusse ist ausgestiegen, weil meine Leute scharf in die Menge geschossen haben. Ein Demonstrant wurde erschossen". "Die Neger sind zu den Negern wie wir Rassisten", lachte der Priester, der eintrat, um die Ankunft Kiborts zu verkünden. "Aber ich bin kein Rassist", war Sanftruh wichtig. "Massenmorde machen Ihnen nichts aus, aber bloß kein Rassist sein", lachte der Alte, "Sie sind bestimmt auch nicht schwulenfeindlich, vielleicht sind Sie ja schwul". "Du Schwein! Du Neger!" ging Sanftruh auf den hellhäutigen Priester los, womit sich das mit dem Rassismus geklärt haben dürfte.


 Ich ging Ciechelsky holen, aber auch der packte seine Koffer: "Kibort will gar nicht die ganze Menschheit vernichten. Er hat mich angelogen". "Sie können jetzt nicht aussteigen, Sie haben einen Vertrag". Er zitterte: "Ich will nicht der Böse sein, vergessen Sie es. Als ich mit dieser Sache angefangen habe, glaubte ich, dass es eine gute Sache werden würde". "Sie ist nicht anders als das, was Sie vorher getan haben". "Ich spreche von Vorher. Ich hätte all diese Dinge doch nie getan, wenn ich gewusst hätte, dass nicht die ganze Menschheit draufgehen soll! Ich wollte der Erde etwas Gutes tun! Ich wollte niemals Menschen töten, damit so ein adliger Teufel seinen Traum von einem Hofstaat realisiert!" "Sie sind nur etwas nervös. Sie sind Arzt, verschreiben sie sich etwas", sagte ich und wanderte in die Empfangshalle.


 Kibort, ein Mann von der Körpergröße Immanuel Kants, begrüßte das Team feierlich. Er sprach nicht viel, überließ mir das Reden. Auf dem Weg zum Podium war ich etwas aufgeregt, grüßte die Anwesenden flüchtig, musste ständig auf diese riesigen Bildschirme starren, von denen das kleine Mädchen, die Prinzessin Persephone auf uns herab lächelte. So ein schönes Kind. Was sind schon eine Million Leichen? Für dieses Mädchen würde jeder normal empfindende Mensch gleich mehrere Welten vernichten. Woher kommt bloß dieser dekadente Irrglaube, alle Menschen seien gleich viel Wert? Ich ging zum Geschäftlichen über: "Alle Nebenstraßen werden abgesperrt. Die Menge darf sich nur in den rot markierten Gebieten aufhalten. Um Mitternacht lasst die erste Gruppe die Nordpassage runter. Die Massenpanik wird die Menge an die Seiten treiben. Vom Süden kommen weitere Infizierte. Die Menge wird verwirrt sein, diese Verwirrung gilt es aufrechtzuerhalten, bis alle tot sind. Werft Gasgranaten von den Hubschraubern. Schmeißt Rauchbomben. Unter keinen Umständen das Feuer eröffnen. Viel Glück".

5. Unruhe wie seit der Inauguraldissertation nicht mehr. Eigentlich komisch, denn ich hatte den Job schon nach drei Monaten geschmissen. Ich war kein guter Dozent, ich konnte nie viel reden, und noch weniger Woche für Woche Aufsätze von Idioten oder Noch-Idioten durchlesen. Ich war 32, mein Leben bestand nur aus Büchern. Ich kannte die Geschichte jedes Völkermords und jedes großen Massakers, war aber nie bei einem dabei gewesen. Ich weiß noch, wie ich vom Luxussessel aufsprang, als ich einen Dokumentarfilm über den Sudan ansah, den ich schon zweimal gesehen hatte. Ich dachte nur: welch ineffiziente Logistik! Ein Jahr später organisierte ich ein großes Massaker in Birma. So fing alles an. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, wanderte auf meinem Posten umher, bis mir berichtet wurde, dass schätzungsweise 1,8 Millionen Leute zum Volksfest in der Stadt erschienen waren und damit etwa 98% der Bevölkerung des Landes. Von Außen war das Land immer noch abgeriegelt, aber vor wenigen Stunden das Virus für besiegt erklärt. Keine Infizierten mehr, große Erleichterung, Feierlaune. Nur von der Welt abgeschnittene Bauerndörfer und einzelne feierunlustige Individuen waren noch zu beseitigen. "Ceachelle? Wo sollen wir graben?" fragte mich der Bestattungsleiter. Ich zeigte ihm einen für Massengräber geeigneten Ort auf der Karte.


 Um acht Uhr morgens schlief ich ein, wurde eine Stunde später geweckt. Ciechelsky sah nicht gut aus. Er wollte sich erschießen. "Beruhigen Sie sich", fing ich an. "Ficken Sie sich!!" "Holt Kibort", befahl ich. "Geben Sie mir die Waffe". "Ficken Sie sich!!!" "Sie trifft keine Schuld, wirklich nicht". Er sah mich mit leeren Augen an und richtete dann die Waffe auf mich. "Schießen Sie, los", provozierte ich ihn. Kibort dirigierte mich beiseite und ging auf ihn zu. Wie ein Heiliger nahm er ihm die Waffe aus der Hand: "Ich verspreche Ihnen, ich werde die ganze Menschheit vernichten". "Ich will es erleben! Nicht in fünfzig oder hundert Jahren..." "Natürlich nicht. Ich verspreche Ihnen, die Menschheit wird noch zu Ihren Lebzeiten aussterben. Wenn Ihre Stunde gekommen ist, wird es keine reproduktionsfähigen Menschen mehr geben". Ciechelsky sank wie ein Sack zu seinen Füßen und stammelte: "Und P-p-p..." "Persephone ist unfruchtbar", tröstete ihn Kibort, "das habe ich von Anfang an veranlasst". 


 Der alte Priester rief die Söldner zusammen. "Das Meisterwerk ist getan", lobte ich die Truppe, "nun beginnt die Drecksarbeit. Ihr werdet in vier Gruppen eingeteilt. Yuri, Jean-Jacques, Demba, Carlos, Luigi, Heinz, ihr kommt mit mir". "Sie haben ein großes Herz", segnete mich der Priester. Ich wählte aus der Truppe die Männer aus, die nicht auf Kinder schießen konnten. Das würde ich übernehmen. Ich verabschiedete mich von Ciechelsky und Sanftruh und wir fuhren. Fünfzehn Minuten Fahrt, schon die ersten Kunden. Drei Häuser am Waldrand. Wir waren leise. Die drei Familien wurden friedlich im Langschlaf erschossen. Weiter eine größere Siedlung, das Feuer wurde erwidert. Yuri schaltete die Scharfschützen aus, Carlos und Demba stürmten das Haus, aus dem das Feuer kam. "Nur Kinder hier". Ich ging rein und kam nach neun Schüssen wieder raus. Wir zogen von Haus zu Haus, bis einer fragte: "Wo sind eigentlich die Frauen?" Ich schickte Heinz auf die Suche, er war unser Spürhund. "Sonst alle tot?" Dem war so. "Einsammeln und dorthin stapeln. Ich rufe den Laster". Heinz lief auf uns zu, so schnell und erregt, dass Jean-Jacques instinktiv sein Maschinengewehr auf ihn richtete. "Die Frauen!" rief Heinz. "Die Frauen. Sie haben dort in der Dorfkirche einen Massensuizid begangen". "Du weißt dich auszudrücken", lobte ich den Söldner. "Ich kenne auch den Hintergrund", tat er schlau, "es war ein ritueller Massensuizid. Selbstopferung..." "Schwachsinn", wusste Demba, "du liest zu viel. Die dachten, wir wären die einheimische Miliz, die hier regelmäßig auf Ficktouren geht". Die Frauen wollten einer oft tödlichen Massenvergewaltigung zuvorkommen. Dabei hätten wir sie einfach nur getötet. "Was sind das bloß für Tiere", spie Yuri auf den Boden. "Da wo ich herkomme ist das normal", senkte Demba den Kopf, "mein Vater sagte immer, unser Volk ist schwarz, weil wir uns wie Tiere benehmen. Strafe Gottes". Wir fuhren weiter, während Demba erzählte wie "weniger schwarze Neger" die "schwarzen Neger" in seinem Land bis heute als Sklaven hielten.   

6. Eine Hütte im Wald, wir hielten an. Es fing an zu regnen. Zwei Alte und ein Junge. Ich schoss dem Jungen in den Kopf, Yuri jagte den alten Mann etwas ungeschickt durch die Hütte, bis er ihn traf, Heinz schoss der alten Frau zweimal in die Brust. Während ich ausschied, legten die Männer den toten Jungen auf den Küchentisch. Demba tat seinen Schädel auf und legte das Hirn in einen Topf. "Was wird das?" fragte ich. "Eine Wette. Carlos setzt zweihundert, dass Heinz sich nicht traut, das Teil zu essen". Luigi, der gleich nach mir ins stille Örtchen ging, kam wieder: "Seid ihr durchgeknallt? Ihr verfluchten Leichenschänder! Der Leib ist heilig!" "Seid wann - seid er tot ist?" lachte Carlos. "Was ist los, Luigi?" wunderte sich Yuri, "du bist doch ein Mörder". "Aber kein Leichenschänder!" "Gibt es hier noch mehr Schwanzlutscher, denen etwas heilig ist, um diese ganz normale Arbeit hier zu rechtfertigen?" wollte Jean-Jacques wissen. Luigi warf sich auf ihn, die Anderen setzten Bares. Der Franzose gewann. "Du sizilianische Inzucht", war seine Siegesrede. "Du Nihilist", schimpfte Luigi. "Existentialist", lächelte der Franzose breit. "Schaltet mal einen Gang runter, wir essen doch alle tote Tiere, oder?" mimte Heinz den verhasstesten Fernsehmoderator seines Heimatlandes, "und ich esse gleich dieses gekochte Hirn, wetten?" "Fünfzig auf Heinz", legte Yuri einen Schein auf den Tisch. "Hundert gegen Heinz", legte Jean-Jacques einen Schein drauf. "Dreihundert, dass er im letzten Moment kneift", so Demba. "Boss?" starrte er mich an. "Ich hab nur Spielgeld. Nur Landeswährung. Weiß nicht, wieviel das in Dollar ist. Alles auf Heinz".


 Am Nachmittag löschten wir zwei weitere Dörfer aus, ich blieb, bis die Laster kamen. Ich fühlte mich beim Einbruch der Dunkelheit noch nicht müde und half mit den Leichen. "Haben Sie das hier organisiert?" fragte mich der Fahrer. Ich nickte. "Ein böser Mensch", schüttelte er mit dem Kopf. "Haben Sie sachliche Kritik an der Organisation? Nein? Dann halten Sie Ihre Kiwifresse". "Woher weiß er, dass ich aus Auckland komme?" flüsterte er dem Nebenfahrer zu. "Ich habe alle 81 Leute selbst ausgesucht", löste ich das Mysterium auf. "Warum sind Sie..." "Was? Rassistisch, sexistisch, behindertenfeindlich? Ich bin Misanthrop, aber kein Sandkastenmisanthrop. Ich hasse jeden Menschen persönlich, nicht alle pauschal. Nicht der abstrakte Mensch an sich ist mir zuwider, sondern jeder Einzelne. Der Schwule als Schwuler, der Neger als Neger, der Russe weil er Russe ist, der Faschist weil er Faschist ist, der Kommunist weil er Kommunist ist, und das nur, wenn ich die Leute nicht näher kenne. Sie hasse ich, weil Sie ein selten dämlicher Hurensohn sind, und Ihren Freund, weil er den Blick einer Ratte hat und lispelt, dieses verdammte Schwein". Wir guckten uns an. Aus den Drohblicken wurde breites Lächeln, das sich im lauten Lachen auflöste. "Das war nur Spaß", lachte ich, und die beiden Fahrer lachten mit. "Ich hasse niemanden, ich tu nur meinen Job". "Das ist gut, wir tun nur unseren Job!" "Verdammt, ja, Mann, wir tun nur unseren Job!"
 Ich war zu müde, um Kibort und dem alten Priester zuzuhören, sie redeten über einen neuen Auftrag in Flandern. "Mitten im zivilisierten Europa - das ist toll, das hat es lange nicht mehr gegeben!" amüsierte sich der Alte beim Gedanken an unser nächstes Massaker.

7. Kontrollfahrt. Die Freaks, die gestern hier auf Putztour gefahren sind, haben ein ganzes Dorf glatt vergessen. Waren das etwa Verwandte von ihnen? Es war ein Wenig anders. Als wir ankamen, gab es lautes Geschrei, aber keine Toten. Ich teilte meine Gruppe entzwei und schlich mit den Männern im Kreise um das Dorf herum, um den Kreis des Todes immer enger zu schließen. In einem Haus sahen wir Yuri, der einen Söldner aus einer anderen Gruppe verprügelte: "Du mieser Kinderschänder!" Eine Frau redete auf Yuri ein: "Töten Sie uns nicht, bitte!". Yuri schlug den Mann zum Abschluss der Debatte mit einem Bügeleisen, ich wollte ihn noch aufhalten, aber sah etwas, und ging wieder auf die Straße. Währenddessen beschwichtigte die Frau den aufgebrachten Söldner: "Lassen Sie sich von meinem Kind glücklich machen, aber tun Sie uns nichts". Als ich wieder ins Haus kam, machte Yuri seinen Hosenstall zu. Die Frau strahlte vor Glück: am Leben! Das Kind weinte in der Ecke. Der von Yuri halbtot geschlagene Söldner verblutete. Ich sah die Frau an, wie man gewöhnlich bei einem Schiffbruch einen Erwachsenen ansieht, der gerade ein Kind aus dem Rettungsboot ins Wasser warf, um sich selbst zu retten. Ich erschoss sie und das Kind. Wir warteten auf Yuri, aber hörten nur einen gedämpften Schuss. "Warum haben Sie nicht eingegriffen, Boss?" fragte mich Demba. "Ich dachte, ich hätte draußen ein weißes Mädchen gesehen..."


 Kibort ging mit schnellen Schritten durch den langen Saal hin und zurück, unterrichtete seine Leute und mich über das weitere Vorgehen. Alle Siedlungen sollten dem Erdboden gleich gemacht werden, viele Quadratkilometer Wald an deren Stelle gepflanzt. Die Hälfte der geraubten Güter sollte an die Armen gehen, die Mehrheit stimmte für Indonesien. "Kalimantan. In drei Stunden fliegen Sie. Überreichen Sie diesen Koffer", sagte Kibort und zeigte gab mir ein Foto. "Nur wenn diese Frau das Geld bekommt, wird es nicht veruntreut. Tun Sie noch diese letzte Sache. Wenn die Leichen gezählt sind, überweise ich Ihnen 7,50 pro Leiche". "Ich dachte, wir hätten uns auf 7,75 pro Leiche geeinigt". "Ich weiß nicht, wozu ein Mann wie Sie überhaupt Geld braucht. Ich gebe Ihnen 8 Euro pro Leiche, aber spenden Sie die Hälfte den Armen, Sie werden sie noch brauchen".
 Die Frau von der Hilfsorganisation kam aus China. Sie lächelte immer, war stets gut gelaunt, und für ihre 68 Jahre sehr robust. Obwohl ich müde war, brachte sie mich dazu, beim Verteilen der Reissäcke und der Spielsachen mit anzupacken. Physisch erschöpft und mit einem fast zynisch guten Gefühl flog ich nach Amsterdam. Ich zählte im Kopf mein Geld: etwas weniger als zwei Millionen Tote, 8 Euro pro Leiche, das wären dann... ich schlief ein und wurde in Amsterdam von einer netten zierlichen Stewardess geweckt: "Ich habe das Logo auf ihrem Hemd gesehen. Sie helfen armen Kindern? Die Welt hat Glück, dass es Menschen wie Sie noch gibt".


8. Eine Wüste aus versteinerter Zeit. Ich - ein Vertriebener. Wer vertrieb mich? Ich selbst, denn die Anderen sind immer unschuldig, und es ist böse, zu denken, die Anderen wären schuldig, sie mit Schuld zu beladen, sieh doch, wie schlecht es ihnen geht. Ich sehe sie und leide mit ihnen, noch mehr als sie an sich selbst. Gelächter. Vergewaltigungsopfer feiern ihre Orgasmen der Vergebung vor Gericht, endlich im Mittelpunkt, endlich alle Kameras auf sie gerichtet, und sie küssen ihre Vergewaltiger auf die Stirn und werden Engel genannt, und sie wissen, dass sie niemals so leiden werden wie ich mit ihnen mitleide. Gut und Böse vertragen sich, Engel und Teufel gehen miteinander ins Bett. Mir bleibt die Schuld. Ich bestrafe mich und werde dafür bestraft. Ich verlasse ihre Städte und trage ihre Schuld davon. Sie rufen mir höhnisch hinterher, nennen mich Hitler, es dürstet mich, doch kein Wasser für Hitler, meine Krankheiten sind ihr Heil, meine Schmerzen sind ihre Gerechtigkeit. Ich gehe aus ihren Städten hinaus in die Steinwüste, habe ihnen nichts getan und werde ihnen nichts tun. Ich werde kein vom Engel geküsster Vergewaltiger sein, ich werde keine Vergebung brauchen, gebt mir die Schuld. Die Sonne scheint nicht für Hitler, aber mir ist ihr Licht zuwider, und diese Lügnerin, diese Hure, sie kennt meinen Namen, aber nennt ihn nicht, sie nennt mich, wie mich alle nennen. Ich strahle vor Reinheit und bin in meinem Element. "Cliff, wach auf!" "Was?" "Ist das dieses Mädchen?" "Ja, das ist es. Das ist ein hochwertiges Foto. Darf ich es behalten?" "Selbstverständlich". Mein holländischer Freund und Fotograf hat es nun gefunden, dieses achtjährige Mädchen, das ich vor vier Monaten hier auf dem Flughafen gesehen hatte und unbedingt wiedersehen wollte. Wir entführten es. "Bist du dir sicher, dass du es tun willst? Denk noch mal darüber nach, das ist ein verdammtes Armageddon, was du da anrichtest!" erhörte ich den Hörer. "Ciechelsky, Sie schulden mir noch was. Wir ziehen es durch".

Der Arzt kam und kümmerte sich um das Kind, wir tranken Tee. "Ein Alptraum, als Erwachsener in so ein Mädchen verknallt zu sein", klagte mein holländischer Freund, "aber mit Alpträumen kennst du dich ja aus". "Ich will nicht über meine Vergangenheit reden. Mit dieser Tat ziehe gerade den Schlussstrich". Er sah mich etwas enttäuscht an: "Ich dachte, dir ist es auch passiert. Wenn du so ein Kind liebst, das anderen gehört, als wär´s ein Ding, und sie können damit tun, was ihnen gefällt..." Ich übersah diskret seine Tränen. "Liebe ist mir nicht fremd, aber es hat sich überliebt. Sieh mal, all die Dinge, die wir tun, diese Morde, diese Massaker - was passiert? Nichts. Weil wir die Mächtigen auf unserer Seite haben". "Gott sieht zu und es gefällt ihm", wurde er zynisch. "Gott ist keine Nanny, wir müssen Verantwortung übernehmen. Sobald sich einer dazu bereit erklärt, wird ihm die Verantwortung für alles Übel in der Welt übertragen. Das habe ich erlebt. Ich bin an allem Bösen schuld, weil es mich nicht kalt lässt. Nun bin kalt. Ich sehe die Welt klarer. Ich will, dass die Verantwortlichen die Verantwortung tragen, so einfach, aber nicht einfacher als so". Ciechelsky setzte sich dazu: "Fertig. Das Mädchen schläft. Sie sind ein Teufel, Cliff". "Ist der Teufel für Sie schlimmer als Hitler?" wurde ich idiosynkratisch. Als ich in die Spätpubertät kam, um die Welt auf meinen Schultern zu tragen, da war er schon ein angesehener Arzt. "Was habt ihr Beide dem Mädchen angetan!?" wurde der Fotograf ungeduldig. "Das Taxi", so der Arzt. "Gib ihm 500 und lass ihn das Kind nach Hause fahren". "Dein durchgeknallter Freund hat mich dem Mädchen einen Chip implantieren lassen. Den Chip wird niemals einer finden..." "Wozu willst du ein Kind überwachen?" "Nicht ich. Eine Atombombe". "Was?" Ciechelsky lachte: "Sollte dem Mädchen etwas Inakzeptables passieren, wird in einer Millionenstadt eine Atombombe hochgehen". "Es ist nicht gut, wenn ein Kind vergewaltigt wird und alle friedlich weiter schlafen. Das ist meine Botschaft: wenn eine Ungeheuerlichkeit passiert, dann passiert nicht nichts, sondern eine Ungeheuerlichkeit, um zu zeigen, welche Ungeheuerlichkeit gerade passiert ist". Schmunzeln musste ich bei dem Satz schon.

9. "Es ist dir aber klar, dass das mit der Atombombe nur unter uns bleibt, wenn du alles Menschenmögliche tust, um mir zu helfen, die Welt zu vernichten", ermahnte mich Ciechelsky als wir zum Flughafen fuhren, "man könnte dir sonst Fragen stellen von der Art, wo du sie her hast, und ob du nicht noch mehr..." "Zwei". "Was!?" "Ich habe noch zwei Atombomben". "Mexiko City, bitte..." "Nein". "Ich werde Sie verraten, wenn Sie mir nicht helfen". "Das ist mir klar. Aber auch Ihnen sollte klar sein, dass meine Wohltat von Vorhin nur eine Hommage an meine Spätpubertät war, in der ich unter meinem Mitleid sehr gelitten habe. Ich bin verdammt alt, gehe auf die 40 zu, habe mich seit 15 Jahren kein eiziges Mal verknallt. Mein Leben ist mir so egal wie Ihres, aber solange ich lebe, genieße ich es". "Nur eine Bombe, bitte", flehte er mich an. "Gut. Aber Sie sind mir wieder was schuldig. Und seien Sie vorsichtig".

 Das Bewusstsein, dass mein Leben vielleicht in Gefahr sein könnte, gab mir zu denken. Warum haben mich die Söldner noch nicht umgelegt? Ich bin mit ihnen nie respektvoll umgegangen. Warum hat mich kein Despot umbringen lassen? Weil niemand böse sein wollte? Weil keiner sich für irgendetwas verantwortlich fühlen will? Die Söldner, sie mit ihren Prinzipien, nicht auf Kinder schießen. Die Regenten, die ihre Völkermorde nicht selbst organisieren wollen. Die Welt ist voller Feiglinge.

 Mein neuer Auftraggeber begrüßte mich in einer Eckkneipe in Antwerpen. "Wir haben hier ein Antisemitenproblem. Juden fühlen sich nicht mehr sicher". "Warum lässt Ihre Regierung denn Antisemiten einwandern?" "Um die politische Lage zu destabilisieren, wahrscheinlich im Auftrag einer gewissen Notenbank. Und um die Mittelschicht gegen die Fremden aufzuhetzen, damit sie auf die Reichen nicht losgeht". "Und jetzt fürchtet sie um ihre Steuern?" "So ist es. Juden arbeiten. Antisemiten hängen dem Sozialstaat am Hals". Ich sah mich nach Flamen um, die meinen Gesprächspartner gehört haben könnten, aber kein Nachbartisch beschwerte sich über die fremdenfeindlichen Worte. "Sie sollen eine Massenpanik organisieren, bei der Rechtsradikale und Antisemiten, möglichst viele, einander tottrampeln". Ich lachte. "Was denn?" "Warum nennen sie diese Menschen andauernd Antisemiten?" "Vom M-Wort wird mir schlecht", wurde er charmant. "Ich bin ein unpolitischer Mensch", sagte ich, "ich weiß nicht, womit wir einen gewaltigen Aufmarsch von Rechtsradikalen provozieren könnten, aber das ist es, was wir brauchen: ein laut angekündigter Aufmarsch. Auf dem Weg zur Gegendemonstration werden die aufständischen Anständigen und ihre Antisemiten nach rassischen Merkmalen gefiltert, damit keiner dieser dummen Gutmenschen draufgeht. Ein Selbstmordattentat wäre gut, er würde die Panik auslösen. Geben Sie mir einen Stadtplan. Hier.. oder hier. Die Straßen sollten schmal sein, und es darf vom Ort des Zusammentreffens keinen schnellen Fluchtweg geben". Eine Schweigepause. Ich stand auf und verabschiedete mich. Er blieb sitzen, schaute zu mir auf: "Ich bewundere Sie". "Protestantische Arbeitsethik. Sollten Sie vielleicht auch Ihren Antisemiten beibringen". 

10. Huysegems, ein Völkermordbeauftragter einer nigerianischen Befreiungsarmee, erwartete mich in Nouakchott. Auf dem Weg dachte ich über die jungen Flamen nach, die ich als Kollateralschaden verfrühstückte. "Zu viele Unbeteiligte sind getötet worden. Ich gewähre Ihnen einen Rabatt", rief ich den Mann aus Antwerpen an. "Zu viele? 121 sind doch nicht zu viele! Sie sind ein Genie!" Ich blieb dabei: "25% Rabatt. Und es tut mir wirklich Leid. Sie waren zu jung, sie konnten noch nichts für ihre politischen Überzeugungen".

 In Mauretanien angekommen, sah ich Negersklaven. "Wem gehören die?" fragte ich Huysegems. "Einem schwarzen Imam aus London". Ich schwieg. "Sie schweigen? Es wundert Sie nicht?" "Ich erinnere mich an einen Fussballspieler, der in seiner Heimat, Nigeria oder Ghana, Sklaven hielt. In den Vereinigten Staaten leben mehr Sexsklaven, als ich Frauen hatte". Huysegems lachte: "Sie hatten doch keine halbe Million Frauen?" "Ich wollte nur den Harten markieren. Ich bin ein sentimentaler Mensch", sagte ich, als wir in seinem Haus ankamen und ich an der Wand ein großes Porträt des guten alten Mengele sah. "Er ist mein großes Vorbild", war Huysegems stolz.

 Mir gefiel die Stadt. Ich war noch nie zuvor in Nordwestafrika. Es war schön. Nein, ich hatte nur einen schönen Tag. Ortswechsel - Gedächtnisverlust. Als wäre ich wieder zwölf. Aber zurück zu Mengele - Huysegems zeigte mir am nächsten Tag seine Folterkeller, es waren sieben an der Zahl. "In diesem Luxuskeller hier wachsen Mädchen auf, die nichts anderes kennen als Sex. Sie ernähren sich nur von menschlichen Körpersäften. Wenn Sie gesund sind, sind Sie mit zwei Riesen dabei. Los, füttern Sie sie!" Ich verneinte dankend, wollte die restlichen Keller sehen. "Hier ergründe ich den Schmerz. Ich versuche, wissenschaflich zu ermitteln, welche Foltermethode den intensivsten erlebten Schmerz beim höchsten Bewusstsein erzeugt. Es ist der Geist, der Schmerz empfindet, verstehen Sie? Die Person muss sich fürchten, muss leiden, darf den Schmer nicht blockieren, darf nicht denken, dass sie irgendwann erlöst sein wird. Ich beschäftige 180 Wissenschaftler aus 70 Ländern - Ärzte, Physiker, Chemiker, Psychologen, sogar einen Sprachwissenschaftler", erzählte Huysegems. Im nächsten Keller züchtete er Kampfroboter, gab ihnen nur gefangene Menschen zu essen, die diese selbstredend selbst töten mussten. Ein Drogenkeller, ein Keller für religiöse Folter - unter Androhung von Gewalt gegenüber der Familie des Gefangenen wurde dieser aufgefordert, seinen Glaubenssätzen zu widersagen. Nur streng Gläubige wurden zu diesem Zweck entführt. "Zwei Korane, vier Bibeln. Aufgehoben wie in einem Museum. Das sind die heiligen Bücher der Versuchspersonen, die alles über sich ergehen ließen, aber ihren Gott nicht verfluchen wollten. In meinem Garten steht ein Ehrenmal für sie".

 Während ich schlief, wurden eine Etage tiefer Menschen gefoltert und gegessen, Kinder als Sexsklaven gehalten, aber das ging mich alles nichts an. Am frühen Morgen machte mich Huysegems mit meiner Aufgabe vertraut: ich sollte an die 1000 Leute fangen und mit Lastwagen nach Nouakchott bringen lassen, um Gaskammern für die Befreiungsarmee zu testen. "Gehen Sie da rein, na los", forderte Huysegems mich auf. Ich ging in die Gaskammer, er schloss sie von Außen und ließ Wasserdampf hinein, welches aus der fein gelochten Decke in die Kammer sank. Huysegems öffnete die Tür: "Haben Sie jüdische Vorfahren?" "Wieso fragen Sie?" "Es wäre sonst etwas geschmacklos, Sie darum zu bitten". Ich schwieg. Ich hatte die Massenvernichtung in den Gaskammern vor Jahren ausführlich studiert und fühlte mich in jene Zeit zurückversetzt. "Machen Sie den Job?" Ich wusste keine Antwort. "Fangen Sie mir 1000 Neger oder nicht?" Mein Gesicht fühlte sich nass an, aber es war nur Wasser von der Decke. Ein junger Araber sah mich an und erdolchte Huysegems von Hinten mit den Worten: "Stirb, du Hitler!" Ich sah mich um - ein alter Mann in russischer Uniform schaute den Jungen wohlwollend an und entließ ihn aus dem Haus. "Wir sind Geschäftsleute, keine Monster", klopfte er mir auf die Schulter. "Monsieur Huysegems ist gefeuert, wir tun es auf Ihre Art, effizient und menschenwürdig". Ich trocknete mein Gesicht mit einem frisch gebügelten Kleinmädchennachthemd ab - die eine oder andere Glücksträne war durchaus da.

11. Ich hatte nie Sex: ich brauche alle Unschuld die ich kriegen kann, um all die Schuld auf mich laden zu können. Ich habe mich aber mit Schuld nicht geradezu überfressen. "Tötet die Kinder mit aller Zärtlichkeit, die beim Töten möglich ist. Mit den Monstern macht was ihr wollt", verfügte ich über Huysegems´ Nachlass. Der alte Russe begleitete mich zum Flughafen. Auf den Weg dorthin erklärte ich meinen Plan mit den Neutronenbomben und dem religiösen Fest. Die Kunden waren zufrieden. Einer hatte noch eine Bitte: "Kommen Sie mit nach New York". Ich hatte nichts Besseres zu tun.

 Eine alte Dame empfing mich in einer Lagerhalle in Long Island. "Geht es um diese Waffen hier? Was ist meine Aufgabe?". Die Dame erwiderte sogleich: "Vergessen Sie die Waffen. Es geht um die grausamste Sache der Welt". Die Liebe? Ich hatte nie damit zu tun, zumindest nicht als Objekt. "Was wird aus den Waffen?" "Ein Krieg im Tschad", war sie direkt. "Im Tschad ist kein Krieg", bemerkte ich. "Noch nicht". Sie brachte mich zu ihrem Sohn nach Manhattan, der mir sofort zu wissen gab: "Meine Mutter kann über diese Dinge nicht reden, sie fängt immer gleich an zu weinen". "Ein Blick auf Ground Zero", stellte ich fest. "Seit 9/11 faszinieren mich Wolkenkratzer. Davor nie was dafür übrig gehabt, nun wohne ich ungefähr in der Höhe, in der die Flugzeuge einschlugen". Ich schwieg anstatt mich zu wundern - ich kannte richtige Fetischisten, mit solchen Vorlieben konnte er mich nicht beeindrucken. "Es geht um diese Frau", zeigte er mir ein Foto. "Sie ist ein bezauberndes Wesen. Nie wurde ihr nur ein Haar gekrümmt, und dennoch machte sie das Härteste mit, was man sich vorstellen kann. In einem Alter von 7 bis 14 war sie als das sogenannte zärtlichste Kätzchen der Welt in gewissen Kriesen bekannt, befriedigte Kunden mit einer durch andressierte Höllenangst unnachahmlichen Hingabe, wofür ihre Mutter sechsstellige Summen kassierte. Dann schloss sie die Schule mit der Bestnote ab, ebenso das Jurastudium. Eine gute Anwältin. Sie verführt Väter, ihre Töchter zu missbrauchen". "Rache an der Welt. Bekanntes Motiv. Und Ihre Mutter?" "Ich glaube, sie ist in diese Mieze verknallt. Nein, für sie geht es nicht um Rache. Es ist Eifersucht". "Sieht wie ein Engel aus", schaute ich nochmals auf das Foto. "Dieser Engel hat meine Mutter zusehen lassen". "Wobei?" "Blowjob. Der Mann war dick. Meine Mutter ekelt sich vor Dicken. Das hat ihr das Herz gebrochen". "Und was erwartet sie von mir? Eine ausgeklügelte Foltermethode?" "In der Tat", lachte er.

 Kurz vor dem Eintreffen der jungen Frau ließ er die Bombe platzen: "Sie ist in Sie verknallt". Er zeigte mir ein Foto, auf dem ich gerade ein Massaker organisierte. "Das Foto hat sie nicht mehr losgelassen. Sie wollte wissen, wer das ist". Sie kam herein. Eine zerbrechliche Kreatur, zierlich, hauchdünn, zart. Da sie schneeweiß war, war sofort zu sehen, wie sie rot wurde, als sie mich sah. "Cliff Ceachelle", stellte ich mich vor. "Celine", nannte sie ihren Nachnamen nicht. Ein Anruf. "Der Doktor", murmelte Kibort. "Tot? Ermordet?" "Zum Glück nicht", gähnte er, "aber er hat eine Bombe gezündet, in Lagos, wie es aussieht. Ich brauche Namen, wir haben uns auf Islamisten geeinigt". "Doku Babaev, Ahmed Rahman, Dieter Hirn. Ich habe sie für die Anschläge von Frankfurt und Sankt Petersburg beliefert". "Lagos", lachte Kibort, "der Doktor und sein Elend, die Welt vom Elend erlösen zu wollen". "Millionen Ärmster müssen nicht mehr leiden. Denkt er". "Und wenn sie gern leiden? In den ärmsten Ländern leben angeblich die glücklichsten Menschen. Gute Nacht, mein Freund".

12. "Wovor hast du Angst?" fragte mich Celine auf dem Dach eines Wolkenkratzers. "Es gibt unangenehme und ekelhafte Dinge, aber Angst..." "Ich habe Angst, nicht jung genug zu sterben". "Wieso?" "Sieh mich an. Darum". Ihre Schönheit. Sie war zu ihr verdammt. Sie war der Sinn ihres Lebens. "Du könntest springen, zum Beispiel jetzt", wurde ich so richtig romantisch. "Ich bin 26. Zehn Jahre sind noch drin", erwiderte sie ruhig und sachlich. Im Aufzug nach Unten fragte sie: "Was hast du morgen vor?" "Nichts Weltbewegendes, ein kleines Massaker in New Hampshire. Es soll nach einem jugendlichen Amokläufer aussehen". "Ist das nicht streng geheim?" "So geheim wie das zärtlichste Kätzchen der Welt". Ich bemerkte erst nach einer langen Schweigepause, dass sie leise weinte. "Wer hat es dir erzählt?" "Ich bin wie ein Priester, man beichtet mir alles. Ich bin der schwule Freund der Hure Menschheit".

 Alles lief wieder mal nach Plan. Der 16-jährige Jeffrey Linus erschoss zwölf Lehrer, zehn Schüler und sich selbst, so der mediale Hauptstrom. 23 Tote, also waren es die Illuminaten, bloggten viele. Der Mörder saß in einer Imbissbude mit einem Blick auf den Mt.Washington und trank Kaffee. Es klingelte. Da seine Herrlichkeit zugleich meine Wenigkeit war, ging ich ans Telefon. "Haben Sie sie schon fallen lassen? Halten Sie die Schlampe hin, machen Sie Versprechungen, ficken Sie sie! Lassen Sie sie Ihren Arsch, Ihre Füße, Ihre Schuhe lecken, sie soll das Klo nach Ihnen mit ihrer Zunge putzen! Sie ist verrückt nach Ihnen, zerstören Sie sie, Sie mieser Wichser!" schrie der Sohn der alten Dame in den Hörer. "Ich bin etwas müde, werde in einem lokalen Hotel übernachten. Morgen sehen wir weiter", vertröstete ich ihn.

 Am nächsten Tag fuhr ich nach New York, es war eine angenehme Fahrt. Ich war rattenscharf wie seit Jahren nicht, aber das lag nicht an Celine. Es war die Landschaft, die Luft, es waren die Erinnerungen. In Manhattan begrüßte mich der Butler meines Gastgebers. "Sind Sie schwul?" fragte er direkt. "Nein, aber mich interessiert der Grund dieser Vermutung". "Ich weiß nicht, wie man es sagt, ich bin kein Sprachgenie. Aber Sie wirken irgendwie steril, verstehen Sie? Sie sehen gut aus, männlich, und gefährlich auch, etwas düster, aber die Frauen fliegen nicht auf sie. Zeigt man Sie auf Video, sind Sie ein Traumtyp. Begegnet man Ihnen, will man Sie nicht ficken. Auch als Mann nicht". "Steril trifft es, denke ich". "Sie lassen sich viel entgehen". "Die einen ficken, die anderen töten. Wer ruhiger schläft, hat das Bessere gewählt". "Und wie schlafen Sie?" "Wie ein Kind".

 Celine kam hinein, der Butler ging. "15 Millionen Tote in einer Sekunde, das hat es noch nie gegeben", kommentierte sie die Atombombenexplosion von Lagos. "Komisch dass kein Sender mehr davon berichtet. Alle reden von diesem Jungen aus New Hampshire", lobte ich mich selbst. "Du bist ein herzloser Zyniker und ein Sadist. Bist du Single?" "Sicher". "Seit wann?" "Seit immer". "Heimlich in jemanden verliebt?" "Nur platonisch". "In wen?" "Du sagtest heimlich". "Sag es, oder ich erschieße mich", nahm sie meine alte Beretta. "Ich rufe den Butler und in zehn Minuten ist die Leiche weg. Die Pfütze auch. Ich habe im Leben mehr Blut gesehen als du Spe.. entschuldige...". Sie schwieg, sah mich sonach kindlich mit ihren großen Augen an: "Warum hast du dich entschuldigt?" "Ich mag dich". Gelogen war das nicht.

13. Ich war mit Celine auf dem Weg nach Kopenhagen, als Kibort anrief: "Den Haag. Du bist als Kriegsverbrecher aufgelistet. Pass auf dich auf". Ein Kopfgeldjäger entführte Ciechesky während wir flogen. Eine Weltschmerz-Selbstshow vor dem Tribunal war zu erwarten. In Kopenhagen angekommen, kam ein zweiter Anruf: "Wir machen es wie mit Milosevic. Hast du eine Nachricht für ihn?" "Versprich ihm, dass du die ganze Menschheit ausrottest, bevor er vergiftet wird". Es regnete. Celine zitterte, ich nahm einem großen Dänen seine Lederjacke ab und wickelte diesen dünnen zierlichen Körper ein. Leichen, Körper, das sah ich stets vor mir - lebende Körper sind und werden sein potentielle Leichen. Sie nahm meine Hand. Die langen dünnen Finger. Der Berührung nach war sie nicht älter als 15. Es regnete in respektablen Strömen. Als schütteten Millionen Tote das Wasser aus Eimern vom Himmel.

 In meiner geheimen Wohnung in Kopenhagen machten wir es uns bequem. Sie saß vorm Kamin, ich trank Whisky. "Was war das Fürchterlichste, was du je getan hast?" fragte sie mich. "Ich denke, das kommt erst noch". "Ich habe einem neunjährigen Mädchen gedroht, ihre Eltern umzubringen, falls sie nicht Folgendes tut: ein Kleinkind verstecken, seinen Vater auffordern, sie zu vernaschen, oder das Kind verhungert keiner weiß wo". "Hat sie es getan?" "Ja. Der Mann sitzt wegen Vergewaltigung ein - wer würde schon glauben, ein kleines Mädchen hätte ihn erpresst... Bist du für Todesstrafe für Vergewaltiger?" "Ist mir egal. Die einzig interessante Frage ist, wie viele Frauen dann die Vergewaltigung vortäuschen würden - mehr oder weniger als gegenwärtig". "Viel mehr", lächelte Celine. Ich kontrollierte die Fenster und die Eingangstür. "Was würdest du jetzt am Liebsten tun?" fragte sie. "Lesben holen und dich auspeitschen lassen", scherzte ich mit ernster Stimme. "Wann hörst du mit dem Töten auf?" "Sofort, wenn ich eine sinnvollere Tätigkeit finde, etwas, das im Angesicht des Todes nicht umsonst ist". "Töte mich", sah sie mich kindlich an. "Gern, aber nicht hier". "Warum nicht?" "Ich habe keinen Butler, um die Leiche zu beseitigen". "Leichen verschwinden zu lassen, ist ein Kinderspiel für dich... Ich bin nicht irgendjemand, du kennst mich persönlich. Bin ich diesen Aufwand nicht Wert?" Ich schwieg. Sie ging ins Schlafzimmer und schlief ein. Ich blieb im Saal auf dem Sofa sitzen. Warum verwest sie nicht nach all dem Dreck, das in sie hineingepumpt wurde? Sie blüht stattdessen. Sie sieht unschuldig und rein aus. Ihre dünnen Beine sind die schönsten der Welt, ihr langes blondes Haar entzückt bis zur Verzweiflung, ihre langen kirschroten Krallen sind so perfekt wie die der Frau der ich in einem Traum vor vielen Jahren in die Brust schoß und sie vom Hochhaus in ein Schlammloch stieß, wobei ich nicht ich war, sondern ein Profikiller aus der Neuauflage von La Piovra; die kindliche Nase der süßen Celine, ihr kleiner Mund, ihre sinnlichen Lippen, ihre niedlichen Zähnchen, als hätte Kibort selbst sie entworfen. Ich dachte wieder an den Traum: der dicke Ravanusa kam zur Tür, als ich, der Killer, den entstellten Terrasini betrachtete: sein linker Fuss war abgehackt und unten am Bein war ein Haken verschraubt; aus seinem Bauch quollen die Innereien hervor. Mein Todesschuss war nur noch Euthanasie.

14. Um fünf Uhr Nachmittags musste ich in Göteborg sein, ich verspätete mich nur um fünfzehn Minuten. "In diesen Ländern", war eine kurzhaarige schwedische Frau während ihrer Präsentation sehr aufgeregt, "würden die meisten Eltern niemals ein missgebildetes Kind abtreiben oder gar töten lassen. Hier könnten wir dem medizinisch-industriellen Komplex mit den radioaktiven Nahrungszusätzen zu elfstelligen Summen verhelfen. Doktor Li?" "Danke. Jetzt stelle ich Ihnen unser neues Präparat vor, das als geheimer Nahrungszusatz eine 60%-ige Wahrscheinlichkeit von Missbildungen bei Neugeborenen garantiert". Im Foyer machte sich ein junger Arzt aus Berlin über den Chinesen lustig: "Wie kann man eine Wahrscheinlichkeit garantieren?" "Anders Helveg", stellte ich mich vor, "ich arbeite für die dänische Regierung".

 Es war eine geruhsame Nacht. Ich dachte zwar an Ciechelsky, insbesondere daran, wie sehr er das heute gehörte Vorhaben verabscheuen würde, aber nicht jeder Mensch ist ein Gandhi, und auch Gandhi war nur ein Mensch. Früh am Morgen reiste ich ab. Im Sportkeller meiner Geheimwohnung in Kopenhagen erwartete mich ein wunderschönes nacktes kleines dänisches Mädchen, welches leider gefesselt und totgefoltert zwischen Decke und Boden hing. Celine schlief auf dem Sofa wie eine Katze, die unerlaubterweise einen Goldfisch gefressen hatte. Ich rief Kibort an, sagte ihm, er solle Persephone im Glauben aufwachsen lassen, die Welt außerhalb ihres Palastes und der dazugehörigen Ländereien gäbe es nicht, aber das hatte er längst vor. "Was ist los, Junge?" fragte er, und ich fing an zu weinen. "Als ich Student war, sagte mir ein Professor: Das Leben ist keine Mathematik", erzählte Kibort, "daraufhin schwor ich ihm, das Leben in Mathematik zu verwandeln. Ordnung und Perfektion - dafür lebe ich. Bleib bei mir und wir werden aus dieser Welt ein Reich der Vernunft machen".

 Im Fernseher wurde ein gewisser Anders Helveg gezeigt, der offenbar vom Interpol gesucht wurde. Kopenhagen war nicht mehr sicher. Ich packte meine Sachen und wollte zur Tür, sah aber die schlafende Celine und dachte, dass die Polizisten eine so schöne Frau bestimmt vergewaltigen würden, bevor sie sie festnehmen. Ich weckte Celine und hinterließ eine Bombe in der Wohnung. "Wo fahren wir hin?" "Nach München". Ich fragte sie nicht, sie sagte nichts. Wir schwiegen zwei Stunden. "Siehst du diesen Eber? Wiegt bestimmt alle 200. Das Ekelhafteste, was mir ästhetisch je widerfahren ist". Sie schwieg, ich auch. Nach einer halben Stunde flüsterte ich, ich hätte mich in sie verliebt. Es war mir gelungen, dies nicht gespielt aussehen zu lassen. Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück. Sie stand auf, streifte mit ihrer Hand absichtlich die Meinige, ging ins nächste Abteil. Ich hielt sie auf und sah sie ängstlich-verliebt an. "Lass mich los, oder ich werde Vergewaltigung rufen". "Was hast du vor?" "Ich werde diesen Eber da ausführlich küssen", lächelte sie kindlich. Ich ließ sie los: "Das war ein Scherz". "Was?" drehte sie sich um. "Dass ich verliebt in dich bin. Du widerst mich an. Ich habe einen Auftrag bekommen, dich zu vernichten. Der Tod, dachte meine Auftraggeberin, wäre zu gut für dich. Ich soll dich quälen, weil du endlich wieder fühlst. Zwölf Jahre lang hast du perfekt funktioniert und keine Gefühle zugelassen, aber nun ist es passiert". Sie setzte sich wieder auf ihren Platz zurück und war wie versteinert. "Ich könnte dich niemals töten", sprach ich gnadenlos weiter, "ich töte arme, erbärmliche, kranke Menschen, aber keinen Abschaum wie dich".

 München. Ich hatte die Schlüssel zu Ciechelskys Geheimwohnung. Ein überdimensionales Kruzifix hing im Saal. Celine zitterte, sprach kein Wort. Ich sah einen Hundekorb - hier lebte früher Ciechelskys Schäferhund. Ein Spielknochen war da, auch ein Fressnapf. "Willst du mein Hund sein?" fragte ich Celine. "Ja", sprach sie leise. Ich warf eine lange Kerze vom Tisch in die Ecke: "Hol das Stöckchen!" Celine kniete sich hin. Ich wiederholte den Befehl. Als sie kurz vorm Losrennen war, hielt ich sie auf und ohrfeigte sie. Und dann wieder, und abermals. Sie weinte und schrie und ich wiederholte mit ruhiger und sanfter Stimme: "Du bist ein Mensch". Ich ließ ihr ein Bad einlaufen und kochte Ciechelskys unnachahmlichen Tee für sie. Als sie schlief, bekam ich Hunger, fand aber keine Teller im Küchenschrank. Ich nahm den Fressnapf und schüttete Maisflocken da rein, welche ich gierig aß, während im Fernsehen vom Beginn eines Krieges zwischen Tschad und Sudan berichtet wurde.

15. In der Nacht rief ich Kriegsverbrecher an, die mir noch Geld schuldeten. Ich erließ ihnen die Schulden für einige Informationen. "Wir fahren in die Schweiz", weckte ich Celine. "Hast du noch alte Fotos von dir?" fragte ich sie während der Fahrt. "Meine Mutter hat nur Kinderpornos von mir aufgehoben. Ich sollte sie verkaufen, falls ich Geld brauchte". Zürich. In einem Fotostudio ließ ich aus einem perversen Filmchen ein anständiges Mädchenfoto extrahieren. Als wir uns zur Tür umdrehten, musste ich den freundlichen Schweizer erschießen, denn er wollte die Polizei anrufen. Ich kann auf Befindlichkeiten kleiner Leute in meinem Beruf keine Rücksicht nehmen, erst recht nicht in meiner Freizeit.

 Bern. Ein unscheinbares Haus am Stadtrand. Ein sehr höflicher großer Spanier machte auf. "Kennen Sie dieses Mädchen?" zeigte ich ihm das Foto. Er bat uns hinein. "Von welchem Geheimdienst sind Sie? Wer ist diese Frau?" "Keine Angst, wir sind nur Privatpersonen". Eine hübsche Frau kam in den Saal, sonach drei Kinder im Alter von 10 bis 15. "Wieviel haben Sie bezahlt?" fragte ich den Mann. "Insgesamt etwas mehr als eine Million Franken". "In diesem Koffer sind zwei Millionen Franken. Nehmen Sie das Geld". Er starrte mich an, sah flüchtig Celine an, schaute verängstigt auf das Foto: "Was wollen Sie?" "Wir geben Ihnen Ihr Geld zurück und Sie machen rückgängig, was Sie getan haben". Er wollte zur Tür, ich schoss ihm in die Beine. Celine nahm die Beretta, ich fesselte die ganze Familie an Stühle und schob den Kinderporno in den DVD-Player. Auf einem großen Flachbildschirm war einiges zu sehen. "Ich bin das nicht, das sehen Sie doch", flehte der Mann. "Der Film ist nur repräsentativ. Aber was soll ich nun mit Ihnen machen? Nehmen wir an, sie ist meine Schwester". Der Junge rief: "Töte ihn und lass uns frei!" Die Frau erwies sich wahrhaft als sozialer Kitt: "Töten Sie bitte die Mädchen nicht. Machen Sie mit ihnen was Sie wollen, aber bitte töten Sie sie nicht". Dies brachte mich nicht aus der Fassung, denn ich war charakterlich Widerlicheres gewohnt. "Schauen Sie Ihre Töchter doch an - ist das Ihr ernst? Ja, sie sind hübsch, aber die Kleine in Film ist so richtig wunderschön, wie es das nur einmal gibt. Was machen wir jetzt?"

 Für lange Folterungen hatte ich keine Zeit: es gab noch vier Familien allein in der Schweiz. Nach demselben Muster - erst in größtmögliche Furcht versetzen, dann barmherzig erschießen - löschte ich diese aus. Celine stand an meine Seite, eine stille Maus, sagte nichts, schloss nur manchmal die Augen und griff mich fester am Arm. Der erste Kunde, der vor 19 Jahren die Ehre hatte, erwartete mich den Kokaindealer vor dem Holocaust-Mahnmal in Berlin. "Bringen wir unsere Familien mit, damit wir einander vertrauen können", schlug ich am Telefon vor, "es geht schließlich um viel Koks und Kohle". Er kam mit seiner Frau und seinen vier Söhnen, ich mit Celine. "Gehen wir zu Ihnen oder in ein Café", wollte ich ihn vom Ort der Erinnerung weglocken, aber er begriff schnell und fragte: "Müssen denn die Kinder für die Verbrechen ihrer Eltern haften?" "Wenn es nach reinem Sollen ginge, natürlich nicht, aber die Welt ist kein Kindergeburtstag", wurde ich moralphilosophisch. Sie rannten in alle Richtungen, ich traf sie alle. Ich lehnte mich an eine Stele und bedauerte den Ort des Geschehens, als ich sah, wie zwei Jugendliche hinten die Stelen anpissten. Jemand sprühte ein Hakenkreuz. Die Polizei war an diesem Ort seit Langem unterbesetzt. Anstand, Kultur, Zivilisation sind wie ein Balztanz, der nur einen Sinn macht, wenn alle zusehen. Ich ging mit Celine durch dieses bedrückende Labyrinth und erschoss die Jugendlichen. Unbehelligt gingen wir zum Reichstag, welcher brannte. Ein Amoklauf mit Brandbomben oder aber ein Auftragsterrorist von meiner Sorte.

 Ich kaufte im ersten Autohaus das wir sahen den besten Geländewagen den es gab. Celine fuhr, ich erholte mich hinten. Sie hielt in Wolfsburg an, weckte mich. Im Hotel setzte sie sich auf mein Bett: "Zieh dich nicht aus, ich schlafe bei dir". Ich vertrieb sie nicht. "Mach das Licht aus", flüsterte sie. Sie hatte offenbar Angst, den Weg vom Lichtschalter zum Bett in der Finsternis zu beschreiten.

16. Am Morgen rief Kibort an: "Die Welt ist in Aufruhr, wir brauchen Leute wie dich nicht mehr. Deine Aufgabe wird nun von den aufgebrachten Völkern vollautomatisch erledigt. Du bist arbeitslos, Junge. Such dir einen Job". Kam das plötzlich? Durchaus. Gelegen? Ich weiß nicht. Eine Pause würde mir gut tun, aber noch mehr eine Professur an einer australischen Universität, die sich seit Jahren um mich bemühte. Ich flog mit Celine nach Sydney und war am übernächsten Tag Professor. Ein überaus harter Job, den ich zuerst unterschätzt hatte. Ich kaufte mir ein Penthouse in der City, Celine wohnte bei mir und ging nie aus dem Haus. Etwas beschäftigte sie, sie hatte Angst, sich den Australiern zu zeigen. Als ich eine Woche später beim Fernsehen einschlief, erschien sie mir im Fernseher, aber das war bestimmt geträumt. Sie ließ sich wie eine Sechsjährige behandeln, ich verwöhnte sie wie ein kleines Kind. Es war logisch, dass sie sich psychisch in die Zeit vor ihrem 7-ten Geburtstag zurückversetzen wollte, der wohl kein Kindergeburtstag war.

 Ich hielt den Gasthörer zunächst für meinen Söldner Demba, aber er war älter. "Ich bin Luc", stellte er sich mir vor, "kommen Sie mit". Ich schritt ruhig zu meinem Sterbeplatz, war unbewaffnet und auf den Auftragskiller nicht vorbereitet. Er führte mich tief in den Wald, zog seine Waffe mit Schalldämpfer und richtete sie auf meinen Kopf. "Wer hat Sie bezahlt und wieviel?" war mein letzter Wunsch informativer Natur. "Der Sohn einer Frau, die Sie betrogen haben". "Ich werde Celine nichts tun, die Frau bekommt ihr Geld zurück". "Wer ist Celine?" "Das wissen Sie doch". Luc drückte die Knarre an meine Stirn: "Die australische Schauspielerin, die Sie für Kiborts Gegenspieler seit geraumer Zeit ausspioniert, ist nicht das Mädchen, für das Sie sie halten. Das legendäre Mädchen wurde mit 14 Jahren an einen Endkunden verkauft, der sie 28 Tage bestialisch zu Tode quälte..." Woher wissen Sie das?" "Ich war es", gab er mir seine Waffe, "und ich habe nur eine Bitte: töten Sie mich!" "Warum ich?" "Weil Sie rein sind. Das wäre meine Absolution". Er ging auf die Knie. "Wenn das wahr ist, kann ich Ihnen nicht vergeben. Das ist ein zu großes Verbrechen, als dass ich es vergeben könnte". "Bitte, töten Sie mich", wiederholte er bis ich ihm in den Kopf schoss.

 Ich hielt meine Vorlesung, ging nach Hause, duschte, legte mich in einen tiefergelegten Sessel. "Wer bist du?" fragte ich Celine. Sie zitterte. "Du bist nicht das Mädchen in den Filmen". Sie senkte den Kopf: "Bist du enttäuscht?" "Für wen arbeitest du?" "Ich arbeite nicht. Ich habe noch nie gearbeitet". "Was machst du dann hier? Was willst du?" zog ich Lucs Knarre. Sie lächelte sanft und setzte sich auf meinen Schoss: "Du bist der skrupelloseste Killer den es gibt, und darum der beste Beschützer für mich". "Hast du nicht gesehen, weshalb ich all diese Leute getötet habe?" "Du hast nie an der Geschichte gezweifelt, weil es dir gefiel, den Rächer zu spielen". "Das ist nicht wahr. Bist du psychisch irgendwie nicht normal?" "Ich bin unberührt und wurde mein Leben lang verwöhnt. All die Zeit hatte ich nur einen Traum: den Menschen zu finden, der das pure Böse ist, ein Sadist, der aus Lust tötet, der so schuldig ist, dass er unschuldig ist". "Ich bin nicht das perfekte Böse, das du dir erträumt hast". "Meine Mutter, die Waffenhändlerin, die du bestimmt kennst, hat die besten Psychologen nach dir suchen lassen. Es gab keinen Zweifel, dass du der Tyrann der neuen Welt sein musst". "Ich bin ein kleiner Killer, ein Eventmanager, weiter nichts". "Du bist jung, deine Zeit kommt noch". "Kiborts Zeit kommt, nicht meine". "Dieser Vatermord wird dein letzter Schritt zur Weltherrschaft sein", legte sie sich zu mir, auf mich, in den Sessel. "Lass uns etwas trinken", vergiftete ich sie. Eine Leiche verschwinden zu lassen, war ein Kinderspiel für mich.

 Am Freitagabend saß ich allein in meinem Penthouse und fühlte mich so einsam wie nie - oder eben wie immer. Die Worte des Butlers drehten sich in meinem Kopf wie der Mond um die Erde. Bin ich das pure Böse? Nein, das bin ich nicht. Ein guter Mensch? Ich? Nein, dieser Zug ist längst abgefahren, womöglich als ich mich mit 16 Jahren im letzten Moment dagegen entschied, von einer Brücke in den Tod zu springen. Was bin ich? Steril - was heißt das? Vielleicht bin ich dein Super Mario und du hast gerade den Joystick in der Hand und meine Welt ist dein Spiel. Ich lachte so laut, dass mir die Ohren schmerzten, trank etwas Wasser und setzte mich an den Schreibtisch, um die Vorlesung für den kommenden Montag vorzubereiten.  



2011